DAS BLAUE LICHT

Ein Haus, rund wie eine Kaffekanne, darauf ein grünes Dach. Über dem Dach flimmerte die Luft, so heiß war der Tag. Am Brunnen aber war es angenehm kühl. Die kleine Hexe schaute versonnen in die Tiefe auf die roten Ziegelsteine, sie waren feucht und grün vom Moos. Aus den Mauerfugen wuchsen lange schwarze Wurzeln und streckten sich nach dem Wasser. Grosse Schnecken mit bunten Häusern krochen träge über die Steine. Die kleine Hexe spuckte in den Brunnen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ein leises Klatschen hörte. Die große Sehnsucht hatte sie und ein bisschen traurig war sie auch. Ganz genau wusste sie selber nicht, warum. Nun hörte man ein leises plitsch - platsch aus der Tiefe, aber diesmal waren es Tränen. Die kleine Hexe weinte. Sie bekam einen Schreck, als plötzlich jemand hinter ihr sagte: Warum weinst Du, kleine Hexe? Es war der kleine Räuber. Er hatte sich angeschlichen, weil er wissen wollte, womit die kleine Hexe am Brunnen so beschäftigt war. Weil ich hässlich bin und einen Buckel habe, hätte sie am liebsten gesagt. Aber sie schämte sich un deshalb sagte sagte sie: Das blaue Licht... Es ist meiner Großmutter in den Brunnen gefallen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Ich hätte es haben sollen, aber nun liegt es da unten und ist weg und hinüber. Was ist denn das blaue Licht? Fragte neugierig der kleine Räuber. So eine Art Feuerzeug? Ich weiß es nicht genau, sagte das Mädchen, aber es fehlt mir, das spüre ich wohl. Eine ordentliche Hexe sollte ihr blaues Licht haben. Plitsch- platsch machte es im Brunnen. Das tat dem kleinen Räuber leid. Weißt du was? Sagte er. Ich hol´ es Dir. Ich setze mich auf den Eimer, du lässt mich runter, ich schau´ mich um, suche dein Licht und dann ziehst du mich wieder hinauf. Das würdest Du machen? Sagte die kleine Hexe und schniefte hoffnungsvoll. Klar. Sagte der kleine Räuber. Kleinigkeit. Und schon saß er auf dem Eimer. Lass mich runter! Die Hexe drehte an der großen Kurbel und langsam fuhr der kleine Räuber nach unten. Oben war es brütend heiß gewesen, der Räuber fand es schön, in´ s Kühle zu fahren. Aber allmählich wurde es auch dunkel und ein bisschen unheimlich. Nach einer Weile war nur noch ganz weit oben ein heller Fleck zu sehen, der sah aus wie der Mond. Das war die Brunnenöffnung. An den Wänden des Brunnens gab es leuchtende Flecken, das waren die Schnecken. Leuchtschnecken habe ich ja noch nie gesehen, dachte der Räuber. Da gab es ein Scheppern, der Eimer mit dem kleinen Räuber war auf dem Grunde des Brunnens angekommen. Er legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Es war so dunkel, dass die Wände des Brunnens nicht zu sehen waren. Es war stockfinster da unten und es sah aus, als wäre über ihm der Nachthimmel. Die Leuchtschnecken sahen nämlich aus, wie Sterne und das helle Brunnenloch wie der Mond. Seltsam, dachte der kleine Räuber noch, hier ist ja gar kein Wasser... Im nächsten Moment kamen aus dem Dunkel drei riesengroße Wölfe gerannt, mit Augen, die rot leuchteten und gefährlichen Zähnen. Der kleine Räuber hatte gerade noch Zeit, ein Stück am Seil hochzuklettern. Die Hunde knurrten und packten das Seil mit ihren Zähnen und schüttelten es, dass der kleine Räuber weiter oben hin und her geworfen wurde. Von hier konnte er sehen, dass der eine Wolf Augen hatte, so groß wie Suppenteller, der zweite Augen, so groß wie Wagenräder. Und der dritte, der hatte sogar Augen, so groß wie Mühlsteine. Die Wölfe knurrten immer noch und zerrten am Seil. Der kleine Räuber konnte sich gerade noch festhalten, schon taten ihm die Hände weh... Zieh mich raus, rief er nach oben, schnell, kleine Hexe, zieh mich raus! Aber die Hexe konnte ihn nicht hören, er war einfach zu tief, über hundertmal hatte sie an der Kurbel gedreht. Er rief noch einmal, mit ganzer Kraft, seine Stimme schallte in der dunklen Brunnenröhre, aber nichts geschah. Das Seil war nass und glitschig, der kleine Räuber hatte keine Kraft mehr, sich festzuhalten. Er suchte im Dämmerlicht die Brunnenwand ab, nach irgendeinem Halt. Da sah er, genau vor ihm, eine Höhlenöffnung und versuchte, sich mit seinem Seil hineinzupendeln. Aber immer im letzten Moment zerrten die Hund am Seil und er war wieder zu weit entfernt. Der kleine Räuber spürte seine Finger nicht mehr, jeden Moment würde er loslassen müssen. HIIILFE, schrie er noch einmal... Da hörte er plötzlich erleichtert eine wohlbekannte Stimme, die rief: ich komme, halt aus! Ein flackernder Lichtschein erschien in der Höhle, näherte sich schnell und bevor der kleine Räuber wusste, wie ihm geschah, hatten zwei starke Hände ihn gepackt und in die Höhle gezogen. Du? Sagte der Räuber. Es war sein alter Freund, der große, starke Drachen. Ich habe dich gehört, sagte der Drachen, der Brunnen ist mit meiner Höhle verbunden. Der Drachen lächelte. Mit den Biestern ist nicht gut Kirschenessen, was? Er beugte sich nach vorn und betrachtete respektvoll die Hunde. Als die Wölfe ihn sahen, wurden sie noch wütender und versuchten, zum Höhleneingang hinaufzuspringen. Aber es war zu hoch und sie rutschten mit ihren Krallen immer wieder ab. Schließlich sahen sie ein, dass es keinen Zweck hatte und verschwanden murrend in der Dunkelheit. Siehst Du mein linkes Ohr? Fragte der Drachen den kleinen Räuber und hielt seine Fackel hoch. Dem Räuber war früher schon aufgefallen, dass das eine Drachenohr ziemlich ausgefranst war. Das waren diese Wolfsbiester, sagte der Drachen. Ich hab nämlich auch mal versucht, das blaue Licht heraufzuholen. Für die Großmutter. Sie war immer so traurig, ich konnte es nicht mehr mit ansehen. Weil ihr das blaue Licht in den Brunnen gefallen ist? Fragte der kleine Räuber. Nein, sagte der Drachen. Das ist schon der Großmutter der Großmutter in den Brunnen gefallen. Aber das sind Dinge, in die dürfen wir uns nicht einmischen, sagte der große Drache. Beinahe hätte ich mein Ohr eingebüßt. Komm, sagte der Drachen, steig auf meinen Rücken, wir gehen angeln. Der kleine Räuber stieg auf den Drachenrücken und der Drachen sauste wie der Wind durch die Höhle, bis sie beide plötzlich wieder in der warmen Sommerluft waren und der Räuber blinzeln und niesen musste, weil ihn die Sonne blendete. Aber wir müssen der Hexe noch Bescheid sagen, sagte er. Ok, sagte der Drachen. Schon flog er mit dem kleinen Räuber zum Brunnen. Von oben sahen sie die Hexe, wie sie in den Brunnen spähte. Hier bin ich, hieeeer oooben, rief der kleine Räuber. Ich hab dein blaues Licht nicht gefunden und da unten sind drei grässliche Wölfe. Sei nicht böse, wir gehen jetzt angeln! Und huiiii, waren Drachen und Räuber verschwunden. Da musste die Hexe noch mehr weinen. Ersten, weil sie sowieso traurig war. Zweitens, weil die Jungs ohne sie zum Angeln geflogen waren. Und drittens, weil sie sich schon ein bisschen an den Gedanken gewöhnt hatte, das der Räuber ihr vielleicht das blaue Licht mitbringen würde. Plitschplitsch platsch plitsch Platschplatsch machte es im Brunnen, die Tränen kullerten. Die Hexe saß am Brunnen und weinte, bis es langsam dunkel wurde. Dann stand sie plötzlich auf, putzte sich die Nase und sagte: so geht das nicht mehr weiter. Ich muss mir die drei grässlichen Wölfe wenigstens mal ansehen. Im Dunkeln fingerte sie nach ihrem Zauberstab, murmelte leise: parasolum, plop machte es und schon verwandelte er sich in einen großen Regenschirm. Sie stellte sich auf den Brunnenrand, überlegte kurz, kniff die Augen zusammen, hielt sich die Nase zu und sprang. Sanft und ganz langsam schwebte sie an ihrem Schirm in die Tiefe. Nach einer Weile machte sie die Augen wieder auf. Und staunte. Sie hatte erwartet, in einem dunklen Brunnenloch zu sein, denn oben war es ja schon dunkel. Aber an den Wänden des Brunnens tanzte ein geheimnisvolles blaues Leuchten. Je tiefer sie kam, umso heller wurde es. Wunderschön, flüsterte sie. Sie sah nach unten. Vor Überraschung hätte sie fast ihren Schirm losgelassen Unter ihr war... das Meer! Ein blaues Meer mit Wellen, von denen der Schaum spritzte. Sie kletterte schnell an ihrem Regenschirm nach oben, machte in der Luft einen kleinen Purzelbaum, der Schirm drehte sich um und platsch! Saß sie darin wie in einem Schiffchen und schaukelte auf den Wellen. Sie sah nach oben. All das Blau sah aus, wie der Himmel. Nur ganz oben, wo die Sonnen hätte sein müssen, war ein schwarzer Kreis. Wie eine Sonnenfinsternis, dachte die Hexe. Das war das Loch, durch das sie hereingekommen war. Es sah unerreichbar fern aus. Wie soll ich nur da wieder hinaufkommen, seufzte sie. Aber diese kleine Sorge war nichts gegen den Schreck, den sie im nächsten Moment bekam: Eine große Flosse zerschnitt die Wellen und kam geradewegs auf sie zu. Da! Noch eine! Und- noch eine! Hai- Hai- Haifische, stammelte die Hexe. Nun hat mein letztes Stündlein geschlagen... Drei große Flossen umkreisten ganz dicht ihren Regenschirm. Die kleine Hexe überlegte fieberhaft, welcher Zauberspruch sie retten könnte, aber es hatte keinen Zweck. Der Zauberstab war in einen Regenschirm verwandelt. Ohne ihn konnte sie nicht zaubern. Und in dem Moment, wo sie ihn zurückverwandeln würde, läge sie im Wasser als Fischfutter. Doch da sprangen die Haifische aus dem Wasser und waren- Delfine! Rief die Hexe. Und schon wieder musste sie weinen, teils aus Erleichterung, teils, weil es einfach so rührend war, zu sehen, wie die drei schönen Delfine herumtollten. Es war, als ob sie ihr zu Ehren eine Vorführung gaben, wie im Zirkus. Sie tauchten und sprangen aus dem Wasser, einer in der Mitte, einer nach links, einer nach rechts. Sie tauchten wieder und sprangen alle zugleich nach einer Seite. Dann nach der anderen. Es war, als wollten sie sagen: was ist denn, mach doch wieder mit, wo warst du, wir haben auf dich gewartet. Sie tollten noch ein bisschen herum, dann fingen sie an, immer abwechselnd, den Schirm zu stupsen und zu schieben. Der Schirm rauschte durch das Wasser, dass der Hexe die roten Haare flatterten. Hui, das ging schnell, durch die Wellen, über´ s Meer! Schon sah man den Strand. Da saß eine uralte Frau und flickt ein Netz. An dem Netz hingen blaue Glaskugeln und glitzern in dem blauen Licht, das von der alten Frau auszugehen schien. Ab und zu bückte sie sich, nahm einen blauen Kiesel, und warf ihn in die Wellen. Die Hexe sprang aus ihrem Schiffchen, verwandelte den Schirm wieder in einen Zauberstab. Scheu spähte sie zu der Frau, denn die war zwar sehr alt, aber wunderschön. Die hatte sicherlich das blaue Licht, aber warum sollte sie es so einem buckligen hässlichen kleinen Hexlein geben? Aber dann gab sich das Mädchen einen Ruck, ging zu der schönen großen Frau und fragte leise: hast du das blaue Licht? Die Frau lächelte, schlang mit einer geschickten Bewegung das Netz um zwei Pfähle. Dann hob sie die kleine Hexe an ihre Brust und legte sie ganz vorsichtig hinein, wie in eine Hängematte. Es war nur ein einfaches Netz mit großen blauen Kugeln, aber es fühlte sich so weich und warm an, wie das kuscheligste Federbettchen. Die schöne Frau schaukelte das Netz, wie eine Wiege und sagte: Willkommen... Die kleine Hexe fühlte sich schwer und schläfrig, es war, als wäre sie schon unendlich lange unterwegs gewesen und als könne sie sich nun zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich ausruhen. Schlaf´... sagte die schöne Frau. Aber... das blaue Licht... sagte die Hexe mit schläfriger Stimme. Die Frau öffnete ihre Hand, auf der ein kleines blaues Flämmchen tanzte. Dann legte sie die Hand dem Mädchen auf die Brust. Ganz warm war die Hand und wohlige Wärme durchströmte die kleine Hexe. Sie schlief ein. Sie träumte, dass sie in dem blauen Meer tanzte, das warme Wasser bis zu Bauch. Am Himmel ein Feuerwerk von blauem Licht. Sie hielt den Arm in´ s Wasser und drehte sich. Ihr Arm zog einen Schwarm von Lichtpünktchen hinter sich her, wie lauter blaue Glühwürmchen. Im selben Moment erschien am Himmel eine blaue Spirale. Es war, als ob sie mit dem Himmel und mit dem Wasser und mit dem Licht tanzte. Ihr Herz hüpfte und sie fühlte sich ganz leicht und schön. Immer übermütiger wurde ihr Tanz, sie holte weit aus mit ihrem Arm und- fiel aus der Hängematte. Sie lag in ihrem Garten, über ihr der blaue Himmel. Wunderliches Zeug habe ich geträumt, murmelte die kleine Hexe. Sie bemerkte es nicht, aber über ihr am Himmel erschien ganz langsam hinter einem schwarzen Schatten die Sonne. Sie ging zum Brunnen und sah hinein. Der Brunnen war mit Wasser gefüllt bis zum Rand. Aus der Tiefe sah sie ein Mädchen an, hübsch anzuschauen und mit langen roten Haaren. Die kleine Hexe prallte zurück, holte tief Luft und schaute noch einmal hinein. Das Mädchen blieb schön. Die kleine Hexe winkte sich zu... Da erschien neben ihrem Spiegelbild eine alte Frau und winkte zurück. Erschrocken drehte sie sich um, aber hinter ihr war niemand. Die kleine Hexe kniff ganz fest die Augen zu, machte eine Faust und öffnete ihre Hand ganz langsam wieder. Als sie ein bisschen blinzelte, konnte sie ein kleines blaues Flämmchen sehen. Schnell machte sie die Hand wieder zu, denn rauschende Flügelschläge waren zu hören. Der Drachen kam mit dem kleinen Räuber angeflogen. Na, habt ihr schön geangelt? Geangelt haben wir seeehr schön, sagte der kleine Räuber glücklich. Und wo sind die Fische? Fragte die kleine Hexe. Was für Fische? Ach so... gefangen haben wir nix. Das verstehen Frauen nicht, sagte der Drachen und lächelte über alle drei Köpfe. Macht´ s gut, ihr beiden! Und huiii, war er schon wieder weggeflogen. Guck mal, sagte die kleine Hexe und hielt dem Räuber die Hand hin. Ich seh´ nix, sagte der. Aber- ich bin schön geworden und habe keinen Buckel mehr! Der kleine Räuber sah sie an, als hätte sie Fieber. Du bist doch schon immer schön, sagte er verlegen. Er wurde ein bisschen rot. Und einen Buckel hast du auch noch nie gehabt. Willst du mich veralbern? Fragte die kleine Hexe. Sie schaute in ihre Hand: da flackerte ein kleines Flämmchen. Sie schaute in den Brunnen: da war ein schönes Mädchen. Und sie fühlte sich immer noch leicht und schön. Aber dann dachte sie, ist doch klar. Er kann das Licht nicht sehen. Ist eben ein Räuber und keine Hexe. Sie lächelte und legte ihm ihre Hand auf die Brust. Na, wie ist das? Fragte sie den Räuber. Schön, schön warm, stammelte der und guckte verwirrt. Die kleine Hexe gab ihm einen Kuss, ließ ihn vorläufig stehen und hüpfte glücklich nach Hause.