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Wilxen - ein Dorf vor den Toren von Breslau
und eine Patengemeinde der Stadt Pattensen
Am 10. Juni 1946 (Pfingstmontag) hält ein Zug auf dem Bahnhof Springe in
Niedersachsen. Ihm entsteigen 209 Vertriebene aus dem schlesischen Dorf
Wilxen, das jetzt Wilkszyn heißt. Ihre einzige, noch verbliebene Habe besteht
aus dem, was sie tragen können.
Vier Tage zuvor, am 6. Juni, sind sie am
Bahnhof Stephansdorf bei Neumarkt in Güterwaggons verladen worden, ohne
Nahrung und ohne Wasser. Der Zug bestand aus 53 Waggons. In jeden Waggon
kamen ca. 34 Personen, insgesamt 1767 Einwohner aus dem Kreis Neumarkt in
Schlesien. Zu jener Zeit geht täglich, vom 1. bis 11. Juni, so ein Zug mit
Vertriebenen vom Bahnhof Stephansdorf ab, insgesamt 18.864 deutsche
Staatsangehörige aus dem Kreis Neumarkt.
Im Durchgangslager Uelzen erhalten
sie wieder etwas zu essen, werden entlaust, registriert und nach kurzem
Aufenthalt zu ihren Bestimmungsorten in Niedersachsen weitergeleitet. Die 209
Wilxener werden von Springe aus auf den Ostteil des damaligen Kreises Springe
verteilt, mit Schwerpunkten in Springe (27), in Bennigsen (39), Gestorf (36)
und vor allem in Pattensen (72).
Am selben Pfingstmontag 1946 stehen 175
Vertriebene aus Schreibersdorf, dem Nachbarort von Wilxen, auf dem Bahnhof
Bad Münder/Stadt im damaligen Kreis Springe und werden von dort auf die
Dörfer zwischen Süntel und Deister verteilt.
Ankunft in Springe
Diese Ereignisse vom Sommer 1946 haben eine Vorgeschichte von etwa 770
Jahren:
Anno Domini 1175 unterzeichnete Boleslaus I. der Lange (Boleslaw Wysoki),
Herzog von Schlesien aus dem polnischen Geschlecht der Piasten, auf der
Gröditzburg bei Goldberg die Stiftungsurkunde für das Zisterzienserkloster
Leubus an der Oder. Zu den umfangreichen Schenkungen an das Kloster mit den
grauen Mönchen, die der Herzog aus Pforta an der Saale geholt hatte, gehörte
auch lt. Fundationsurkunde das kleine polnische Dorf Wiltsin in der Breslauer
Gegend.
Von der Anfang des 13. Jahrhunderts einsetzenden Besiedlung
Schlesiens mit deutschen und flämisch-wallonischen Bauern, Handwerkern und
Bürgern durch Herzog Heinrich I. (Sohn des Boleslaus) und seiner Gemahlin
Hedwig von Andechs blieb das kleine Dorf Wilczin etwa 100 Jahre lang
unberührt. Erst am Anfang des 14. Jahrhunderts, während der dritten und
letzten Siedlungsperiode, wurde das slawische Dorf vom Kloster Leubus mit
deutschen Bauern aufgesiedelt und vom Herzog mit deutschem Recht
ausgestattet. Das Kloster als Grundherr war hauptsächlich an rationeller und
effektiver Bewirtschaftung der Dorfflur mit modernen Agrarmethoden
interessiert, so wie auf seinem in der Nähe von Wilczin in der Oderniederung
gelegenen Eigengut Ellende (später Trautensee).
In einer Urkunde vom 10. Juni 1320
nahm Herzog Heinrich VI. von Breslau die Bauern von Wilksin gegen 12
Mark Silber in böhmischen Groschen nach polnischer Zahl, die sie ihm statt
aller Lasten und Dienste jährlich als ewigen Erbzins zahlen sollten, zu
seiner Kammer und in seinen besonderen Schutz. Für jede Hufe Land war eine
halbe Mark Silber zu zahlen, also nach polnischer Zahl 24 böhmische Groschen.
1335 wurde erstmals eine Kirche für Wilxen erwähnt, und zwar im Dezemregister
des päpstlichen Nuntius Galhardus. Im selben Jahr fiel Schlesien an das
Königreich Böhmen und wurde damit auch Teil des römisch-deutschen
Kaiserreiches. Aus dem "Landbuch für das Fürstentum Breslau" Kaiser Karls IV.
von 1353: Wilkxin hat 30 Hufen, davon hat der Pfarrer 2, der Schulze 4, die
zinspflichtigen Bauern 24.
1428 unternahmen die böhmischen Hussiten einen Raubzug durch Schlesien;
Wilxen, Schreibersdorf und Elend wurden teilweise verbrannt und völlig
ausgeplündert.
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts hatte sich für den Ort der
Name Wilxen durchgesetzt.
1526 fiel Böhmen - und damit auch Schlesien - an
das Haus Habsburg. Wilxen wurde also für gut 200 Jahre österreichisch.
Kurz darauf, etwa um 1530, kam die Reformation auch in Wilxen an, und der Ort mit
seiner alten Kirche wurde für ca. 120 Jahre evangelisch. Die Söldnerheere der
Sachsen, Schweden und des Kaisers sowie die Pest wüteten im Dreißigjährigen
Krieg auch in Wilxen und Umgebung. Noch lange nach dem Krieg sind nur 19 von
ehemals 30 Hufen unter dem Pflug.
Die katholischen Habsburger führten 1654
die Gegenreformation in Schlesien durch. Auch den Wilxener Protestanten wurde
die Kirche genommen und ein katholischer Geistlicher eingesetzt. Als 1721 die
neue Kirche St. Laurentii in Wilxen vom Kloster gebaut wird, sind zwar immer
noch ca. 75% der Wilxener evangelisch, aber im Laufe der nächsten 100 Jahre
wurde Wilxen schließlich zu 90% katholisch.
1740 wurde Schlesien preußisch für die nächsten 205 Jahre. Eine Schule wird
erstmals 1770 für Wilxen erwähnt. 1795 hatte Wilxen 370 Einwohner, Elend
hatte 16.
Im Jahre 1810 wurden die Klöster und Stifte in Preußen aufgehoben und die
Klostergüter vom preußischen Staat eingezogen. Durch diese Säkularisation
endete auch die 635jährige Grundherrschaft von Kloster Leubus über Wilxen.
Wobei man anmerken muss, dass die Bewohner von Wilxen unter der Herrschaft
des Klosters mehr Eigenständigkeit und relativ größere Freiheiten besaßen als
die Bewohner vieler schlesischer Dörfer, die unter der Grundherrschaft eines
- meist adligen - Gutsherren standen. Die Abgaben und Dienste der Bauern
wurden in den folgenden Jahren durch Einmalzahlungen abgelöst. Das Dominium
Elend wurde vom Staat verpachtet; 1872 erhielt es den poetischen Namen
Trautensee.
Durch Ab- und Auswanderung schwankte die Einwohnerzahl von Wilxen im 19.
Jahrhundert zwischen 400 und 600. Erst nach dem Ersten Weltkrieg stieg sie
weiter an und erreichte 1940 die Zahl von 883 (mit dem inzwischen
eingemeindeten Trautensee), bei einer Gemarkungsgröße von 836 ha. Die
Bewohner waren beschäftigt in der Landwirtschaft, im Handwerk, im Baugewerbe,
bei der Reichsbahn und in Fabriken der Breslauer Vororte. Überhaupt waren die
Wilxener in allen Belangen stärker nach Breslau orientiert als zu ihrer
Kreisstadt Neumarkt.
Das Näherrücken der Ostfront Anfang 1945 kündigte das Ende des deutschen
Dorfes Wilxen an. Einige Wilxener Familien hatten am 26. Januar die Flucht in
Richtung Westen angetreten, von denen wenige nach Kriegsende in das Dorf
zurückkehrten, in dem inzwischen die Einwohner schwer unter den Besatzern
litten. Am 15. Februar 1945 war Wilxen von der Roten Armee besetzt worden und
damit bald darauf auch der Kessel um Breslau geschlossen. Bereits die
verlustreichen Kampfhandlungen um den Brückenkopf bei Peiskerwitz, als auch
der Endkampf um die Festung Breslau hatten für die Wilxener böse
Auswirkungen. Überfälle, Plünderungen, Verschleppungen und kurzzeitige
Vertreibungen, Verwüstungen der Häuser, Hunger und Krankheiten machten das
Leben zur Hölle.
Im Spätsommer brach in Wilxen auch noch Typhus aus und
forderte etwa 75 Todesopfer. An vielen Häusern hingen gelbe Lappen. Der Ort
glich einem Geisterdorf.
Zusammen mit anderen Zivilopfern und den etwa 80
gefallenen oder vermissten Soldaten hatte Wilxen fast 20% seiner Einwohner
durch diesen mörderischen Krieg verloren. Und mit den Vertreibungen 1946/47
verloren die überlebenden Einwohner endgültig ihr Hab und Gut und ihre Heimat
Wilxen ...
Wilxen im Winter
Seit Anfang der fünfziger Jahre trafen sich die Wilxener jährlich im
Ratskeller in Pattensen, initiiert durch Günter Gimmler. 1955 beauftragten
dann die Wilxener ihren Vorsitzenden Franz Klinner, Ratsherr in Pattensen,
bei der Stadt einen Antrag auf Übernahme der Patenschaft zu stellen. In
seiner Sitzung vom 12. Januar 1956 beschloss der Rat der Stadt Pattensen, die
Patenschaft für die Gemeinde Wilxen, Kreis Neumarkt (Schlesien) zu
übernehmen.
Die Stadt Pattensen hat diese Patenschaft über all die Jahre bis
heute verantwortungsbewusst gepflegt. Zu allen Treffen, die immer im
Ratskeller stattfanden, erschien der Bürgermeister oder ein
Ortsbürgermeister, um die Teilnehmer aus Wilxen und Schreibersdorf herzlich
zu begrüßen.
Seit 1985 führt nun Rudolf Bleisch den Vorsitz im Heimatverein
Wilxen-Schreibersdorf. Zu dem Treffen im Jahre 2001 legte Marianne Thiemann,
geb. Stoller, eine Chronik des Dorfes Wilxen vor, deren 180 Exemplare leider
schon vergriffen sind. Auch zum Treffen 2007 erstellte Familie Thiemann eine
Gedenkschrift zu "50 Jahre Patenschaft Pattensen-Wilxen" und "60 Jahre
Vertreibung aus der Heimat Schlesien" (ebenfalls vergriffen).
In den letzten Jahrzehnten finden die Treffen alle 2 Jahre statt, jeweils in
den ungeraden Jahren am Pfingstsonnabend mit etwa 70 bis 80 Teilnehmern, wie
immer im Ratskeller in Pattensen. (Aktueller Nachtrag: Mittlerweile sind
die Treffen jährlich am ersten Samstag im September, siehe auch Seite Aktuelles)
Der Vorstand 2003
Günter Thiemann, im September 2008
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