Der Wassermund

Es war schöner Tag im Spätherbst und ich wurde schon früh am Vormittag vom fast leeren Bus an einer Haltestelle hinter St. Märgen in die sonnige Hochfläche entlassen. Weit ging der Blick über das Dreisambecken bis zum Feldberg, der mit seinen Türmen die Berg- und Tallandschaft überwölbte. Direkt vor mir schlängelte sich ein Feldweg zu einem großen Bauernhof, umstanden von Bäumen mit Herbstlaub. Rechts am Weg eine Umspannstation, von der nach allen Seiten Leitungen zu den Höfen abzweigten. Darunter in Folie gewickelte Heuballen. Ich benötigte mindestens eine halbe Stunde, um alles zu fotografieren.

Aber wollte ich nicht in die andere Richtung, ins Hexenloch? Ich überquerte also die Strasse und betrat das kurze Steinbachtal, das in einer Mulde auf der Nordseite des Bergsattels liegt. Eine Wiesenlandschaft mit Bauernhöfen, von allen Seiten von Wald begrenzt. Der Steinbach, der sich durch diese Idylle schlängelt, verschwindet am tiefsten Punkt des Tals im Wald und stürzt sich dort in das Hexenloch, einem schluchtähnlichen Tal tief unter der St. Märgener Hochfläche. Ich wollte  das Tal durchqueren, um auf die andere Seite zu gelangen, als mir ein bellender Hund den Weg versperrte. Da ich nahe an einem Hof vorbei musste, konnte ich ihn nicht ignorieren. Aber zwei Männer, die auf dem Hof Holz sägten, sahen mich kommen und pfiffen den Hund zurück. So kam ich doch noch ohne Umstände auf den Weg, der am gegen über liegenden Waldrand nach unten ans Talende führte. Überall wurde gearbeitet - im Herbst heißt das vor allem Holz machen für den Winter, reparieren und Bauarbeiten zu Ende bringen.

Am Talende bog der Weg nach rechts ab in den Wald und führte stetig abwärts. Der Steinbach wurde zum Wildbach und rauschte und gurgelte in einem tiefen Einschnitt der Wilden Gutach entgegen. Der Wald wurde düster und bestand aus einem Gewirr von zersausten, dünnen Fichten, die an den steilen Nordhängen des Hexenlochs um das wenige Sonnenlicht kämpften. Es ging hinunter und hinunter, aber der Bach entfernte sich immer weiter vom Wanderweg. Dieser bog zudem noch nach Osten ab, sodass ich befürchtete, nach ein paar Kilometern irgendwo in einer Sackgasse zu landen, die eifrige Waldarbeiter nicht für Wanderer, sondern für schwere Traktoren zur Holzabfuhr angelegt hatten. Unter mir entdeckte ich einen weiteren Weg, der parallel zum Bach in die Tiefe führte. Ich nahm das Stativ als Stockersatz und tastete mich den steilen Hang hinunter. Nur ja nicht stürzen oder mich verletzen, da das Handy hier keinen Kontakt zur Außenwelt mehr hatte.

Kaum unten angekommen, ertönte eine glucksende und etwas undeutliche Stimme: "Was hast du hier zu tun?". "Nichts", entgegnete ich, "ich wandere nur durch das Tal". Ich schaute mich um, aber es war niemand zu sehen. Am gegenüberliegenden Hang entdeckte ich eine Quelle, die aus Wasser geformt war wie ein Mund und aus der blaues Wasser floss. "Hier kommen auch Menschen vorbei, die etwas holen oder zerstören wollen", sprach die Quelle. Wie zur Bestätigung nickten die daneben stehenden Fichten und Geröll stürzte den Hang hinunter. "Früher gab es einen schönen Mischwald mit Tannen, Fichten, Bergahorn und Buchen. Darunter wuchsen verschiedene Pflanzen und es lebten viele Tiere darin. Dann wurde alles abgeholzt und junge Fichten gepflanzt, die so dicht stehen, dass nur ein brauner, toter Boden übrig blieb." Der Wassermund kräuselte sich wie unter Schmerzen und das Wasser bekam eine rote Färbung. Ich sah mich um - außer einem alten, verwachsenen Bergahorn und ein paar Farne am Bach gab es tatsächlich nur diesen tristen Fichtenwald.

"Ich bedaure das auch", antwortete ich, "aber ich kann auch nichts dagegen machen". Der Wassermund klagte weiter: "Seit einigen Jahren ist das Wasser des Steinbachs im Frühling und Sommer so güllehaltig, dass die Wasserlebewesen sterben. Außerdem werden die Sommer immer heißer und trockener, so dass kaum noch Wasser fließt". Der Mund verzog sich bei dieser Ekel erregenden Vorstellung und spuckte zuerst braunes Wasser aus, dann nur noch Erde und kleine Steine. Der Mund war fast verschwunden. Dazu sausten  ein paar größere Felsbrocken dicht neben mir vorbei. Mir wurde angst und bange. "Aber wenn dir so viel an uns liegt, kannst du ja mit den Bauern sprechen, damit diese wie früher nur soviel Gülle auf die Felder bringen, wie diese auch verkraften können". Ich wusste, dass es keine böse Absicht war, sondern dass wirtschaftlichen Zwänge zu einer Vergrößerung des Viehbestandes und zu einer anderen Waldbewirtschaftung führten. Und dass der Verbraucher, die EU und die Globalisierung das Leben auch in einem idyllischen Schwarzwaldtal bestimmen. "Aber meine Einflussmöglichkeiten sind sehr begrenzt" antwortete ich. "Dann nimm von dem blauen Wasser, es wird dir Macht und Einfluss verschaffen." Der Wassermund ließ dunkelblaues Wasser austreten. Ich hatte meine Wasserflasche gerade geleert und füllte diese mit dem blauen Wasser. "Wenn du davon trinkst, wirst du die Kraft aus dem Berg spüren. Deshalb gehe sparsam damit um." Ich nahm einen Schluck davon und spürte plötzlich kein Schmerzen mehr im rechten Knie. Der Abstieg durch den Wald war mir nicht gut bekommen. Die Fichten winkten zum Abschied und der Wassermund lächelte zum ersten Mal. Nun ging ich leichten Schrittes dem Bach entlang den steilen Weg hinunter.

Nach einer halben Stunde war ich unten im Hexenloch und sehr erleichtert. Denn dieses ist nur im hinteren Teil dunkel und wild, im vorderen Teil noch eine schmale Talaue mit Wiesen, die aber schon von steilen Bergflanken begrenzt wird. Die Wilde Gutach ist von Pappeln gesäumt, die jetzt ein freundliches gelbes Herbstlaub trugen, das in der Sonne flimmerte.
Nach einem weiteren Schluck aus der Flasche mit dem jetzt hellblauen Wasser stellte ich das Stativ auf und machte noch ein paar Aufnahmen von den Bäumen. Erst als ich den Fotoapparat wieder einpacken wollte, fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit von Schafen beobachtet wurde, die am Rand einer steilen Böschung standen. Diese glotzten so überheblich von oben herab, dass ich noch ein paar Bilder machen musste.

Nun spürte ich aber doch meine Beine, auch das rechte Knie schmerzte wieder. Ich schaffte es noch bis nach Wildgutach und war froh, in einen komfortablen und klimatisierten Bus der SBG einsteigen zu können. Dieser brachte mich durch das Simonswäldertal nach Waldkirch.
Im Bus trank ich trotz der Warnung, sparsam zu sein, nochmals ein paar Schluck aus der Flasche, aber das Wasser hat keine blaue Färbung mehr. Das Steinbachtal und der Wassermund waren schon weit weg. Und mir schien es jetzt völlig abwegig, irgendwelchen Bauern Vorschriften über die Bewirtschaftung ihrer Flächen machen zu wollen. Ich hatte zwar gute Argumente, aber keine Kraft mehr.

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