Ein Irrtum
1. Die Sonne Ist kalt Und hat ätzende Schwarze Strahlen
Die fressen ein Loch In die Nacht Die den Erdball umhüllt
Durch dieses Loch Dringt Wärme Und Licht aus dem Himmel
Das Loch gilt Als leuchtende Sonne Die Sonne Als Mond
2. Wer die helle Sonne genießt Der weiß Das Leben ist gütig
Die Natur will den Tod nicht Es gibt keinen Grund Zur Verzweiflung
Das Gute muss siegen Von selbst Und die Angst ist sinnlos
Nur eine Krankheit Nur Schwäche In uns Nichts weiter
Fragen
Wie groß ist dein Leben? Wie tief? Was kostet es dich? Bis wann zahlst du? Wieviel Türen hat es? Wie oft Hast du ein neues begonnen?
Warst du schon einmal Gezwungen um es zu laufen? Wenn ja Bist du rundherum gelaufen Im Kreis oder hast du Die Einbuchtungen mitgelaufen? Was dachtest du dir dabei?
Woran erkanntest du Dass du ganz herum warst? Bist du mehrmals gelaufen? War das dritte Mal Wie das zweite?
Würdest du lieber Die Strecke mit dem Wagen fahren? Oder gefahren werden? In welche Richtung? Von wem?
Medusa
Tot die Titanen Kein Gedanke an Hilfe Zu spät Kein Wille Kein Unwille Raum ohne Sinn Entzaubert
Leer Sie will nicht mehr helfen Sie will nicht mehr rächen Sie will nicht mehr denken Sie starrt
Kein Augenzauber Nur ihr Starren Macht starr Und steinern Kein böser Blick Stark wie der Leere Blick
Wer sie Aufwecken kann Zur Wut Der bleibt leben Der ist vor ihr sicher
Wenn sie Wieder Tod bringen Will verliert sie Die tödliche Kraft
Vorahnung des Endsiegs
Sisyphos Staubig Und satt Vom Mehl Seines Steines Hat Angst: Der Stein Nützt sich ab
Die Sinnlosigkeit Der ewige Verfluchte Sinn seiner Arbeit Selber Vom Fluch geschlagen
Kleiner Dem schwindenden Stein gleich Das Mitleid der Schatten Das ihm Kraft Zur Ohnmacht gegeben hat
Bald rollt er Ein Kiesel Am geschundenen Steilhang Was bleibt?
Nichts als Qual Seine Qual Überlebt zu haben
Artfremd
Nach dem Regen Fielen vom Himmel Die Hände Klatschten aufs Pflaster Und spreizten ihre gebrochenen Finger
Unsere Füße kommen Und treten auf sie Und weichen nicht aus Denn es sind Hände Nicht Füße
Erhaltung der Materie
Jeden Morgen Werde ich einbalsamiert
Der Mund wird ausgespült Mit scharfen Essenzen
Die Träume werden vergessen Die Haare gekämmt
Die Zähne geputzt Die Augen weiter geöffnet
Im Spiegel vor dem Rasieren Wird tief eingeatmet
Nach dem Rasieren Wird die Gesichtshaut verjüngt
Mit Spiritus Und das Haar mit einem Zerstäuber
Mut wird gefasst Etwas warmes kommt in den Magen
Dann zerfalle ich weiter Dem nächsten Morgen entgegen
Tote lebende Bilder
Statische Schwerter Und dennoch nicht mehr zu halten
Arme Stunde der Welt Der man Schwerter vorhält
Arme Welt Der so die Stunde verhalten wird
Und wie verhält es sich Mit den Haltern der Schwerter
Und mit den immer noch vielen Die sich an sie halten?
Solange einer der Schwerter hält Noch geehrt wird
Und mehr noch einer Der redet vom Halten der Schwerter
Deren Stunde geschlagen hat Außer in deutschen Reimen
Bleibt eure Dichtung Rüstkammer Klanglos verrostender Klingen
Zwischen euch und die Zukunft gehalten Zwischen euch und ehrliche Worte
Zwischen euch und das Leben Als unbelehrbares Dennoch
Das klirrt durch gezählte Stunden Der ungehaltenen Welt
Laura Ridings Geschichte
In einem Buch Wie keinem anderen Buch Wiegt sich der Segen In der Wiege zum Fluch
Aber der Fluch Deckt den Schaukeltisch für den Segen Auf den sich als Tisch Fallende Falter legen
Tod und Leben Ein Zwilling der sich verlor Um eine Säule Die ist ihr Wendeltor
Dem Tod nach dem Leben nach Aber ein Keines weiß Die Richtung ist hingerichtet Im richtigen Kreis
Denn die Betten gehen zu Tisch Und die Tische zu Bett Das Grammophon spielt Schach Das Dominospiel spielt Roulette
Der Wind erleidet sein Wehen Ein Stein wirft einen Stein Die Mischung kann keiner verstehen Außer er mischt sich ein
Humorlos
Die Jungen Werfen Aus Spaß Mit Steinen Nach Fröschen
Die Frösche Sterben Im Ernst
Erweisung der letzten Ehre
Die besseren Leute Schicken nur ihre Taschentücher
Um Diener gehängt Oder auf leichten Gestellen
Die Hüte nehmen sich ab Die schwarzen Handschuhen beten
Und aus den Handschuhen kriechen Die Taschentücher
Die schnäuzen sich laut Und machen sich tränennass
Aber die Köpfe und Bäuche Und zarten Geschlechtsorgane
Bleiben zu Haus im Bett Und spielen Leichenschmaus
Unrein
Von achtzehn Planeten Die diesmal geglüht werden sollten Musste einer zurückgestellt werden In seiner Bahn
Er war zwar entlebt entmeert Und einigermaßen entgast Aber noch blutig Da stinkt sonst der ganze Himmel
Wir spielen Frieden
1. der das Spiel ausgedacht hat läuft hin und her Er ist ein Bombenflugzeug Die er anspuckt sind tot
Die anderen müssen sich Die Augen zuhalten Und die Ohren gegen die Schreie Der Angespuckten
2. wenn sich die Angespuckten zu wehren beginnen fordert das Bombenflugzeug die anderen auf sie festzuhalten im Interesse des Friedens
Das Spiel ist aus Wenn die anderen das nicht mehr tun
3. Tags darauf kommt der Spieler Mit einem wirklichen Flugzeug Nun spielt er nur Anspucken Aber mit Bomben und Feuer das haftet
Die Regeln sind schon bekannt Das Spiel geht los
Zwei schreien
Der Eine wird angehört Der Andere nicht
Dem Einen beschwichtigt man Man beginnt mit ihm zu diskutieren Der Andere schreit noch immer Man geht zu ihm hin und lächelt
Man fragt durch ein Sprachrohr: "Warum reißen Sie dauernd den Mund auf?" Er schreit: "Das hört ihr doch alle!" Man erwidert: "Wir hören kein Wort."
Er schreit noch immer Man bringt ihm den Einen hin Der nicht mehr schreit Nur noch den Mund auf- und zuklappt
Man ruft dem Anderen zu: "Hören Sie: So muss man schreien! Das hört jeder von uns! Das rüttelt uns alle auf!"
Sie führen den Einen fort Der Andere schreit noch immer Die Straße wird abgeriegelt Dass keiner ihn hört
Sie bringen ihm eine Zeitung Mit seinem Bild Darunter die Zeilen: "Unser lautloser Maulaufsperrer"
Er versucht noch lauter zu schreien Er fällt um und ist tot Der Eine wird beauftragt Die Leichenrede zu flüstern
Bücherei
Wenn alle Bücher hier Einander gelesen haben
Beschließen sie schließlich Die Abschaffung des Menschen
Aber das viele Lesen Zerstört die Tatkraft
Sie schreiben daher darüber Nur einige Bücher
Welche zu weiterem Pflichtstoff Der Menschheit werden
Ohne dessen Beherrschung Die Abschaffung leichtfertig bleibt
Schlaglicht
Abraham Opferte seinen Sohn Isaak Da brach aus dem Busch ein Widder Und leckte das Blut auf
Und die Sonne Verklärte das rote Messer So hatten Licht und Schönheit Wieder gesiegt
So ein Sieg Wird auch unser Leben werden Auf den Stufen Unserer Wandeltreue
Und ich freue mich Atemlos wie als Kind Vor dem Erwachen Eines schreienden Traumes
Aufzählung zum Abzählen
Nagemensch Raubmensch Beutelmensch Stadtmensch Landmensch
Wassermensch Luftmensch Säugemensch Mastmensch Schlachtmensch
Übermensch Untermensch Mittelmensch Zweckmensch Geldmensch
Halbmensch Doppelmensch Vollmensch Hohlmensch Normalmensch
Hausmensch Höhlenmensch Uhrmensch Stundenmensch Tagmensch
Vormensch Nachmensch Mitmensch Hauptmensch Nebenmensch Unmensch
Futurum exactum
Die letzte Zeit die ich lernte als Kind war die Vorzukunft
ich weiß noch ich verstand nicht wieso hieß sie Zukunft
Sogar Die Vorvergangenheit Klang nicht halb so Vergangen
Die Vorzukunft Hörte sich immer passiv an Auch die Tätigkeitsform Wie eine Form des Erleidens
Ich hatte Angst vor ihr Denn ich konnte sie nicht verstehen Ich sagte sie mir vor Um mich an sie zu gewöhnen
Ich sagte laut Ohne mich sicher zu fühlen Ich werde gelebt haben Ich werde gegangen sein
Alter Schulweg
Auf dieser Straße Wo sie laut drohten Jahre bevor sie kamen WARTE NUR Habe ich nicht gewartet
Auf dieser Straße Droht das Vergangene lautlos Jahre nachdem es verging WARTE NUR Und ich warte
Nachruf auf die Schreier
Was hast du getan? Ich habe sie schreien lassen
Was haben die anderen getan? Ihnen Das Maul gestopft
Was haben sie geschrien? Sie haben Um Hilfe geschrien
Um Hilfe für wen? Ich glaube manchmal Für mich
Taktfrage
Im Haus Des Gehenkten Darf Man Vom Strick Nicht Reden Weil Jetzt Sein Henker Dort Im Ruhestand Lebt
Fortschritt
Nach neunzehn Jahrhunderten Wurde in Rom verkündet Dass Israel nicht Kollektivschuld Am Tode Christi trägt
Nun werden auch Die toten Juden erklären: Wir wurden niemals erschlagen Von Christenhand
Verwandlung
Aus meinen Mädchen Werden langsam in drei bis vier Wochen Oder schnell über Nacht Meine Tanten und alten Kusinen
Ich sehe sie ängstlich kauen An ihren falschen Gebissen Und mit Gischtfingern trocknen Ihr angespucktes Gesicht
Sie kommen mit Koffern und Bündeln In Theresienstadt an Sie fallen aus dem Fenster Und tappen dabei nach der Brille
Wenn sie sich räkeln im Bett Versuchen sie strammzustehen Und verschont zu werden Bei der Aussonderung der Kranken
Ich sehe sie bläulich verfärbt Wenn ich sie morgens küsse Je sechs gestapelt Mit Gartenschläuchen gereinigt
Von Kot und erbrochenem Schleim Bereit zum Transport Aus der Gaskammer In den Verbrennungsofen
Masada
Töpfe Gekittet Aus unsterblichen Scherben
Eine Sandale Ein Lederbeutel mit Salz Ärmlicher Halsschmuck
Reste von Feigen Getreide Verfärbte Schriftpergamenten
Am modernsten Die Kinderknochen Und Schädel dazwischen
Zöpfe Noch nicht einmal grau Mit etwas Kopfhaut
Nicht tausendneunhundert Jahre Nur zwanzig Jahre Nur Auschwitz
Der Querulant
Fraglos Quaerens heißt fragend Doch ob ein Kopf Der immerfort Fragen stellt Ein Querkopf ist Das ist die Frage
Und wenn man ihn Fragwürdig nennt Ob das dann heißt Er ist würdig zu fragen Oder würdig Gefragt zu werden?
Höre, Israel
Als wir verfolgt wurden War ich einer von euch Wie kann ich das bleiben Wenn ihr Verfolger werdet?
Eure Sehnsucht war Wie die anderen Völker zu werden Die euch mordeten Nun seid ihr geworden wie sie
Ihr habt überlebt Die zu euch grausam waren Lebt ihre Grausamkeit In euch jetzt weiter?
Den Geschlagenen habt ihr befohlen: "Zieht eure Schuhe aus" Wie den Sündenbock habt ihr sie In die Wüste getrieben
In die große Moschee des Todes Deren Sandalen Sand sind Doch sie nahmen die Sünde nicht an Die ihr ihnen auflegen wolltet
Der Eindruck der nackten Füße Im Wüstensand Überdauert die Spur Eurer Bomben und Panzer
Schwächer
Sie werden wieder stärker Wer denn? Sie
Wer sollen sie sein? Sie sollen nicht sein Sie sind nur
Stärker als wer? Als du Vielleicht bald als viele
Was wollen sie? Zunächst Wieder stärker werden
Warum sagst du das alles? Weil ich es Noch sagen kann
Das kann dir doch schaden? Gewiß Denn sie werden stärker
Woher weißt du das? Aus deinen Worten Dass es mir schaden kann
Im Frieden
"Schwere Zeiten" sagte das Blei zum Studenten
"Wie sich's trifft" sagte das Blut zum Stein
"Ohne Sorge" sagte die Ruhe zur Ordnung
"In Gottes Namen" sagen die Träger zum Sarg
Der Weg ins Idyll
Ich habe eine sehr gute Eigenschaft Man könnte sie nennen meine innere Ruhe Je ärger die Zeiten Desto friedlicher wird es in mir
Vor Jahren als manches erst drohte Was jetzt geschieht Nahm ich Anteil an allem Diskutierte und protestierte
Ich sammelte Unterschriften Ich unterschrieb sogar selber Und verbrachte halbe Nächte aufgeregt ohne Schlaf
Doch seit es schlimmer wird Hilft mir Mein Humor meine gute Natur
Ich erfahre von fernen Bomben Von nahenden schlechten Gesetzen Und freue mich meines Gartens oder höre gute Musik
Je trüber der Alltag Desto stiller sind meine Freuden Der Zwist der Weltsysteme berührt nicht mein Haus
So halte ich meinen Frieden Ich schädige keinen Menschen Und finde dabei die Ruhe Die jedermanns Recht ist
Wenn mein Glück vollkommen sein wird Ein stilles harmloses Lächeln Dann mag die Bombe fallen Mein Haus ist bestellt
Kind in Peru
Weil es den Kopf schiefhält Weil es nicht schreit Weil es stinkt Weil es zu schwach ist Um leben zu bleiben Soll auch die Ordnung Die daran schuld ist Nicht leben bleiben
Weil es den Kopf schiefhält Sind eure Erklärungen schief Weil es nicht schreit Könnt ihr es nicht niederschreien Weil es stinkt Stinkt eure ganze Ordnung Zu stark um leben zu bleiben Zum Himmel in den es nicht kommt
Frage in einigen Ländern
Wenn einer Ein Staatsmann vielleicht Oder Herr eines großen Konzerns Weniger mächtig wäre Als er im Augenblick ist
Dabei aber alles sagte Was er Auch jetzt sagt Und alles was er jetzt tun will Zu tun versuchte
Wie würde die Regierung Die Presse Der einfache Mann Dann von ihm sprechen Und sich zu ihm verhalten?
Taten
Es riecht verbrannt Auch wenn man nicht weiß was verbrennt Wonach wird die Freiheit riechen Die so geschützt wird?
Wie wird sie von oben aussehen Oder von innen Oder von hinten In zehn oder zwanzig Jahren?
Wie wird man den Kindern erklären Dass damals Einer Bäume vergiften ließ Und Kinder verbrannte?
Und was werden Die Geschichtsbücher sagen Nach seinem Tod? Mit wem vergleicht man ihn dann?
Annehmbare Annahmen
Angenommen du hast nur einen Albtraum In dem du erfährst dass mächtige Männer im Land Mörder sind und Verschworene von Mördern Die einen aus ihrem Kreis der weniger arg war Ermordeten mitten im Land Und dazu noch zwei bis drei Duzend Mitwisser oder Zeugen Um weitermorden zu können Ungestört auch jenseits der Landesgrenzen Was tust du in diesem Traum Um den Mördern das Handwerk zu legen? Kannst du allein etwas tun oder kannst du genug Helfer finden oder auch nur genug Menschen die dir das glauben Oder auch nur Die es wagen sich selbst zu fragen Ob sie wagen so etwas zu glauben? Oder sagen sie "Du träumst denn das gibt es gar nicht Und auch wenn es das gäbe: was regst du dich so auf? Glaubst du in anderen Ländern wird nicht gemordet? Und überhaupt: das Töten gehört zum Leben Auch ein Mörder ist schließlich ein Mensch Mit menschlichen Stärken und Schwächen Zu denen gehört dass er es krumm nehmen könnte Wenn man sich aufregt über das was er tut"? Und nun zuletzt nimm noch an Du träumst dass du aufwachst Und die Augen reibst und fragst wo du bist Und ob du geschlafen hast Unter Mördern und ihren Opfern Oder ob du nur geträumt hast Und wenn es ein Traum war Ob sie aufgehört haben Mörder zu sein Weil du aufgehört hast von ihnen zu träumen
Gespräch über Bäume
Seit der Gärtner die Zweige gestutzt hat Sind meine Äpfel größer Aber die Blätter des Birnbaums Sind krank. Sie rollen sich ein
In Vietnam sind die Bäume entlaubt
Meine Kinder sind alle gesund Doch mein jüngerer Sohn macht mir Sorgen Er hat sich nicht eingelebt In der neuen Schule
In Vietnam sind die Kinder tot
Mein Dach ist gut repariert Man muss nur noch die Fensterrahmen Abbrennen und streichen. Die Feuerversicherungsprämie Ist wegen der steigenden Häuserpreise erhöht
In Vietnam sind die Häuser Ruinen
Was ist das für ein langweiliger Patron? Wovon man auch redet Er kommt auf Vietnam zu sprechen! Man muss einem Ruhe gönnen in dieser Welt:
In Vietnam haben viele schon Ruhe Ihr gönnt sie ihnen
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