Baltikum, Herbst 2001

111. September 2001 in Nida (Nidden)

Im Herbst 2001 machen wir uns wieder auf ins Baltikum. Mit einer sogenannten RoPax-Fähre (transportiert sowohl Frachtgut als auch Passagiere) der deutsch-dänischen Lisco fahren wir von Kiel nach Klaipėda. Auf der „MV Vilnius“ von 1987 geht es moderner und komfortabler zu als bei unserer letzten Baltikumüberfahrt, aber wir kommen verspätet in Klaipėda an und erreichen nur noch mit Mühen unsere Autovermietung. Wir schaffen es gerade noch auf die kleine Fähre auf die Kurische Nehrung, denn wir wollen noch zu unserem Quartier in Nida. Das ist ein nettes Gästehaus im landestypischen Stil mit mehreren Ferienwohnungen, hier bleiben wir eine Woche und erkunden zu Fuß und mit dem Auto die Umgebung.

Die Kurische Nehrung, ein schmaler Streifen Land, umspült von der Ostsee und dem Kurischen Haff, geprägt von Dünen und Kiefernwäldern, erstreckt sich auf etwa einhundert km von der Westküste Litauens bis ins Königsberger Gebiet. Vor mehr als fünftausend Jahren formten Wellen und Winde die eigenartige und faszinierende Landschaft der Kurischen Nehrung. Im Laufe der Jahrhunderte bildete sich zunächst ein kahler Sandstreifen, der allmählich die Lagune vom Meer trennte. Der Sand wanderte nach Osten und lagerte sich in der Lagune ab, wodurch die Kurische Nehrung entstand.

Nida hat sich seit unserem letzten Besuch weiter herausgemacht, es gibt immer mehr Unterkünfte, aber es geht auch weiterhin sehr gemütlich zu. Der Ort besticht einfach durch seine wundervolle Lage direkt am Haff, die bunten Holzhäuser und die Umgebung. Nida war ganz früher ein verträumtes Fischerdörfchen – bis es von Künstlern wie Max Pechstein, Lovis Corinth und Ernst Ludwig Kirchner entdeckt wurde. Berühmt ist auch das Thomas-Mann-Haus, heute Museum. 1930 bis 1932 verbrachte er hier mit seiner Familie die Sommerzeit. Nach dem Anschluss des Memellandes an das Deutsche Reich 1939 fiel das ehemalige Sommerhaus von Thomas Mann Reichsjägermeister Hermann Göring in die Hände. Zum Kriegsende von einer Granate getroffen, befand sich das Haus lange in erbärmlichem Zustand, bis es in den 1960er-Jahren restauriert, Mitte der 1990er-Jahre originalgetreu wiederhergestellt und in ein Museum mit Kulturzentrum umgewandelt wurde.

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Wir machen lange Wanderungen am Haff, in den Wäldern oder zur Großen Düne. Baden kann man auch noch in der Ostsee, es ist uns aber zu kalt. Die imposanten Dünen sind schlichtweg fantastisch. Wir klettern oft rauf und haben das Gefühl, wir könnten uns von oben wie ein Vogel mit ausgestreckten Flügeln hinabgleiten lassen: Ein endloses Sandmeer, auf dem der Wind feine Wellenmuster hinterlässt.

In vielen Gärten der Einwohner stehen auf Stangen sogenannte Kurenwimpel in unterschiedlichen Größen. Früher dienten sie zur Identifizierung der Fischer sowie ihrer Herkunft und waren auf dem Topp der Kurenkähne befestigt. In der Umgebung sind die Orte Preila und Pervalka noch sehr verträumt und vom Tourismus nicht erfasst. Die ursprüngliche Bauweise ihrer Holzhäuser mit Reet- oder roten Ziegeldächern ist erhalten geblieben.

Preila mit nur zweihundert Einwohnern liegt in einer Bucht hinter bewachsenen Dünen. Mitte des 19. Jahrhunderts haben Einwohner mehrerer vom Wind und Sand verwehter Ortschaften Preila gegründet. Etwas nördlich befindet sich die große Karvaiciai-Düne, unter deren Sand ein ehemaliges Dorf beerdigt ist.

Pervalka ist die kleinste Ortschaft von Neringa, ebenfalls mit großen Dünen. Hier wohnen ständig etwa vierzig Menschen. Wie Preila wurde diese Ortschaft von den Einwohnern anderer verwehter Dörfer gegründet. Bei Juodkrantė schauen wir uns den Hexenberg an, den wir vom ersten Besuch kennen. Hier haben zwischen 1979 bis 1981 Volkskünstler Litauens Dutzende Skulpturen aus Eiche erschaffen. Das Thema des Rundwegs sind Helden und Charakter litauischer Märchen und Sagen, vor allem Hexen und Teufel.

An einem Tag wollen wir uns an die russische Grenze heranpirschen. Den Übergang an der Straße kennen wir ja, aber wie sieht es von dort bis runter zum Haff und zum Strand aus? Wir stapfen durch den Wald los, kommen aber nicht weit: Wie aus dem Boden gewachsen oder vom Himmel gefallen steht plötzlich ein riesiger, uniformierter Grenzer vor uns. Er ist in einen weiten Umhang gehüllt und trägt das litauische Wappen. Er sagt nur: „Stopp!“ und versteht allenfalls das Wort „Tourist“, aber das reicht, hier geht es für uns nicht weiter.

Da geht plötzlich mein Diensthandy los, es ist der 11. September 2001, früher Nachmittag. Bernd aus dem Innenministerium ist dran: Wir sollen den nächsten Fernseher einschalten, ein Flugzeug ist in das World Trade Center in New York gestürzt. Zurück im Ferienhaus sehen wir auf CNN die schockierende Katastrophe. Das gibt Krieg, ist uns klar. Als direkte Folge für uns auf unserer Halbinsel, so vermuten wir, wird das Benzin knapp bzw. teurer. Deshalb tanken wir erst mal nach. Im Ort Nida haben die Einwohner überall litauische und amerikanische Fahnen rausgehängt...

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Memelland – Kaunas – Riga

Von Klaipėda aus führt eine einsame, schnelle Straße zum Memeldelta. Wir haben in einem der ersten Hotels, die es inzwischen gibt, dem Landgasthof „Ventė“ im gleichnamigen Ort (früher Windenburg) vorgebucht. Davon weiß man dort zwar nichts, aber es ist sowieso nichts los, Zimmer sind genug vorhanden.

Hier auf der Landzunge Windenburger Eck gibt es eine interessante Vogelwarte und einen Leuchtturm.

Am nächsten Tag geht es weiter durch diese ruhige Landschaft mit Holzhäusern, Pferden vor dem Pflug, einsam weidenden Kühen, Bachläufen mit blühenden Ufern sowie stillen Seen mit klarem Wasser. In der Heide- und Moorlandschaft des Memeldeltas besuchen wir das auf der Halbinsel Ruß zwischen zwei Deltaarmen gelegene Dorf Minge, das „Venedig der Delta-Dörfer“. Kurios, weil die Häuser auf beiden Seiten des Flusses stehen, über den es keine Brücke gibt. Hier geht alles per Boot – die Kinder zur Schule, der Arzt zum Kranken etc.

Das Memelland hat allein im 20. Jahrhundert eine bewegte Geschichte erlebt: 1919 aufgrund des Versailler Vertrages von Deutschland abgetrennt und von Frankreich verwaltet. Litauische Truppen und Aufständische besetzen 1923 das Gebiet, das Memelland wird Teil Litauens.

1939 muss Litauen das Gebiet an Nazideutschland abtreten. 1944 marschierte die Rote Armee ins Memelland ein. Es wurde der litauischen Sowjetrepublik angegliedert. Alteingesessene Memelländer (frühere preußische Litauer) und (zurückgekehrte) Deutsche gibt es bald nur noch wenige.

Unsere Fahrt geht über Šilutė (Heydekrug) bzw. Tilsit, wo wir es bis zum Grenzübergang nach Russland bei der Königin-Luise-Brücke schaffen, und entlang der Memel weiter Richtung Kaunas. Eine gut ausgebaute Nationalstraße durchquert romantische Dörfer und blühende Wiesen mit wunderschönen Ausblicken auf den Fluss. Eine Sehenswürdigkeit am Weg ist das Schloss in Raudonė aus dem 16. Jh. Dieses Schloss ist sehr gut erhalten und aus roten Ziegeln erbaut. Durch Alleen führt der Weg weiter. Überall sieht man Störche, freilaufende Hühner und angepflockte Kühe, die noch von Hand gemolken werden. Wenn man von der Hauptstraße abbiegt, landet man sogleich auf Schotterpisten.

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In Kaunas bleiben wir diesmal über Nacht im schicken Hotel „Santakos“. Es liegt in einem Haus von 1895, einem früheren Weinlager. Das während der Sowjetzeit düstere und vernachlässigte Gebäude ist seit 1995 ein elegantes Hotel. Es liegt ganz nah bei der Laisvės alėja – der Freiheitsallee –, die über 1.600 Meter lang ist. Wir schlendern also durch die Innenstadt und schauen uns die Ruinen der alten Festung, die turmlose Georgenkirche und das alte barocke Rathaus an, das auch wegen seines hohen Turmes „Weißer Schwan“ genannt wird. In der Nähe steht auch die Kathedrale. Man kommt an Theatern, Museen und vielen Baudenkmälern entlang.

Auch in Riga, dem nächsten Stopp, haben wir ein besonders hübsches Hotel, das „Konvento Seta“. Der Konventhof im Zentrum der 800-jährigen Hansestadt ist eine kleine Stadt in der Stadt. Die Anfänge des Konventhofes liegen im 13. Jahrhundert, als der Schwertbrüderorden hier das Ordensschloss errichtete, welches 1297 durch Rigaer niedergerissen wurde. Als der Orden 1330 eine neue Residenz zu bauen begann, übernahm der Konvent des Heiligen Geistes das ehemalige Ordensschloss und richtete hier ein Obdach ein. So ist Bezeichnung Konventhof entstanden.

Seit 1554 waren im Konventhof nur Unterkünfte, Wohnhäuser und Speicher. In nachfolgenden Jahrhunderten wurde der Konventhof niedergebrannt und dann mehrmals umgebaut. Anfang des 18. Jahrhunderts wurden die Umrisse des heutigen Konventhofes sichtbar. Seit 1996 ist der Konventhof Hotel, ein Ensemble aus neun mittelalterlichen Gebäuden. Einige dieser Gebäude haben uralte Namen, andere sind neu benannt worden – z. B. Schwarze Taube, Bunte Taube, Schmiede sowie Haus der Grauen Schwestern.

Weniger einladend ist das Museum der Okkupation: ein schwarzer, gruseliger, fensterloser Klotz aus Beton im früheren Museum für die Lettischen Schützen mitten in der Altstadt. Das 1993 gegründete Museum dokumentiert den Terror des nationalsozialistischen sowie des kommunistischen Regimes gegen die Bevölkerung und den Widerstand gegen die Besatzung bis hin zur staatlichen Unabhängigkeit 1991.

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Das kleine Lettland hatte im vergangenen Jahrhundert in kurzer Zeit gleich drei brutale Besatzungen zu erleiden. Zuerst, als Ergebnis des Hitler-Stalin-Pakts, kamen die Russen. Sofort gab es Massenerschießungen und Deportationen, das öffentliche Leben wurde gewaltsam sowjetisiert. Auch die deutsche Besatzung war äußerst brutal. Besonders hart traf es die Juden, sie wurden fast alle ermordet, auch mithilfe von Letten. Die zweite russische Besatzung ab 1944 war noch verheerender als die erste. Fast die gesamte lettische Bevölkerung wurde der Kollaboration mit den Nazis bezichtigt, beträchtliche Teile der Bevölkerung ließ man deportieren.

Das Museum erinnert an die zahllosen Letten, die verfolgt, inhaftiert, zwangsdeportiert und exekutiert wurden bzw. infolge von Gewalt, Flucht oder Not zugrunde gingen. Die Exponate sind schauderhaft, beklemmend: Dokumente, Fotografien, Alltagsgegenstände, die Nachbildung einer Lagerbaracke.

Außerhalb von Riga besuchen wir Jūrmala. Der Strand ist hier ca. dreißig Kilometer lang, mit Kiefernwäldern bewachsen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden hier zahlreiche Sommerhäuser aus Holz gebaut, von denen viele aber noch renoviert werden müssen.


Vom Gauja- zum Lahemaa-Nationalpark

Fünfzig km von Riga entfernt erreichen wir den Gauja-Nationalpark, der zwischen Sigulda und Cēsis malerisch in einem Tal entlang des Gauja-Flusses liegt. Die 250 Kilometer lange Gauja schlängelt sich in vielen Mäandern durch den Nationalpark, vorbei an unzähligen roten Sandsteinfelsen.

Zunächst steuern wir Turaida an. Diese teilweise wieder aufgebaute Burganlage aus rotem Backstein liegt in einer kleinen Parkanlage. Unser Quartier schlagen wir in dem hübschen Ort Cēsis auf, der im Krieg und auch von den Sowjets kaum zerstört wurde, sodass man hier schöne Holz- und Steinhäuser findet. Ferner entdecken wir eine alte Ordensburg. Unser Hotel heißt ebenfalls „Cēsis“, das etwas protzige Gebäude stammt aus dem Jahr 1938. Es liegt im Zentrum der altertümlichen Stadt zwischen Hauptplatz, Stadtpark und Schlosspark. Zu sehen sind in dem historischen Ort u.a. Ruinen eines livländischen Ordensschlosses (1206) und eine Kirche aus dem 13. Jahrhundert.

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Von hier aus machen wir einen ausgedehnten Streifzug: zum großen Ungura-See sowie nach Straupe mit Burg und Schlosskirche aus dem späten 13. Jahrhundert. Bei Līgatne überqueren wir die Gauja mit einer kleinen, mit Muskelkraft betriebenen Autofähre. Über teilweise nicht asphaltierte Sträßchen kommen wir dann zum Āraiši-See. Dort kann man erfahren, wie die Vorfahren der Letten vor eintausend Jahren lebten: Auf einer Insel liegt die Rekonstruktion einer Siedlung, die hier tatsächlich existierte. Sie war wie eine kleine Festung im See angelegt und bot etwa einhundert Menschen Schutz.

In Valka überqueren wir am nächsten Tag die Grenze zu Estland. Es gibt im Ort drei Grenzpunkte, einer ist ganz neu, dort ärgern wir die Grenzbeamtin, weil wir sie aus der Pause holen. Kurz hinter der Grenze befindet sich wieder ein Schloss, Sangaste. Es ist im Tudorstil gebaut und ähnelt dem englischen Windsor Castle. Bekanntester Bewohner war Graf Georg Magnus von Berg, der durch Reisegeschichten bekannt wurde. Heute sind im Schloss ein Hotel und Restaurant untergebracht – wir können einige Räume besichtigen.

Fast schon ein Privatquartier haben wir die nächsten Tage in Tartu, die „Villa Oru“. In diesem hübschen Bürgerhaus aus den 1920er-Jahren, einst Wohnsitz eines estnischen Ministers der ersten Republik, gibt es sieben Zimmer, ein Frühstückszimmer und sogar eine Sauna. Der Aufgang ist allerdings so holprig, dass ich einmal hinfalle und mir den Fuß verstauche. Deutsche Importsalbe aus der Apotheke hilft aber.

Tartu hat etwa 100.000 Einwohner und ist die zweitgrößte Stadt Estlands. Vor allem aber ist es eine berühmte Universitätsstadt mit klassizistischen Lehrgebäuden. Die Uni wurde schon 1632 gegründet. Im Universitätsmuseum bestaunen wir Exponate wie die Figuren eines Gelehrten und eines Studenten in ihren Stuben sowie ein Chemielabor. Das Museum liegt auf dem Domberg. Die Domkirche brannte im 17. Jahrhundert vollkommen aus, ein Teil der Ruine dient heute als Museum, früher war dort die Universitätsbibliothek untergebracht. Zum Angucken laden auch zahlreiche Denkmäler der Gelehrten ein, auf Tafeln findet man meist auch in deutscher Sprache geschichtliche Abrisse und Biografien.

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In der Altstadt sind neben der Universität vor allem das Rathaus und der Marktplatz interessant. Das klassizistische Rathaus stammt aus dem Jahre 1789. Ein Fotomotiv ist das Schiefe Haus von Tartu; am an und für sich schon abschüssigen Markt erbaut, neigt es sich nahezu halsbrecherisch zur Seite. Rund um das Rathaus befinden sich weitere meist klassizistische Bauten aus dem 19. Jh. Es gibt aber auch ein Villenviertel mit Jugendstilbebauung und skandinavisch wirkenden Holzhäusern. Tartu steht sicher im Schatten von Tallinn und hat z.B. keine alte Stadtmauer mehr, aber es ist eine lebendige, quirlige Stadt mit Tausenden Studenten aus aller Welt.

Nachdem wir soweit im Landesinnern sind, wollen wir auch zu dem riesigen Peipussee, der Grenze zu Russland. Mit über dreitausend km² ist er ungefähr achtmal so groß wie der Bodensee. Der See erstreckt sich in Nord-Süd-Richtung etwa 140 km und ist bis zu fünfzig km breit. Er bildet fast die gesamte östliche Staatsgrenze Estlands zu Russland. Auf dem Eis des zugefrorenen Sees schlug 1242 ein russisches Heer unter Fürst Alexander Newski die deutschen und dänischen Ritter des Deutschen Ordens vernichtend.

Heute wohnen in den Orten am Westufer immer noch viele Russen, an der Straße sieht man überall Frauen, die riesige Fische aus dem See verkaufen. Unterwegs kommen wir an einem interessanten Schloss vorbei – Alatskivi, im neogotischen Stil erbaut, das bis vor Kurzem leer stand und jetzt Gästehaus wird.

In der Nähe befindet sich ein landwirtschaftliches Freiluftmuseum, nach dem Dichter Juhan Liiv benannt.

Nächster Stopp ist das Städtchen Rakvere. Dort steht eine mächtige Burgruine – im 13. Jahrhundert von Dänen gegründet, im 14. Jahrhundert von den Ordensrittern ausgebaut. Danach herrschten hier vierhundert Jahre Schweden, Russen und Polen. Im 17. Jahrhundert wurde die Burg zerstört.

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Wir haben jetzt einige ruhige Tage im Lahemaa-Nationalpark, etwa fünfzig km von Tallinn entfernt, vor uns. Das 1971 eröffnete fast 60.000 Hektar große Naturreservat besteht zu zwei Dritteln aus bewaldeten Gebieten und zu einem Drittel aus Wasserfläche. Das „Land der Buchten“, wie Lahemaa übersetzt heißt, hat eine schöne Küstenlandschaft mit vier Halbinseln, die kleine Buchten bilden. Die Natur ist ganz abwechslungsreich: Es gibt dichte Wälder, Hochmoore, Seen und Wasserfälle. Hinzu kommen Elche, Wildschweine und viele Vogelarten. Im Süden des Parks erstrecken sich bewaldete Moränenhügel mit Moorflächen und Seen in den Talregionen. Über die Hälfte des Waldes wird von lichten Waldkiefernhainen gebildet.

Nicht weniger als acht Gutsschlösser sind über das Reservat verteilt. In einem, dem Gutshaus Palmse, sind wir einquartiert, jetzt im September sind wir fast die einzigen Gäste. Das prächtige Gutshaus aus dem 18. Jahrhundert, bis 1923 im Besitz der deutschbaltischen Familie von der Pahlen, wurde restauriert und ist von einem großen Park mit alten Bäumen, Schwanenteichen und Gartenpavillons umgeben. Der Gutspark geht in den angrenzenden Wald über, im Herrenhaus ist ein Museum untergebracht. Eines der großen Nebengebäude der Gutsanlage, die ehemalige Schnapsbrennerei, wurde 1995 zum Hotel ausgebaut.

In der Gegend sind auch die Gutshöfe von Sagadi und Vihula mittlerweile restauriert und zu Hotels ausgebaut worden. Die Deutschbalten stellten den Adel und den Großteil des Bürgertums in Estland. Zu den bekanntesten Deutschbalten zählen der Schriftsteller Werner Bergengruen, der Komiker Heinz Erhardt und der üble NS-Ideologe Alfred Rosenberg. Im Zuge von Bodenreformen in den 1920er-Jahren wurden viele Deutschbalten enteignet und emigrierten. 1939 erfolgte die Umsiedlung der Deutschbalten (in der NS-Terminologie: Baltendeutsche) in die Region Posen (Warthegau) und nach Westpreußen. Sie sollten in Sicherheit gebracht werden, bevor die Sowjets die baltischen Staaten besetzten. Im Spätherbst bzw. Winter 1939/40 verließen insgesamt 13.700 Deutsche Estland und 51.000 Lettland. Aus Polen wurden viele nach dem Krieg erneut vertrieben.

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1945 deportierten die sowjetischen Besetzer 342 in Estland gebliebene Deutschbalten. Am interessantesten im Nationalpark ist aber die einsame Küste mit ihren kleinen Fischerdörfern wie Vainupea, Altja, Võsu, Kasispea und Käsmu (heute noch als „Dorf der Kapitäne“ bekannt). In Käsmu gab es einst eine Seefahrtschule. An die alten Seefahrerzeiten erinnert heute ein kleines Meeresmuseum mit allerlei Krimskrams: alten Ankern, Bootsmodellen, Tauen, Rudern usw. Das romantische Fischerdorf ist wie der gesamte Nationalpark erst seit der Unabhängigkeit Estlands zu neuem Leben erwacht, denn zu Sowjetzeiten war hier Sperrgebiet. In Altja gibt es reetgedeckte Häuser und eine Kneipe, erste Vorboten des Tourismus. Vainupea war Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. ein bekannter Erholungsort. Dort steht eine Kapelle aus dem Ende des 19. Jh. – nur etwa zwanzig Meter vom Strand entfernt. In Võsu kommen wir gerade rechtzeitig an, um das Entladen der Fischerboote zu beobachten, das mit Schnaps zelebriert wird. Überall an der Küste liegen bis weit ins seichte Wasser hinaus große und kleine Findlinge.

Wieder mehr im Landesinnern besuchen wir die Dörfer Ilumäe, wo wir einen kleinen deutschen Friedhof entdecken, und Kolga. Das große Gut Kolga mit einem monumentalen Säulenportikus aus dem frühen 19. Jahrhundert sieht ziemlich trostlos aus in seinem Verfall. Es befindet sich wieder im Besitz der schwedischen Familie Stenbock, die es nach und nach saniert. Im Erdgeschoss ist ein kleines Restaurant untergebracht.

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Tallinn mal wieder – zurück über Helsinki

Tallinn begeistert uns wieder, vor allem das Hotel! Das „Park Consul Schlössle“ liegt inmitten gewundener Kopfsteingassen, hier fühlt man wie in längst vergangenen Tagen, als Tallinn noch Reval hieß und eine reiche Hansestadt war. Der vordere Teil des Gebäudes ist vierhundert, der hintere sogar sechshundert Jahre alt. Uralte Balken stützen die Decke im Foyer. Wappen und Ölporträts von strengen Herrschaften mit Halskrause schmücken die Wände, aus denen unverputzte Natursteine hervorbrechen. Markant sind außerdem: rot gepolsterte Ohrensessel vor dem Kamin, dicke Teppiche auf dem Steinfußboden sowie eine holzgetäfelte Bibliothek. Zu unserem Zimmer in einer oberen Etage führen seit Jahrhunderten ausgetretene Stufen. Die 23 Zimmer sind mit Antiquitäten ausgestattet. Im Kellergewölbe mit den zart bemalten Wänden befindet sich ein kleines, feines Restaurant mit 45 Plätzen.

Ein Rockstar wohnt auch im Haus und gibt vor seinem Konzert eine Pressekonferenz: Ian Anderson von „Jethro Tull“, der in den 1970er-Jahren mit langer Mähne und seiner Querflöte über die Bühnen fegte. Er ist jetzt ein ganz gesetzter Herr in den Fünfzigern, den man beim Frühstücksbüfett eher für einen Geschäftsreisenden hält. Er spricht zu den andächtig lauschenden Fans und Journalisten über seine neue CD und darüber, wie schön es doch ist, ein Rockstar zu sein, der nach so vielen Jahren immer noch ein Publikum hat...

Im Hotel holen uns auch die Anschläge des 11. September wieder ein. In der Lobby liegen lauter Zeitungen und Magazine mit immer neuen Geschichten...

In einem uralten Bürgerhaus mit gotischem Portal befindet sich das Stadtmuseum von Tallinn. Es ist ganz neu eingerichtet und zeigt die mittelalterliche Gesellschaft der Stadt durch Texte, Artefakte, Modelle und Soundeffekte. In den oberen Stockwerken geht es um das 20. Jahrhundert mit seinen großen Kriegen, der sowjetischen Besetzung sowie der estnischen Unabhängigkeit.

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In Tallinn gibt es jetzt immer mehr Geschäfte, Kneipen und Bars, wir gehen in das Traditionsrestaurant „Maiasmokk“ (zu Deutsch: „Der süße Zahn“ oder „Leckermäulchen“) – eine sehr schöne Gaststätte mit köstlicher estnischer Küche, zugleich das älteste Café Tallinns.

Die Rückfahrt führt diesmal über Finnland. Vom Hafen Tallinn geht es am Morgen mit einer Schnellfähre nach Helsinki. Dort haben wir einige Stunden Zeit und schlendern durch das Zentrum und die alte Markthalle am Hafen, die unbedingt sehenswert ist. Sie stammt von 1888.

Am Abend reisen wir mit der „MS Finnhansa“ der Finnlines über Nacht nach Lübeck. Dieses Schiff ist nun wesentlich luxuriöser und gemütlicher als die anderen Fähren, die wir schon hinter uns haben.

In Lübeck sind wir doch verwundert, wie leicht die Einreise ist: Noch vom Schiff aus bestellen wir ein Taxi in den Hafen, das kommt bis ans Schiff. Bei der Einreisekontrolle macht der Taxifahrer nur ein Zeichen, schon hebt sich der Schlagbaum und wir sind ohne jegliche Kontrolle in Deutschland. So kurz nach den Anschlägen in den USA finden wir das erstaunlich. Der Grund ist, dass wir aus dem Schengen-Gebiet einreisen, da gibt’s keine Kontrollen mehr. Dass wir zuvor aus Estland gekommen sind, das noch kein EU-Mitglied ist, bekommt niemand mit.

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