Griechenland - Italien, Sommer 1980

[ Olympia – HeraklionLindosRhodos - Rom - Venedig]


Katakolon - Olympia - Heraklion

Die „Enrico C“ gleitet langsam aus Venedig hinaus. Es ist Abend, der erleuchtete Markusplatz bleibt hinter uns. Zwei neblige, unruhige Tage, dann taucht die Küste des Peloponnes vor uns auf. Katakolon ist ein unansehnlicher Ort ohne jede Atmosphäre, man kann sich nur am Hafen vor eines der wenigen Lokale setzen und zusehen, wie die Fischer ihre Netze flicken.

Die Fahrt nach Olympia ist kurz. Das Stadion kann man gut erkennen, es ist seit dem 5. Jh. v. Chr. unverändert, die umliegenden Gebäude, in denen sich u.a. ein Gymnasion und eine Palästra befanden, vermitteln kaum noch einen Eindruck. Im heiligen Hain, der Altis, sehen wir uns den Hera-Tempel an: Säulen und Kapitelle. Etwas größer ist das Gelände des Zeustempels. Dunkle Pflasterreste in der Mitte der Cella – des Allerheiligsten – markieren noch die Stelle, wo die Zeusstatue des Phidias stand, die rund 14 m hoch war und die obere Decke fast berührte. Auf dem verstreuten Gelände voller Gebäudereste stampfen wir um umgestürzte Säulen und Steine herum und versuchen, uns vorzustellen, wie die Wohnungen der Priester des Heiligtums im Theokoleon und die Werkstatt des Phidias, die von den Byzantinern in eine Kirche umgewandelt wurde, wohl ausgesehen haben...

Über Nacht fahren wir weiter nach Heraklion/Kreta. Auch der dritte Besuch vermittelt noch Neues: Wir haben nach der Besichtigung des Museums Zeit, uns eine Stunde das gemächliche Treiben im Markt zwischen Phokas- und Kornaros-Platz anzusehen. Es ist früher Nachmittag und die kleinen Haushaltswaren- und Andenkenläden machen gerade erst auf. Wir sitzen in einem Café und schauen zu: Neben uns ist ein alter, würdiger Mann, der umständlich sein schadhaftes Rollgitter lüftet, dann eine Viertelstunde im düsteren Innern seines Lädchens verschwindet und dann mit einer Rolle Stoff wiederkommt. Nach und nach baut er seine bunten Rollen draußen auf, mit dem Gleichmut dessen, der weiß, dass er sie abends wieder reinbringen muss. Die anderen Händler sitzen vor oder im Laden und schlürfen Kaffee, der aus der Kneipe, von der aus wir alles beobachten, in alle Richtungen gebracht wird. An Kunden ist zu dieser Zeit keiner interessiert, man kann in Ruhe die Auslagen ansehen, ohne gleich angesprochen zu werden. Ein paar junge Männer flanieren die winkelige Straße auf und ab und halten nach den wenigen Touristinnen Ausschau. Betrieb ist nur bei den Obst- und Gemüseständen.

Am Venizelos-Platz sind die Cafés ebenfalls gefüllt, viele Touristen, die lärmen, und Einheimische beim Tavli-Spiel. Das Rathaus, früher venezianisches Zeughaus, und die alte Loggia vermitteln noch ein wenig von der Atmosphäre, die die Stadt zur Zeit der Venezianer gehabt haben muss. Hübsch auch der Morosini-Brunnen mit seinen Reliefs und der Bembo-Brunnen am Kornaros-Platz mit einem marmornen Wasserbecken. Wir flanieren auch ein wenig durch die Straßen um den Eleftherias-Platz. Diesmal wirft kein Kellner – wie bei unserem letzten Besuch – sein Tablett herunter und lässt eine ausgedehnte Schimpfkanonade vom Stapel.

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Lindos

Alles hat sich verändert. Was uns vor einem Jahr, bei unserem letzten kurzen Besuch, nicht gleich ins Auge fiel, zeigt sich, wenn man länger bleibt: Es gibt nicht mehr viele freie Zimmer, ganze Häuser sind an ausländische – vorwiegend englische – Reisebüros vermietet worden. Jede Woche kommen zwei Flugzeuge aus Gatwick und Manchester. Der Ort ist so überlaufen, und dies schon Ende Mai, dass man abends in den Restaurants Schlange stehen muss. Es gibt, früher unvorstellbar, sogar ein Reisebüro in Lindos, gleich hinter der Kirche, in dem man Flüge in alle Welt buchen kann. Das Essen in den neuen Tavernen und Imbissstuben ist teuer, wenn auch abwechslungsreicher als früher. Nachts lärmen die Diskos, von jungen Leuten eröffnet, die vor wenigen Jahren noch Eselstreiber waren. Dies machen nun nur noch die Alten, manches bekannte Gesicht von früher ist darunter. Wenn man wie wir mitten im Ort wohnt, wird man gelegentlich von Personengruppen aus dem Schlaf gerissen, die spät nachts johlend durch die schmalen Gassen ziehen. Der Strand ist überlaufen wie alles in Lindos, plärrende Kinder und Kofferradios. Nur frühmorgens und abends, kurz vor Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, lässt sich hier noch Ruhe finden.

Panajota und Zambikos haben uns freudig empfangen, aber unser altes Zimmer, das wir bestellt hatten, haben wir nicht bekommen, alles ist an die englische Agentur vermietet. So haben wir kein Bad und keine Küche. Neben uns liegt das Schlafzimmer von Zambikos und Panajota. Bis hierhin ist die neue Zeit schon gedrungen: Sie haben sich einen monströsen Fernseher angeschafft, der jeden Abend, gleich welches Programm es gibt, läuft. Alles wäre nicht so schlimm, hätten wir wenigstens – wie früher – den Blick auf die Bucht von Lindos. Aber unsere Terrasse wird von einer neuen Mauer begrenzt, denn direkt daneben gibt es ein neu erbautes Haus, auch vermietet. So müssen wir auf das Mäuerchen steigen und über den Drahtzaun hinweggucken, der oben draufgesetzt ist.

Nach ein paar Tagen wird es nebenan noch unruhiger. Panajota räumt das Schlafzimmer aus. Wir schöpfen Hoffnung, dass es vielleicht ruhiger wird, aber dann hängt plötzlich das alte Schild „rooms to let“, das uns vor Jahren das erste Mal ins Haus von Panajota brachte, draußen am Eingang. Die ganze Familie ist in die Küche und den kleinen Raum daneben gezogen. Bald wohnt ein deutsches Touristenpärchen im Zimmer neben uns. Nun teilen sich acht Leute das kleine Bad und den Kühlschrank: Panajota, Zambikos, die Tochter, der Sohn, der in einem Strandlokal kellnert, die zwei Deutschen und wir. Noch am gleichen Tag ziehen wir aus. Es gibt einen traurigen Abschied: Wir versuchen, Panajota klarzumachen, warum wir gehen. Sie scheint zu verstehen, bringt uns plötzlich eine Flasche Wein und wir ziehen ab.

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In der Bucht vor Lindos mit ihrem breiten, geschwungenen Strand, steht nun das „Lindos Bay Hotel“, ein eleganter neu erbauter Kasten, in dem wir für einige Tage unterkommen. Das Management ist typisch griechisch: Man ist gezwungen, Halbpension zu buchen, doch das „europäische“ Essen ist schlecht, der Service chaotisch. An einem Abend wollen wir nach dem Essen mit dem Hotelbus nach Lindos und haben schon vorher die nötigen Tickets gekauft. Wegen des umständlichen Wartens auf das Essen kommen wir erst in letzter Minute an der Rezeption an und, siehe da, der Bus ist voll, zu viele Tickets sind verkauft worden. Es gibt einen Wortwechsel mit dem Rezeptionisten, denn wir verlangen, dass der Bus, sobald er zurückgekehrt ist, für uns noch einmal fährt.

Lautes Palaver und Geschimpfe, der Rezeptionist fühlt sich in seiner Ehre als Grieche beleidigt, schließlich landen wir beim Manager. Der, dicklich und clever, gibt uns beiden recht und regelt, dass wir doch noch nach Lindos gebracht werden. Nun sind der Rezeptionist und wir wieder dicke Freunde: Er fährt uns in seinem eigenen Wagen, erzählt uns, dass er aus Laerma, etwas weiter im Innern der Insel gelegen, stammt, Bürgermeister war und zur Zeit der Junta abgesetzt wurde...

Kostas gibt es noch. Er hat sich am wenigsten verändert, auch wenn er jetzt eine ganz moderne Kneipe mit Stereomusik, blank geputzter Theke und „exotischen“ Drinks führt, nicht weit von seinem alten Platz entfernt. Er ist noch immer schmuddelig, zieht an seiner Zigarette und trägt die letzten, ausgefransten Hosen. Sein Gesicht ist genauso rundlich und verschmitzt wie früher. Wie schon in der alten Kneipe, sitzt er meist hinter der Theke, den Arm aufgestützt und sieht wohlgefällig in die Runde. Das Publikum ist wie früher. Seltsam, wieder sind es die teils schicken, teils abgerissenen Hippienachfolger, die sich immer bei ihm einfinden. Sie machen sich ungeniert, ohne dass Kostas daran Anstoß nimmt, über den großen Berg Platten und die Stereoanlage her, die an der Seite der Theke angebracht ist, legen Platten auf, nehmen sie wieder runter, zerkratzen sie, egal.

Werner Jaeger sitzt wie früher im Halbdunkel seines Wohnzimmers, das Radio, eingestellt auf die Deutsche Welle, vor sich. Er ist verbittert über die Veränderungen im Ort und das schlechte Wetter, das es dieses Jahr im Winter und Frühjahr gab (auch jetzt hat es ein-, zweimal geregnet). Außerdem muss er bald ausziehen, denn die Familie, der sein Haus gehört, will selber einziehen. Traurig zeigt er uns die Blumentöpfe, die er angelegt hat, und murmelt vor sich hin: Sie werden alles rausreißen!

„Shaking-Kosta“ bekommen wir nicht zu Gesicht, doch er lebt noch. Er hat sein Geld beim Spiel verloren, erzählt man uns, und fristet, blind und zitternd, sein Dasein in einem Häuschen gegenüber der Kirche. Wir gehen gar nicht hin.

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An der Akropolis wird gebaut und renoviert, Gerüste versperren die Aussicht. Doch machen wir diesmal etwas, was wir immer vorhatten, wir klettern außen am Akropolisberg entlang, bis wir zur Höhle direkt unter dem Athena-Tempel kommen. Der Zugang zur Höhle ist schwer zu erreichen, man muss sich an den Felsen entlangtasten, eigentlich ist es auch gefährlich, doch die dumpfe, breite Höhle mit ihren Mauerseglern lohnt den beschwerlichen Weg: Hier soll sich das ursprüngliche Athenaheiligtum der Lindier befunden haben, lange bevor der Tempel gebaut wurde.

Pefka. Man kann mit dem Wagen vom oberen Parkplatz von Lindos aus hinkommen, ein gewundener schmaler Weg, oder man fährt in Richtung Lardos und nimmt ein unscheinbares Sträßchen kurz hinter dem Ortsausgang nach links. Kein Schild verrät, dass es hier zu einem Ort geht. Die Straße ist in jämmerlichem Zustand, es geht vier km über Stock und Stein, doch dann ist man überrascht: Die „Residenz“ der Lindier, das kleine Pefka, in dem sie ihre Zweithäuser haben und im Winter wohnen, liegt weit verstreut an einer Bucht mit feinem Sandstrand. Alles ist bedeckt von Grün, dazwischen liegen die weißen, schmucken Häuser. Die meisten sind jetzt leer und niemand stört einen am Strand. Ein, zwei Häuser sind an Touristen vermietet und es gibt ein Lokal mit vorzüglichem Fisch. Keiner kommt aus Lindos hierher, zu versteckt liegt diese Oase der Lindier, doch man plant bereits: Stelyos zeigt uns ein ausgedehntes, wild bewachsenes Grundstück kurz vor dem Strand. Er will ein Haus mit Zimmern und Zugang zum Strand bauen, für die Touristen natürlich. Aber das wird noch Jahre dauern. Er hat weder Geld noch weiß er, wie er welches beschaffen kann. Außerdem geht es hier mit dem Bauen nicht so schnell.

Kurz bevor wir Lindos verlassen, gehen wir noch einmal zum Strand. Auf dem Weg liegt die kleine Kapelle. Sie zählt auch zu den Dingen, die wir in den Jahren zuvor kaum beachtet haben, wir gehen hinein. Die kleine Tür steht offen, drinnen Verfall, Werkzeuge von Handwerkern lehnen an der Wand. Über dem Altar eine herrliche Ikone, nur lose befestigt, ein Wunder, dass keiner sie stiehlt. Die mangelnde Pflege der Lindier gegenüber diesem Kapellchen ist irgendwie bezeichnend: Sie sind eifrig bestrebt, ihren Ort, der so viele Jahrhunderte und zahllose Besetzungen überlebt hat, zu ruinieren.

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Streifzüge auf Rhodos

Ein- oder zweimal die Woche wird beim Großmeisterpalast in Rhodos ein kleines Tor zur Stadtmauer geöffnet und man kann einen Rundgang auf den Wällen rings um die Altstadt machen. Eine gute Gelegenheit, um die mächtigen Wälle und Bastionen rund um die Ritterstadt, die übrig gebliebenen türkischen Moscheen, die teilweise verfallen sind, und die verschachtelten Häuser der Altstadt von oben zu sehen. Kasematten, alte Kanonenkugeln, Reste von Zugbrücken, Luftgräben, Zinnen und Türme – das ganze Ausmaß der mittelalterlichen Befestigung wird sichtbar.

Die Ostküste hinunter nach Süden. Wir lassen die Hotelvororte hinter uns und kommen nach Kallithea. Wo in der Antike ein Thermalbad war, haben die Italiener in den 1920er-Jahren eine protzige Anlage mit Beeten, Wandelgängen und einem Badehaus errichtet. Heute ist alles etwas heruntergekommen, aber immer noch besser als ein Hotelstrand bei der Stadt.

Das gänzlich dem Tourismusrummel verfallene Faliraki lassen wir schnell hinter uns, dann Kolymbia. Von der Hauptstraße schwer zu erreichen, breitet sich, ist man erst einmal da, ein weiter Strand nach Norden aus. Eine kleine Schiffsanlegestelle, ein uriges Fischrestaurant, in dem manchmal ein Geigenspieler fiedelt, Ruhe und beschauliches Baden.

Von der Hauptstraße einige Kilometer ins Landesinnere: die Sieben Quellen – Epta Piges. Es geht durch eine schöne grüne Landschaft – immer parallel zu einer Wasserleitung aus der Zeit der Italiener, die immer noch ihren Dienst tut.

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Dann ein schattiger Platz unter Bäumen mitten im Wald. Wasserrauschen, mehrere Quellen fließen hier zusammen, kleine Brücken und Spazierwege führen über den glasklaren Bach. Daneben ein kleines Lokal, man kann direkt am Wasser sitzen und Steaks verzehren, die der Wirt, der natürlich in Deutschland war, auf dem Holzkohlegrill zubereitet. Um ihn herum Gänse, ein Pfau. Abends sollte man nicht zu spät kommen, der Wirt ist nicht daran interessiert, seine Abendruhe mit allzu vielen Leuten zu teilen. Kurz bevor es dunkel wird, wirft er den Grill noch einmal an, wenn der letzte Gast weg ist, hat er den ganzen Wald für sich.

Es ist heiß, doch wir wollen endlich auch den Tsambika-Berg bei Archangelos erklimmen. Oben gibt es ein Kloster, zu dem Frauen pilgern, die sich ein Kind wünschen. Ein schmaler, steiler Weg führt vom Parkplatz auf halber Höhe hoch, doch oben gibt es nur ein Kapellchen und einen kleinen Anbau, keine Spur von einem Kloster. Doch der Blick nach Süden ist wundervoll: Eine Bucht reiht sich an die andere, mit etwas Glück kann man in der Ferne den Felsen von Lindos sehen.

Die Archangelos- und Feraklos-Bucht bieten wenig zum Baden. Der Weg ist sehr schlecht. Der Strand ist nur schmal. Verfallene Häuser, vor allem unterhalb von Archangelos, geben dem Ganzen eine triste Atmosphäre. In sich zusammengebrochen ist auch die Burg von Feraklos. Hier gingen 1306 die Johanniter an Land.

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Der Süden!

Noch eine Ruine, Asklipion. Sie ist verfallen, nicht mal ein passabler Weg führt hin, zwischen den beiden noch verbliebenen Türmen bröckelt seit Jahrhunderten der Wall ab. Die byzantinische Kirche aus dem Jahre 1060 ist zu, die alten Fresken im Innern bleiben uns diesmal verborgen.

Hinter Gennadi fährt man Kilometer um Kilometer an einsamen Stränden vorbei, leicht von der Straße zu erreichen. Nächste Ansammlung von Häusern an der Küste ist Plimmyri: eine Kneipe, die Terrasse unter einem Strohdach, Fisch, wackelige blaue Stühle, ein paar Touristen. Nur wenige kommen in diese Gegend, die Fahrt von Rhodos ist zu weit. Ein Stück im Innern des Südens, zur Westküste hin, liegt Kattavia. Hier hatten die Italiener einen Militärflughafen angelegt und verschafften dem trostlosen Ort so eine kurze Blüte. Die Landebahn ist längst überwuchert, ein paar Baracken stehen noch, im Ort sitzen die Männer in der Kneipe am Platz. Als wir vorbeifahren, winken sie uns zu – jeder Gast ist hier willkommen.

Eine kaum erkennbare Straße führt abseits vom Ort zum Kap Prassonissi, dem südlichsten Zipfel von Rhodos. Doch sie ist so schlecht, dass wir nach einigen Hundert Metern die Fahrt abbrechen. Eine erbärmliche Straße hinauf in die Berge. Das Auto quält sich mühsam weiter, endlich kommen wir in die Ebene an der Westküste. Hier sind die Strände ganz unberührt, bis hinauf nach Apolakkia trifft man niemanden. Die vorgelagerte Insel Ktenia ist das einzige sichtbare Zeichen im Meer.

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Ein Stück vor Apolakkia, wo man mittags manchmal Touristenbusse aus Rhodos treffen kann, die auf der „großen Tour“ in den Süden der Insel unterwegs sind, zweigt eine holprige Straße in die Berge ab. Es ist kaum zu glauben, dass der Wagen die Strecke hinauf zum Kloster Skiadi schafft, wegen der zahlreichen engen und steilen Kurven, die direkt am Abgrund entlangführen, kann man fast nur im ersten Gang fahren. Im Reiseführer steht nichts über das Kloster, trotzdem gehen wir hinein. Sogleich empfängt uns ein runzliger Mann, halb Mönch, halb sonst was. Er schließt uns die Kapelle auf und zeigt uns die Ikonen. Mit großer Geste lädt er uns zum Übernachten ein, fragt, ob wir nicht etwas trinken wollen. Wir erklären ihm, dass unser Quartier in Lindos ist. Lindos ist von hier oben eine Welt entfernt. Weiter auf der abenteuerlichen Straße zum Dorf Messanagros. Ein paar Häuser, eine Kneipe, wo wir anhalten. Wir werden begeistert empfangen und wechseln ein paar Worte, das Übliche: Tourist, Deutschland, Lindos. Ein alter Mann freut sich über ein Fläschchen Underberg, das wir ihm schenken. Er zeigt uns die byzantinische Kirche Panajia, ein Schatz in diesem verborgenen Winkel. Sie wird gerade renoviert, der Boden in der Kirche ist im Laufe der Zeit abgesackt, draußen sieht man uralte Fundamente und Mauerreste.

Ein anderer Tag. Wir fahren über Lardos nach Monolithos. Vor und hinter Lardos, wo unser Freund aus dem „Lindos Bay“ Bürgermeister war, erstreckt sich eine herrliche Waldgegend. Die Straße schlängelt sich durch eine anmutige grüne Landschaft, dann geht es wieder querfeldein, am Hang des Attaviros-Gebirges entlang. Der Mt. Attaviros ist mit über 1.200 m der höchste Berg der Insel, man kann ihn von Embonas aus besteigen, aber die Fahrt über Stock und Stein ist mühsam genug. Unterwegs begegnen wir zwei Schweden, die sich – wie wir – mit ihrem Auto dahinquälen. In Agios Isidoros treffen wir auf den Linienbus und wundern uns, wie er die erbärmliche Straße bewältigt.

Siana kurz vor Monolithos. Es gibt eine alte und eine neue Kirche, fast prachtvoll. Draußen kann man die stillstehende Zeit ablesen, sie ist auf das Zifferblatt am Turm aufgemalt!

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Ein alter, freundlicher Mann spricht uns auf Englisch an. Er heißt Anastasios Katsinastasis und hat eine kleine Bar. Das Schild draußen verkündet: „English spoken. Former Resident US America.“ Er beginnt sogleich, seine unglaubliche Geschichte zu erzählen: Anfang des 20. Jahrhunderts hat ihn sein Vater nach Amerika mitgenommen. Dort wollten sie reich werden, es war die Zeit des Goldrauschs, so zogen sie nach Alaska. Der alte Mann hat vielleicht nie von Jack London gehört, aber er ist eine Figur wie aus seinen Büchern. Natürlich wurde es nichts und Anastasios kehrte zurück zur Familie nach Siana. Wir stellen uns vor: Vater und der kleine Sohn im Aufbruch nach Amerika. Die Überfahrt auf dem Zwischendeck, dann quer über den amerikanischen Kontinent. Sicher hat der Vater den kleinen Jungen immer an der Hand gehalten.

Der Fels von Monolithos mit seiner Kreuzritterburg sieht von oben aus wie ein Klotz, der in die Landschaft gesetzt wurde. Einst diente die Festung den Kreuzrittern als Beobachtungsposten, wenn man oben steht, liegt das ganze Meer im Westen vor einem ausgebreitet.

Ein Stück nach Norden – die nächste Burg, Kamiros. Sie ist weit besser erhalten als die von Monolithos, liegt aber nicht so hoch. Am Wall sind deutlich zwei Wappen zu erkennen. Wir haben einen jungen Australier mit Rucksack aufgelesen, der mitten in der Landschaft stand und den wir in den nächsten Tagen hier und da wiedersehen, mal allein, mal mit Begleitung.

In Kamiros Skala, was nur aus ein paar Häusern besteht, gibt es eine kleine Schiffsanlegestelle. Nach unserem Reiseführer wurde oder wird von hier aus irgendein Schmuggel betrieben. Tatsache ist, dass es hier – wie sonst kaum auf Rhodos – Hummer gibt. Die Taverne liegt direkt am Wasser. Ein paar Schiffe dümpeln dort herum und ich spreche mit den Männern, die dort arbeiten. Sie diskutieren irgendwas Politisches. Der eine fragt mich, was ich so denke. Ich sage nur: „Willy Brandt“, er nickt befriedigt.

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Profitis Ilias

Wenn man Epta Piges hinter sich lässt und den langsam ansteigenden Berg hinauffährt, kommt zuerst Archipolis, dann Eleousa, ein kleiner Ort mit einer Kaserne und einem riesigen Wasserbecken, wohl aus der Italienerzeit. Dort an der Ecke sitzt tagaus, tagein ein alter, blinder Mann; jedes Mal, wenn wir vorbeifahren hebt er den Kopf und lauscht in unsere Richtung. Vorbei an der Kapelle Funktuli mit ihren herrlichen Fresken geht es hinauf zum Hotel „Elafos“, in dem wir uns für die letzte Woche einquartiert haben. Das Hotel und das benachbarte „Elafina“ (auf Deutsch Hirsch und Hirschkuh) haben eine längere Geschichte hinter sich: Von den Italienern zur Erholung im kühlen Gebirge erbaut, verfielen die Gebäude lange Zeit. Jetzt hat die Nobelkette „Astir Hotels“ das „Elafos“ wiedereröffnet, gediegen und gemütlich eingerichtet, mit Telefon und Hausprospekt. Unser Zimmer mit Balkon liegt nach hinten raus, die ganze Westküste von Rhodos liegt unter uns, das Meer verschwimmt im Horizont. Abends kann man über den Wipfeln der Tannen den Sternenhimmel und die Lichter der Orte an der Küste sehen. Herrliche Tage bei absoluter Ruhe, Spaziergänge rund um die Anlage mit ihrem kleinen Wildgehege, tagsüber fahren wir hinunter an die Küste.

Mädchen für alles im Hotel ist Harry. Er spricht nur wenig Englisch und geht meistens Hand in Hand mit einem jungen Mädchen durchs Haus, das er vor einigen Wochen geheiratet hat. Zusammen mit einem älteren Mann, der die Rezeption versorgt, führen sie das Hotel. Doch es gibt nicht viel zu tun, denn nur zwei der zahlreichen Zimmer sind belegt! Welch ein Gegensatz zu den überfüllten Hotels an der Küste bei Rhodos. Nur ein englisches Paar ist noch da, das wir aber kaum sehen. Immer, wenn wir mal da sind, sind sie unterwegs oder umgekehrt. Und auch die wenigen Male, wo wir ihnen in der Halle begegnen, wechseln wir kein Wort. Dafür kümmert sich Harry um uns. Immer, wenn wir zu Tisch kommen, hat er alles mit feinsten Blumen und Gebinden dekoriert, die Servietten, das Salzfass, schier alles. Die Speisekarte brauchen wir allerdings nur beim ersten Mal, dann wissen wir, dass es nur zwei, drei Gerichte gibt. Nach dem Essen kredenzt Harry uns einen seiner „Special Drinks“, Longdrinks mit viel Whisky, Rum und Orange, die er an uns ausprobiert. Den Rest des Abends spielen wir dann Tavli und es gelingt uns kaum, ihn mal zu schlagen.

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Es ist der letzte Abend vor der Abreise und wir kommen mal wieder von Kolymbia. In Eleousa, kurz hinter dem Wasserbassin, wir sind gerade an dem Blinden vorbeigefahren, passiert es. In der Kurve kommt uns ein Moped mit zwei jungen Leuten darauf entgegen. Keine Möglichkeit, um zu reagieren, das Moped prallt frontal auf unseren VW, die beiden müssen ziemlich schnell gefahren sein, es gibt einen Knall, die beiden Männer fallen hinter uns in den Graben. Sie liegen still da, verletzt und halb bewusstlos. Uns ist nichts passiert, aber die beiden bluten am Kopf und der eine, der sich wieder regt, hat ein gebrochenes Bein. Im Nu läuft das Dorf zusammen, ein vorbeifahrender Kleinlaster wird angehalten, um die beiden nach Rhodos ins Krankenhaus zu bringen. Um uns herum Kinder, Soldaten von der nahen Kaserne, andere Leute aus dem Dorf. Jemand ruft wohl bei der Polizei an, die nächste Station ist in Salakos am Fuße des Profitis Ilias. Dorthin hatten wir abends zum Essen fahren wollen, das Dorf mit seinem schönen, baumbestandenen Platz hatte uns ein paar Tage zuvor so gut gefallen. Wir erinnern uns, wie der Pope und einige junge Polizisten unter den Bäumen an einem Tisch gesessen hatten. Die Zeit vergeht, es wird langsam dunkel und kühl hier auf halber Höhe. Schließlich erscheint der Dorfpolizist, er kann kein Englisch, wir erfahren nur, dass er die nächstgrößere Station in Trianda bei Rhodos verständigt hat. Inzwischen rufen wir die Autovermietung in Rhodos – von einem winzigen Laden im Dorf aus – an. Sie versprechen, jemanden zu schicken. Das Auto ist wohl hin, die Achse verbogen. Es dauert drei Stunden, bis die Polizei aus Trianda erscheint. Der Chef, in zivil gekleidet, man hat ihn wohl vom Abendessen geholt, ist sehr mürrisch. Was wir sagen, interessiert ihn wenig, inzwischen aber beginnen Dorfbewohner, die erst nach dem Unfall zur Stelle waren, Aussagen zu machen, die fleißig aufgeschrieben werden. Uns ist kalt und sehr mulmig. Die AVIS-Leute, die nun auch erschienen sind, übersetzen, was wir vorzubringen haben, aber es wird bald klar, dass ich festgenommen werden soll. Die „Enrico“ wird am nächsten Tag ohne uns abfahren.

Alle zusammen marschieren zu einer Kneipe im Ort, dann wird das Schulgebäude aufgemacht und weitere Aussagen, darunter die von Ulrike, werden aufgenommen. Sie hat von einem der Soldaten einen Parka bekommen. Nun geht es nur noch darum, ob ich gleich mitkommen muss, oder ob ich mich im Hotel, ca. 8 km entfernt, umziehen und ein paar Sachen packen kann. Zusammen mit den AVIS-Leuten gelingt es uns, den Chefpolizisten zu überreden, dass ich zum Hotel gefahren werde.

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Alles geht schnell und in einer halben Stunde bin ich wieder in Eleousa. Dort sitzt alles vor der Kneipe, auf dem Tisch stehen Ouzo-Gläser und kleine Häppchen. Die Stimmung hat umgeschlagen, ich werde mit großem Hallo empfangen! Die Dorfbewohner sind begeistert davon, dass ein ganzer Polizeitrupp ihre Abgeschiedenheit stört. Beim Aufbruch gibt es ein großes Palaver um die Bezahlung. Der Chefpolizist will selbst bezahlen, aber der Kneipier lädt ihn (und mich) ein.

Ich sehe noch, wie ein anderer Wagen mit Ulrike zum Hotel abfährt. Wir verabreden, dass sie am nächsten Morgen mit dem Gepäck zur Polizeistation nach Trianda kommt, wir haben noch Hoffnung, dass man mich am Mittag gehen lässt. Je näher wir an Rhodos herankommen, desto freundlicher wird der Chefpolizist. Es ist ihm unangenehm, dass er mich einsperren muss. Um das Unvermeidliche hinauszuzögern, lässt er an einer Pizzeria halten und wir essen erst einmal ausgiebig. Es gibt Ziegenkopf und Obst – wieder bezahlt der Polizist alles. Schließlich, es ist nach ein Uhr nachts, werde ich in meine Unterkunft („leider kein Hotel“, wie der Polizist bemerkt) gebracht. Die Polizeistation ist in einem hübschen Gebäude aus der Italienerzeit und hat sogar einen Innenhof. Ich werde in einen Raum geleitet, in dem schon einer liegt. Ich frage erschreckt, ob es irgendein Verbrecher ist, mit dem ich den Rest der Nacht verbringen soll. Binichakis, der Polizist, versichert, dass es einer von seinen Leuten sei. In der Tat, die Zelle hat zwar Gitter, dient aber auch als Liegeraum für die Leute in der Station. Zwei Betten stehen drin, nur mit einer Matratze bedeckt. Bald finde ich heraus, dass es sogar einen Spind gibt und ich suche mir eine Decke und ein Kissen heraus, hat der Polizist, dem das gehört, eben Pech. Angekleidet lege ich mich auf die Pritsche. Als später ein junger Polizist kommt – der andere marschiert heraus, ohne von mir Notiz zu nehmen – und augenscheinlich nach seinen Sachen sucht, stelle ich mich schlafend. Die Tür zu dem Raum ist auf und ich kann den Gang entlang zur Toilette gehen. Im Büro direkt neben dem Eingang brennt die ganze Nacht Licht, keine Chance, herauszukommen. Meine Pritsche liegt direkt an der Außenwand, etwa einen Meter entfernt donnern die ganze Nacht Autos vorbei, Mücken piesacken mich. Ich schlafe keine Minute, denke an die beiden Verletzten und daran, wie es weitergeht.

Am Morgen erscheint der Chefpolizist und beginnt, die Akten für das Gericht fertigzumachen. Alles ist sehr aufwendig, Papier auf Papier wird beschrieben, ständig schreit Binichakis nach etwas. Er muss alles selbst auf einer alten Maschine schreiben, nicht einmal Büroklammern gibt es und er heftet die diversen Papiere mit kleinen Nadeln zusammen. Der Honorarkonsul, ein Grieche, den wir angerufen haben, will einen Anwalt besorgen. Nach Ulrike mit den Koffern kommt auch das Mädchen von AVIS wieder, das schon am Abend beim Unfallort war. Mit ihrer Hilfe mache ich meine Aussage, sie wird in Englisch protokolliert.

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Gegen Mittag fahren wir wieder los. Zwei Polizisten begleiten uns, denn ich bin immer noch verhaftet. Zunächst fahren wir zum Krankenhaus, doch dort ist niemand mehr. Die beiden Verletzten sind nach Athen geflogen worden, eine durchaus übliche Sache hier auf Rhodos, wie wir später hören, denn das Krankenhaus ist schlecht ausgerüstet. Das Gerichtsgebäude liegt gleich am Hafen, nicht weit vom Markt und der Hauptpost. Wir sitzen in der Halle, die Polizisten immer um uns herum, und treffen den Anwalt. Er verspricht, gleich für einen Termin beim Untersuchungsrichter zu sorgen. Vielleicht entscheidet der, dass gar kein Verfahren eröffnet wird, vielleicht, wenn die Papiere vollständig sind, wird gleich verhandelt. So schnell geht das. Es ist eine Geldfrage, sagt der Anwalt. Man bezahlt die Strafe gleich und kann gehen.

Draußen im Hafen liegt unser Schiff und wir schöpfen kurz Hoffnung. Doch nichts tut sich. Im Gebäude ist ein Kommen und Gehen, im Gerichtssaal läuft gerade eine Verhandlung. Die Prozessparteien gestikulieren herum, es geht laut und heftig zu. Der Untersuchungsrichter kommt mit einem Mal aus seinem Büro, die Aktentasche unterm Arm, und entschwindet. Nun wird auch der Anwalt lebendig, verschwindet, kommt wieder und hat je eine „gute“ und eine „schlechte“ Nachricht: Ich bin nicht mehr verhaftet, doch mein Pass, den man mir in Trianda abgenommen hat, wird eingezogen. Ich darf also nicht aus Griechenland weg. Auch jetzt weiß der Anwalt nicht, wie es weitergeht. Er kennt den Untersuchungsrichter, spielt mit ihm Fußball, und will ihn am Abend „privat“ anrufen und gleich am nächsten Morgen Bescheid geben. So landen wir im Hotel „Cactus“, einem zweitklassigen Haus nicht weit vom Zentrum.

Den nächsten Morgen sitzen wir im Zimmer und warten vergebens auf einen Anruf. Ich gehe zur Vertretung der Reederei und sorge dafür, dass ein Telex aufgegeben wird, damit man uns für die nächste Woche eine Kabine reserviert, wir rechnen nicht mehr mit einer schnellen Abreise. Ich laufe auch zum Gericht, um den Anwalt zu finden, doch er ist nicht aufzutreiben. Schließlich, gegen Mittag, erreichen wir ihn am Telefon, es gibt natürlich nichts Neues, wir sollen uns an den „schönen Strand“ legen und abwarten. Und er macht dunkle Andeutungen: Der Richter sagt, dass er erst das ärztliche Gutachten über die Verletzungen der beiden Mopedfahrer abwarten will, bis etwas entschieden wird. Dann braucht er noch deren Aussagen zum Unfall und erst dann geht es weiter. Sind die Verletzungen schwer, kann es sein, dass ich in Untersuchungshaft genommen und auf die Insel Kos gebracht werde, denn ein Gefängnis gibt es auf Rhodos nicht! Ob man nicht mit einer Kaution freikommt? Auch darüber wird erst nach Wochen verhandelt, gerade hat der Anwalt zwei Deutsche freibekommen, die Wochen oder Monate wegen Ikonendiebstahls gesessen haben. Der eine, ein älterer Oberstudienrat, hat mit der Sache nichts zu tun, sagt der Anwalt, hat aber mitgesessen.

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Ich bin entsetzt von dieser Aussicht und weiß nicht, was ich tun soll. Ulrike hat die Idee, bei der deutschen Botschaft in Athen anzurufen. Es ist Nachmittag und ich versuche – inmitten von Leuten – von der Rezeption aus, eine Verbindung zustande zu bringen. Nach Deutschland zu telefonieren ist sinnlos, es gibt kein Durchkommen. Schließlich habe ich jemand in der Botschaft an der Strippe und erzähle meine Geschichte. Die kurze Antwort: Am nächsten Morgen in die Botschaft kommen und einen Ersatzpass beantragen.

Mir ist etwas mulmig wegen der vielen Leute an der Rezeption, trotzdem rufe ich gleich bei Olympic Airways an und bekomme zwei Plätze für den Abend nach Athen. Im Nu sind wir wieder im Zimmer und packen. Ich verstehe nicht, dass man sich an der Kasse nicht wundert, dass wir so plötzlich abreisen und anstandslos den halben Preis für die nächste Nacht bezahlen.

Bei Olympic bewährt sich die Kreditkarte, ohne Bargeld bezahlen wir die Tickets. Als der Flughafenbus Rhodos hinter sich lässt und an der Polizeistation Trianda vorbeikommt, ziehe ich den Kopf ein. Am Flughafen der nächste Schreck: Beim Einchecken entdecken wir das Mädchen von AVIS! Unumgänglich, mit ihr zu sprechen. Ob es ihr nicht verdächtig vorkommt, dass wir nach Athen fliegen? Doch sie findet offenbar nichts dabei, ist mehr damit beschäftigt, dass sie gerade ihren Job verloren hat. Es hat nichts mit unserer Sache zu tun, kann es auch nicht, es gab Streit mit den anderen, jedenfalls fährt sie zurück nach Athen, wo sie zu Hause ist. Eine Passkontrolle gibt es bei Inlandsflügen nicht, trotzdem ist uns nicht wohl, bis wir in der Maschine sitzen. Der Anwalt hat immer wieder gesagt: Fahren Sie doch nach Athen, fahren Sie doch nach Athen!

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Es ist finster, als wir ankommen. Wir fahren zum „Attica Palace“, wo wir früher schon übernachtet haben und tragen uns unter Ulrikes Mädchennamen ein, der vorne im Pass steht (Namensänderung weiter hinten). Am Morgen suchen wir verzweifelt nach einem Fotogeschäft, ich brauche Passbilder, habe nur eins dabei, aber es geht nur mit zweien. Als wir keines finden, fahren wir zur Botschaft. Der Taxifahrer sucht herum, findet den Weg nicht, schließlich lotsen wir ihn mit unserem Stadtplan hin. Unsere Sorge ist, dass an diesem Freitagmorgen vielleicht das ärztliche Gutachten in Rhodos angekommen ist. Wenn schwere Verletzungen vorliegen, wird man sogleich nach mir suchen, der Anwalt weiß, dass wir im „Cactus“ abgestiegen sind. Dort wird man sich erinnern, dass wir mit Athen und der Fluggesellschaft telefoniert haben und ganz eilig abgereist sind. Ein Anruf beim Flughafen Athen und wir sind aufgeflogen. Doch nichts geht schnell. In der Botschaft schickt man mich wieder fort, zu einem Fotoladen zwei Straßen weiter, es geht nicht mit einem Foto. Natürlich ist der Fotoladen zu. Ich laufe zum nächsten Café, sicher sitzt der Inhaber dort. Ein paar Leute helfen mir suchen und, siehe da, er erscheint auch. Schnell machen wir die Bilder, wobei der Fotograf mir mit einer riesigen Lampe ins Gesicht leuchtet, sodass ich nur blinzeln kann. Dann bekomme ich meinen Ersatzpass. Es gibt noch ein paar gute Ratschläge, z.B. dass ich mich bei der Passkontrolle in eine lange Schlange stellen soll. Ich darf auch nicht erzählen, dass ich von Rhodos komme, jemand könnte misstrauisch werden und dort anrufen.

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Die Abflugtafel in der Flughafenhalle. Wir wollen die nächste Maschine nehmen, irgendwohin, nur nicht gerade nach Hongkong oder Kapstadt. Auf der Tafel steht: „Amsterdam – Abflug in 20 Minuten.“ Also zum Schalter der KLM. Zu spät, die Maschine ist schon abgefertigt. Dann gibt es einen Flug nach Rom, in 40 Minuten. Hier gibt es noch Plätze, wieder geht alles mit der Kreditkarte ganz schnell. Doch wir sind unter den Letzten an der Passkontrolle. Die zwei Beamten, ein Mann und eine Frau, studieren eingehend meine Passpapiere, dann geht der eine damit in einen Raum. Dies ist der schlimmste Moment, doch dann höre ich ein lautes „Endaxi“ (auf Deutsch: in Ordnung) aus dem Raum, beiläufig gibt mir der Beamte mein Papier wieder.

Aber es geht nicht gleich los. Die Maschine ist zwar zu sehen, eine 707 der TWA, Flug Kairo-Athen-Rom-New York, doch der Flug wird und wird nicht aufgerufen. Noch ein letztes Mal regen wir uns auf, besonders, weil einige Polizisten in der Wartehalle und draußen herumgehen. Doch dann sind wir in der Luft. Ich trinke erleichtert alle kleinen Schnapsfläschchen aus, die ich noch bei mir habe.

Während des mehr als zweistündigen Fluges erholen wir uns, die einzige Aufregung bietet der Franzose, der neben mir sitzt und sich ständig in Krämpfen windet. Er hat eine Magenverstimmung und stürzt das eine und das andere Mal zum WC.

Wir überfliegen bei klarer Sicht das teilweise schneebedeckte Pindos-Gebirge, Korfu, dann das Meer, Taranto. Deutlich zu sehen: der Vesuv und Neapel – bedeckt von Smogwolken. Kurz vor der Landung eine Ansage des Captains in schnodderigem Südstaatenenglisch: Wir müssen noch einige Schleifen drehen, der Flughafen Rom ist „busy“, unter uns in der Kurve die kreisrunden Seen westlich von Rom, dann sind wir unten.

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Rom - nicht eingeplant

Wir müssen jetzt sehen, wie wir hier zurechtkommen. Die Passkontrolle ist kein Problem, dann langes Warten auf die Koffer. Draußen stehen Taxis, aber wir sind misstrauisch, fahren lieber mit dem Flughafenbus. Am Schalter der Touristeninformation lassen wir uns ein Hotel reservieren und nachdem wir auch einen Stadtplan haben, kann es losgehen.

An der Bushaltestelle herrscht großes Gedränge. Wir merken bald, dass die Busse hier nur sehr unregelmäßig fahren. Die „Albergo Nazionale“, unser Hotel, liegt am Montecitorio-Platz im Zentrum gleich neben dem schwer bewachten Parlament. Es ist ein altes Gebäude, von außen unansehnlich, aber innen vornehm und elegant eingerichtet. Hier kommen wir erst einmal zur Ruhe.

Am Nachmittag spazieren wir zum nahe gelegenen Trevi-Brunnen, zum Quirinalspalast, zum Forum Romanum und schließlich zum Kolosseum. Überall herrscht mörderischer Verkehr, selbst in den winzigsten Straßen drücken einen kleine Fiats an die Wand. Abends sitzen wir noch an der Piazza Colonna unter den Kolonnaden.

Gern würden wir noch bleiben, aber wenn wir am nächsten Tag nach Venedig fahren, kommen wir dort so an wie ursprünglich geplant und können das lange bestellte Hotel beziehen. So machen wir uns am Morgen auf zum Bahnhof. Es gibt einen Rapido-Zug nach Venedig und er fährt pünktlich. Fast hätten wir keinen Platz bekommen, denn man muss sich auf dem Bahnsteig eine Sitzplatzkarte holen – alles sehr umständlich und wenig verständlich.

Der Zug gleitet ruhig durch eine beschauliche Landschaft: Florenz, Berge, Grün, Burgen, Bologna, Venedig...

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Venedig - Streiflichter

Das kleine Hotel „Casanova“ liegt direkt hinter dem Markusplatz, ein paar Schritte vom Eingang zum Museo Correr. Wir haben ein Zimmer im ersten Stock, das Fenster, das wir meist zulassen, führt auf die schmale, belebte Straße. Tag und Nacht gehen Leute vorbei, wir hören Stimmen, Musik, sonstige Geräusche. Es stört uns nicht. Abends suchen wir uns ein Fischlokal etwas entfernt vom Zentrum und am Wasser. Oder wir sitzen auf dem Markusplatz, hören uns die dezente Musik der Geigenspieler an und beobachten die Porträtmaler und Kleinhändler. Tagsüber spazieren wir von Viertel zu Viertel.

Wenn man vom Platz S. Apostoli aus der Strada Nuova folgt, wo nur wenige Touristen hingehen, kommt man nach einer Weile zum Canale di Cannaregio, einem ruhigen, hübschen Viertel nicht weit vom Bahnhof. Unterwegs kleine Plätze und Kirchen – je weiter man vom Zentrum wegkommt, desto billiger werden Speisen und Getränke in den Bars und Restaurants.

Ein schmaler Durchgang führt vom Cannaregio in eine andere Welt: dicht gedrängte, hohe Häuser, die die Sonne fernhalten, Halbdunkel, seltsame Auslagen in den wenigen Geschäften, dann ein Platz: das Ghetto, dort das Museo della Communità Israelitica. Es hat eine kleine Sammlung jüdischer Altertümer und, im ersten Stock des unscheinbaren Hauses, die Scuola Grande Tedesca, eine Synagoge, die das ganze Stockwerk ausfüllt.

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Ein anderer Spaziergang führt uns von der Ponte dell'Accademia zur Kirche S. Maria della Salute. Von hier hat man den schönsten Blick auf den Markusdom. Auf der rückwärtigen Seite der Landzunge, in alten Getreidespeichern, findet gerade die Biennale statt, ein kurzer Rundgang genügt, am interessantesten sind die umgebauten Speicher selbst. Die Bleikammern im Dogenpalast. Ein schmaler, krummer Gang, Zellen, der Blick von der Seufzerbrücke. Das Museo Correr: Münzen, Waffen, Bilder und ein schöner Blick auf den Markusplatz.

Fahrten auf dem Canale Grande vorbei an Palästen, die, wenn man um sie herumgeht, keinen Anblick bieten. Aufbruch am frühen Morgen mit dem ersten Boot zum Bahnhof. Die Stadt ist noch ganz still, kaum Verkehr auf dem Wasser, die Sonne noch nicht aufgegangen.

Im Zug ein alter Mann aus Berlin auf der Rückreise. Wir unterhalten uns angeregt, während der Zug die vielen Kurven zum Brenner hinauffährt. Wir merken es kaum, aber der alte Mann wird plötzlich weiß, steht auf und ist weg. Wir laufen hinterher, da liegt er halb in der Tür, bewusstlos. Wir richten ihn auf, das Zugpersonal stellt die Klimaanlage höher, bald geht es ihm wieder besser.

Abends sind wir zu Hause. Ein paar Monate später kann ich beim Ordnungsamt meinen „verloren gegangenen“ Pass wieder abholen. Es hat keinen Haftbefehl gegeben, weil die Verletzungen nicht so schwer waren und auch keinen Prozess, weil wir ja unauffindbar waren! Ich schicke dem Anwalt kommentarlos einen Scheck und höre nie wieder von ihm. Aber wir fahren viele Jahre nicht mehr nach Griechenland.

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