Zitator 2
[Wissenschaftler]
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[mit Hall] »Musik wird als angenehm empfunden. Musik muß manchmal laut sein, um ihre Wirkung zu entfalten.«
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Zuspiel 1 0’45
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Michael Iber:
Montage
aus
(a) Jean-Féry Rebel, »Le Cahos« aus »Les Elémens« [0’34]
Musica Antiqua Köln, Ltg. Reinhard Goebel
und
(b) Masami Akita, »Yahowa Stackridge« [0’11]
zeitkratzer-Ensemble 1999
[1955233/W01 resp. LC 08864 Tourette (noch ohne Nr.)]
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Moderator
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[ab ca. 0’25 bis 0’33 über Montage:]
Noise.
Die Geschichte des Lärms in der Musik.
Ein akustischer Streifzug von Michael Iber
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Sprecher
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»Noise«, »bruit«, »rumore« – das Angelsächsische und die romanischen Sprachen haben für die deutschen Wörter »Geräusch«, »Lärm« und »Rauschen« nur einen Begriff. Während aber laut Brockhaus das Geräusch »ein Schallereignis ohne definierte Tonhöhe und Klangfarbe, hervorgerufen durch nicht-periodische Druckschwankungen« ist, versteht man, nach derselben Quelle, unter Lärm
einen »beliebigen Schall, der geeignet ist, Menschen gesundheitlich zu beeinträchtigen oder zu belästigen, Sachen zu beschädigen oder wirtschaftliche Nachteile zu verursachen«.
Das Wort »Lärm« leitet sich von »Alarm«, genauer: vom italienischen »all’arme« – »zu den Waffen« – ab, kommt demzufolge aus der Welt des Militärs. Erfolgt ist da der Ruf zu den Waffen in
der Regel wohl weniger durch das Verursachen irgendwelchen Lärms als vielmehr durch Trompeten- oder ähnliche Signale, er war also im weitesten Sinne selber bereits musikalisch.
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Zuspiel 2 1’35
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Jean-Féry Rebel:
»Les Elémens«
– 1. Satz (»Le Cahos«) / Anfang
Musica Antiqua Köln
Ltg. Reinhard Goebel
[19-55233/W01]
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Sprecher
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Die Darstellung des Chaos, wie es der Schöpfung vorausgeht, war für einen Komponisten von jeher eine besondere Herausforderung. Konnte er doch dabei die Grenzen des Geschmacks und des Stils überschreiten. Wie
radikal das eben gehörte, 1737 entstandene Stück des Franzosen Jean-Féry Rebel aber zu seiner Zeit gewirkt haben muß, sei durch einen Vergleich mit der entsprechenden Szenerie in Joseph Haydns Schöpfung angedeutet, die erst sechs Jahrzehnte später komponiert wurde.
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Zuspiel 3 1’40
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Joseph Haydn:
»Die Schöpfung«
– Introduktion / Anfang (T.1-19)
Wiener Symphoniker
Ltg. Nikolaus Harnoncourt
[336-0641]
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Sprecher
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Für Haydn bedeutet Chaos Suche nach einer Tonart. Als wollte er Wagnersche Auflösungsbestrebungen vorwegnehmen, läßt er chromatische Melodielinien orientierungslos durch den Raum
kreisen. Rebels Chaos ist dagegen eine komplexe, dichte Textur, aus der sich eine thematische Linie herauskristallisiert. Ein ähnliches Verfahren der Motiventwicklung benutzte Ludwig van Beethoven zu Anfang
seiner 9. Sinfonie.
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Zuspiel 4 0’55
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Ludwig van Beethoven:
Sinfonie Nr. 9 d-moll op. 125
– 1. Satz / Anfang
SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg
Ltg. Michael Gielen
[350-0066]
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Sprecher
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Zur Beethoven-Zeit allemal war das Interesse an einem effektvollen Instrumentarium durchaus an der Tagesordnung. So wurde etwa das Klangspektrum des Klaviers um allerlei Effekte wie Glocken- und Beckenzüge
erweitert, deren Möglichkeiten sich – wie die der aufkommenden automatischen Musikinstrumente – in der populären Musik damals einiger Beliebtheit erfreuten. Der Einsatz von Kanonen aber in dem Programm-Opus Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria war doch reichlich spektakulär. Beethoven zeichnet in seinem in kommerzieller Hinsicht erfolgreichsten Werk den Sieg Wellingtons über Napoleon nach.
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Zuspiel 5 1’55
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Ludwig van Beethoven:
»Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria« op. 91
– 1. Teil: Schlacht / Ausschnitt
London Symphony Orchestra
Ltg. Antal Doráti
[320-0583/100]
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Sprecher
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Mit seinem »Futuristischen Manifest« rief der italienische Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti 1909 zu einer das Maschinenzeitalter samt Gewalt und Krieg verherrlichenden Kunst auf. In seinem Gefolge
forderte Luigi Russolo wenig später mit seiner Programmschrift der Geräuschkunst, »L’arte dei rumori«, eine Musik, die den Veränderungen der Zivilisation durch die Industrialisierung Rechnung tragen soll:
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Zitator
[Luigi Russolo]
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[über Musik] »Die Vergangenheit war eine einzige Stille. Im 19. Jahrhundert entstand mit der Erfindung der Maschinen das Geräusch. Heute herrscht das Geräusch unumschränkt über die menschliche Empfindung.
Über viele Jahrhunderte hinweg verlief das Leben in aller Stille oder zumindest in leisen und gedämpften Tönen. Die stärksten Geräusche, die diese Stille durchdrangen, waren weder dicht
noch anhaltend noch schwankend. Die Natur – läßt man die außergewöhnlichen tellurischen Beben, die Orkane, Stürme, Lawinen und Wasserfälle außer Betracht – (die Natur) ist still.«
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Sprecher
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Russolo beruft sich für seine Geräuschkunst auf die Evolution der Musikgeschichte. In der Entwicklung von einzelnen Tönen zu Melodien, schließlich (zunächst konsonanten, zunehmend aber
dissonanten) Akkorden seien die Geräusche eine logische Konsequenz:
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Zitator
[Luigi Russolo]
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[über Musik] »Die musikalische Entwicklung verläuft parallel zum Anwachsen der Maschinen, die überall mit dem Menschen zusammenarbeiten. Die Maschine hat heute nicht nur in der tosenden Atmosphäre der Großstädte, sondern auch auf dem bis vor kurzem üblicherweise noch ruhigen Land eine solche Vielzahl und eine derartige Anhäufung von Geräuschen hervorgebracht, daß der reine Ton in seiner Spärlichkeit und Eintönigkeit nirgendwo mehr Gefühlsregungen hervorruft.«
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Sprecher
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Zur Geräuscherzeugung konstruierte Russolo ein eigenes Instrumentarium, sogenannte Geräuschintonatoren, mit denen er in ganz Europa herumreiste. Hören wir etwas weiter noch in Luigi
Russolos Risveglio di una città (»Erwachen einer Stadt«) hinein.
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Zuspiel 6 2’10
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Luigi Russolo:
»Risveglio di una città« (1913) / Ausschnitte
[CD zum Buch: Luigi Russolo, Die Kunst der Geräusche, Verlag Schott Musik International, 2000]
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Sprecher
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Die Integration von Geräuschen in die traditionelle Instrumentalwelt betrieb zur selben Zeit der Franzose Edgard Varèse, dessen hervorstechendes Vermögen es war, Knut Franke zufolge, nicht nur »höchst aktuellen
Lärm zu machen, sondern ihn zu organisieren«. Varèse setzt in seiner 1930 komponierten Ionisation »neue« Instrumente wie zum Beispiel Sirenen nicht etwa tonmalerisch oder programmatisch ein, sondern als Klangfarben in einem abstrakt-musikalischen Kontext.
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Zuspiel 7 0’55
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Edgard Varèse:
»Ionisation« (1930)
New Yorker Philhamoniker
Ltg. Pierre Boulez
[336-4812/001]
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Sprecher
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Pierre Schaeffer und sein Kollege Pierre Henry waren die ersten, die Ende der 1940er Jahre systematisch das Tonband dem Komponieren nutzbar machten. Die vor allem von ihnen, dann von John Cage und Iannis Xenakis entwickelten Verfahren, Tonbänder zu zerschneiden, die Schnipsel zu kopieren und neu anzuordnen, lassen sich heute leichter und perfekter – man nennt das inzwischen Sampling und Sequenzing – mit jeder Audiosoftware am Computer realisieren. Die Aufführung der Tonbandkomposition Orphée 53 von Schaeffer und Henry während der Donaueschinger Musiktage 1953 stieß bei Publikum und Kritik auf heftigsten Widerstand.
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Zuspiel 8 2’50
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Pierre Schaeffer / Pierre Henry:
»Orphée 53«
Groupe de recherches musicales
Ltg. François Bayle, Jean Schwarz
[336-7534/001]
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Sprecher
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John Cage nun aber fand auf dem Weg über das Geräusch zu einer neuen Perspektive von Stille. Nach der Uraufführung seiner Komposition 4‘33”, die für eben diese Dauer einen Pianisten auf die Bühne schickt,
ohne daß er auch nur einen einzigen Ton zu spielen hätte, äußerte er:
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Zitator
[John Cage]
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»Die meisten Leute haben das Wesentliche nicht begriffen. Es gibt keine Stille. Das, was man bei meinem Stück als Stille empfand, war voller zufälliger Geräusche – die Zuschauer begriffen es nicht, weil sie kein Gehör dafür hatten. Während des ersten Satzes konnte man draußen den Wind heulen hören. Im zweiten Satz prasselte der Regen aufs Dach, und während des dritten machte das Publikum allerhand interessante Geräusche, indem man sich unterhielt oder hinausging.«
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Sprecher
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Cage lenkt die Aufmerksamkeit auf das Selbstverständliche: für ihn entsteht Musik im Wahrnehmen der eigenen Umgebung.
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Zitator
[John Cage]
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Heute sieht man in unserer Gesellschaft viele Menschen, die sich auf der Straße, in Bussen usw. fortbewegen und dabei Kopfhörer tragen, so daß sie ihre Umwelt nicht hören können. Sie hören die Musik, die sie sich ausgesucht haben. [Musik
unter Text setzt ein] Ich begreife nicht, wieso sie sich so reichhaltigen Erfahrungen verschließen, die noch dazu gratis sind. Ich glaube, da draußen entsteht Musik, die – ich halte das für ziemlich wahrscheinlich – beim Ansammeln von Musikkonserven zerstört wird.«
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Sprecher
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[fortgesetzt über Musik] In seiner Cartridge Music von 1960 »vergrößert« Cage die klingenden Eigenschaften eines – von den Spielern frei bestimmbaren – Sammelsuriums von Gegenständen, die sie auf die zu jener Zeit noch recht robusten Tonabnehmer von Plattenspielern (auf englisch »cartridges«) schrauben und dann verstärken sollen.
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Zuspiel 9 1’55
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John Cage:
»Cartridge Music« (1960) / Ausschnitt
Mario Bertoncini
[LC 08864 Edition RZ 1002]
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Sprecher
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Von den Geräuschen zurück zum Lärm. Lärm ist Schalldruck. Lärm kann, muß aber nicht, aus Geräuschen bestehen. Die den Lärm messende Einheit »Dezibel« ist in ihrer Skala nach unten am gerade noch Wahrnehmbaren und
nach oben an der Schmerzgrenze orientiert. Die Schädlichkeit von Lärm hängt stark vom subjektiven Befinden des Rezipienten ab. Eine große Lautstärke in einem Rockkonzert kann unter Umständen weniger schädlich sein als wesentlich leisere Störgeräusche am Arbeitsplatz.
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Zitator 2
[Wissenschaftler]
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[mit Hall] »Der Schallpegel fast aller Musikinstrumente liegt im gehörschädigenden Bereich von über 85 dB. Mit der Trompete und dem Schlagzeug können Spitzenwerte von 120 dB erreicht werden.«
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Sprecher
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Das Hören, überhaupt die körperliche Aufnahme von lautem Schall wirkt sich direkt auf den Blutdruck und die Körpertemperatur aus. Lärm erzeugt Stress, also Adrenalinschübe, und kann –
besonders in Verbindung mit exzessivem Tanzen – zu tranceartigen Zuständen durch die Ausschüttung körpereigener Endorphine führen. Allemal ist die Rezeption von Lärm oder lauter Musik eine körperliche Erfahrung.
Ein frühes Beispiel dafür ist die Totenmesse, die Hector Berlioz für die Trauerfeier des Generals Charles de Darémont im Pariser Invalidendom 1837 komponierte. In der Kuppel des
Doms postierte Berlioz eine zusätzliche, 64 Musiker beschäftigende Bläser- und Schlagzeuggruppe, darunter allein 16 Pauken, die zusammen mit dem Hauptorchester den Weltuntergang vorstellen sollten. Während der
ersten Aufführung erlitten etliche der 250 Choristinnen einen Nervenzusammenbruch.
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Zuspiel 10 3’00
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Hector Berlioz:
»Grande Messe des Morts« (Requiem) op. 5
– Dies Irae / Ausschnitt
Choeurs de Radio France
Orchestre National de France und Orchestre Philhamonique
Ltg. Leonard Bernstein
[16-05102]
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Sprecher
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Wenn es laut zugeht, werden die euphorischen und ekstatischen Wirkungen von Musik verstärkt. Die nach immer mehr Expressivität verlangende Epoche der Romantik führte nicht nur zu einem immer dichteren,
auflösungsbedürftigen Netz von Spannungen, sondern auch zu einer Erweiterung des Orchesterappartes. Wer jemals eine Symphonie Anton Bruckners oder Gustav Mahlers in unmittelbarer Nähe des Orchesters erlebt hat,
weiß, wie Klang sich ›anfühlt‹, wie er den ganzen Körper zum Mitschwingen bringen kann.
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Zuspiel 11 2’10
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Gustav Mahler:
Sinfonie Nr. 6 a-moll
– 4. Satz / Ausschnitt
Wiener Philharmoniker
Ltg. Leonard Bernstein
[19-07713/W01]
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Sprecher
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Will man nun die Orchesterausbrüche bei Bruckner als hymnisch, bei Mahler als ekstatisch und Igor Strawinsky als den bezeichnen, der das Kultische in die Orchestermusik eingeführt hat, dann gehört Wolfgang Rihm ans Ende dieser Ahnenreihe. »Der Klang kocht und stößt«, beschreibt Rihm die massiven Ausbrüche seiner Tutuguri-Tänze.
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Zuspiel 12 1’30
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Wolfgang Rihm:
»Schwarzer und Roter Tanz« (aus »Tutuguri«) / Ausschnitt
Badische Staatskapelle
Ltg. Günter Neuhold
[19-39223/005]
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Sprecher
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Der Grieche Jani Christou, beeinflußt von Ludwig Wittgenstein und Carl Gustav Jung, erfand eine, wie er sie nennt, »Metapraxis« der Ausführenden, um in neue Bewußtseinszustände vorzudringen.
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Zitator
[Jani Christou]
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»Jede Handlung, die vom Künstler eine Überschreitung der allgemeingültigen Logik eines Mediums fordert, fordert von ihm auch eine Überschreitung der Logik seiner üblichen
Handlungsweisen. Solch eine Handlung ist eine ›metapraxis‹ und bewußt ›nichtcharakteristisch‹. Umgekehrt ist eine Handlung, die der allgemeinen Logik des jeweiligen Mediums entspricht, eine ›praxis‹, insofern
sie bewußt ›charakteristisch‹ ist.«
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Sprecher
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In der Realität eines Christou-Stückes sieht das folgendermaßen aus:
[Über Musik] Anaparástasis III »The Pianist« beginnt aus dem Nichts. Die Bühne ist dunkel, im Hintergrund, gerade noch hörbar, ein Loop, eine sich wiederholende Tonbandschleife, deren Geräusch entfernt an das mediterrane Zirpen von Grillen erinnert und, wie der Musikwissenschaftler Klaus Angermann bemerkt, die Stille mit Energie auflädt. Der Pianist tritt auf, das heißt, er tritt eigentlich nicht auf: der ihn verfolgende Lichtstrahl trifft ihn, wie er sich kaum merklich in Richtung Klavier bewegt. Er ist vollkommen apathisch. Derweil nimmt das Hintergrundgeräusch an Lautstärke zu. Ein im Dunkeln agierendes Ensemble fällt immer wieder mit unkoordinierten Tönen, lautem Geschrei, Pfeifen und Trampeln ein und kommentiert analog zum Chor der antiken Tragödie die Situation. Die Spannung wächst, als der Pianist nach etlichen Minuten endlich sein Instrument erreicht hat und beginnt, es erst argwöhnisch, dann zunehmend liebevoll zu betrachten, zu berühren, zu streicheln. Schließlich steht er Aug in Aug dem Publikum gegenüber, das er mit hilflosen Gesten zu dirigieren beginnt. Klaus Angermann beschreibt:
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Zitator
[Klaus Angermann]
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[fortgesetzt über Musik] »Auf diesem dynamischen Höhepunkt ist offenbar nichts mehr ›in Ordnung‹; nicht nur jegliche musikalische Struktur scheint außer Kraft gesetzt, auch die Institution Musik wird in Frage gestellt, indem die Ausführenden Aktionen vollführen, die normalerweise nicht zu ihrem Aufgabenbereich gehören oder diese in geradezu absurder Weise leerlaufen lassen. Exaltierte Schreie, zweckfremde Behandlung der Instrumente und unlogische szenische Vorgänge signalisieren, daß wir uns nicht mehr innerhalb der Musik befinden. In diesen Momenten verzichtet der Komponist auf die genaue Kontrolle der ablaufenden Ereignisse und definiert lediglich Dichte und Gesamtcharakter der betreffenden Passage; alles übrige ist der Eigenverantwortung der Interpreten anheimgestellt. Nach dem Zusammenbruch im Chaos kehrt die Musik wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück, und es wird klar, daß sich der gesamte Vorgang zum Zyklus schließt, der sich immer wiederholt.«
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Zuspiel 13 3’50
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Jani Christou:
»Anaparastasis III ›The Pianist‹«
Michael Iber, Pianist
mit Ensemble, Ltg. Reinhold Friedl
Privataufnahme (Mitschnitt Sculptura Münster, 1997)
(unter Text sehr leise beginnen und nach und nach steigern)
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Sprecher
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Die Geschichte des Lärms in der Musik ist zugleich die Geschichte der Musik jenseits der Grenzen von »Ernst« und »Unterhaltung«. Schallwellen erzielen ihre Wirkung ungeachtet
struktureller und formaler Kriterien. Sie sind, wie noch zu erörtern sein wird, das kollektive Unterbewußte der Musik.
Lautstärke, große Lautstärke, bedeutet einerseits Euphorie, andererseits Schrei nach Aufmerksamkeit. Lautstärke wird da wichtig, wo Worte und Argumente nichts mehr ausrichten. Lautstärke
ist – wie schon das Alte Testament mit den Posaunen von Jericho demonstrierte – auch Zerstörung.
Der Geiger Yehudi Menuhin über seine Erfahrungen in einem Rockkonzert:
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Zitator
[Yehudi Menuhin]
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»Die Musik – wenn man das überhaupt so bezeichnen kann – war eine Tortur und darauf angelegt, die Sinne zu beherrschen. Ich war entschlossen, das nicht zuzulassen und mir selbst treu zu
bleiben. Die Alternative wäre gewesen, sich wie alle anderen Zuhörer hinreißen zu lassen. Die Lautstärke war überwältigend. Als ich den Konzertsaal verließ, war die Stimmung des Publikums am Rande der Hysterie.
Da ich die Zeit der Nürnberger Parteitage noch erlebt habe, verabscheue ich den Pöbel. Ich war entsetzt, zu sehen, wie diese Masse von jungen Leuten jede Geste der Gruppe auf der Bühne imitierte und sich nicht
der Tatsache bewußt war, daß ihre Sinne und Gefühle für rein kommerzielle Zwecke mißbraucht wurden. Ich hatte das erschreckende Empfinden, daß diese Menschen jedes Gefühl für Proportionen verloren hatten und
jetzt willenlos manipuliert werden konnten. Was mich am meisten erschreckte war dieser Zwang zur ›Gleichschaltung‹.«
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Sprecher
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Von dieser Veranstaltung aber ließ sich Menuhin seinen Respekt gegenüber authentischer nicht-kommerzieller Rockmusik nicht nehmen.
Für den weiteren Verlauf der Geschichte des Lärms nun nimmt neben Frank Zappa und Captain Beefheart vor allem eine Person eine entscheidende Vorbildposition ein: Jimi Hendrix. Er
entwickelte das Spiel mit der Rückkopplung zwischen Gitarre und Verstärker zu einer instrumentaltechnischen Kunst. Sein Star Spangled Banner auf dem Woodstock-Festival 1969 wurde zu einem politischen Statement gegen die amerikanische Vietnam-Politik, indem er es mit Kriegs-Imitationen zersetzte.
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Zuspiel 14 3’30
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John Stafford Smith / Francis Scott Key / Jimi Hendrix:
»A Star Spangled Banner«
Jimi Hendrix, E-Gitarre mit Ensemble
Live in Woodstock 1969
[333-3754/012]
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Sprecher
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Seit den 1960er Jahren gibt es in der Rockmusik eine Tendenz, die man als »Trash« zusammenfassen kann. Die entsprechenden Gruppen verfügen über wenig instrumentale Fähigkeiten (oder tun zumindest so) und
produzieren eine Klangqualität, die im ›Low-Tech‹-Bereich liegt. Zu dieser Strömung gehört, neben dem erwähnten Captain Beefheart, in den 70er Jahren vor allem der Punk. In der Punk-Nachfolge steht Sonic
Youth, über die es in der Zeitung Die Welt hieß:
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Zitator
[Fernando
Offermann]
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»Die Musik wandert auf einem wundersamen Weg zwischen Kult, Kommerz und Schund. Das Handwerk nimmt das Quartett durchaus ernst. Das Schlagzeug kann Spannung erzeugen und leise bleiben.
Die Gitarren streben nach Bandbreiten und Stimmungsschwankungen. Und bei all den Klangkaskaden bleibt die Bühnenpräsenz erhaben, wenn nicht gerade der Punk posiert wird. Die Musiker spielen bisweilen mit den
Stilmitteln der Minimalisten: verzerrte Gitarrenklänge formen dann feinmaschige Netze. Doch bislang ist bei Sonic Youth noch nie etwas in Schönheit gestorben, denn zum Schluß darf nichts mehr glitzern.«
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Sprecher
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Mit dem Chicagoer Jim O’Rourke produzierte Sonic Youth 1998 eine Serie von CDs, für die sie neben eigenen Stücken auch solche von John Cage, Morton Feldman und Christian Wolff einspielten.
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Zuspiel 15 2’10
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Jim O’Rourke / Sonic Youth:
»Radio-Amatoroj« / Ausschnitt
[SYR 3 (Syr Pob 6179 Hoboken NJ 07030)]
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Sprecher
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Durch Independent-Bands wie Sonic Youth – Independent heißt, daß eine Gruppe nicht bei einer führenden Plattenfirma unter Vertrag steht – sowie durch die kommerzielle Technobewegung mag, wenn auch nicht auf die von ihm erhoffte Weise, die Prophezeiung Arnold Schönbergs in Erfüllung gegangen sein, daß einmal eine Zeit kommen werde, in der man die atonale Musik hört wie einst die tonale. Der Musiksoziologe Ulf Poschardt dazu in seinem Buch DJ-Culture:
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Zitator
[Ulf Poschardt]
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»Techno macht das Rauschen zum Normalzustand. Jede Form von Nichtmusik kann von dieser Musik geschluckt werden. Techno verschiebt die Grenze zwischen Lärm und Musik ins unendliche Nichts
der Nicht-mehr-Wahrnehmbarkeit. Kein Kreischen, Schreien, Beepen und Fiepen ist entsetzlich genug, um nicht von Techno gerettet zu werden und als Sample in die minimalistische Ordnung eines
Vierviertel-House-Beats integriert zu werden.«
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Sprecher
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Am vorläufigen Ende der Geschichte des Lärms steht die »noise music«. Masami Akita, besser bekannt unter dem Namen seines Langzeitprojekts MERZBOW, ist der vielleicht konsequenteste Vertreter dieser Musikrichtung. Nicht nur seinen Projektnamen leitet er vom Merzbau des Surrealisten Kurt Schwitters ab.
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Zitator
[Masami Akita]
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[über Musik] »Ich wollte echte surrealistische Musik komponieren. Surrealismus erreicht das Unterbewußte. Lärm ist das primitive und kollektive Bewußtsein der Musik.
Meine ursprüngliche Motivation, Klänge zu erzeugen war eine Anti-Benutzung von elektronischen Geräten wie kaputten Kassettenrecordern, Gitarren und Verstärkern usw. Ich dachte, ich
könnte den Geräten eine geheime Stimme entlocken, wenn ich die Kontrolle verlöre. Dieser Klang ist das Unterbewußtsein, die Libido der Geräte.«
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Zuspiel 16 2’05
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Masami Akita:
»Yahowa Stackridge« (1999)
Masami Akita, zeitkratzer-Ensemble 1999
[LC 08864 Tourette (noch ohne Nr.)]
(unter Text leise beginnen und steigern)
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Zitator
[Masami Akita]
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»Für mich ist Lärm die erotischste Form von Klang. Deshalb haben alle meine Werke einen erotischen Bezug.«
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Sprecher
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Der 1956 in Japan geborene Masami Akita, der an der Universität Tamagawa Malerei und Kunstgeschichte studierte, verweist auf Parallelen seines Werkes zum Sado-Masochismus. Verstehen kann
man beides so recht nur, wenn man es tatsächlich erfahren hat. Seine Musik besteht aus einer großflächigen, changierenden Textur, wie es sich schon in Rebels Les Cahos eingangs unserer Sendung angedeutet und in Atmosphères von György Ligeti fortgesetzt findet. In Masami Akitas Kompositionen kommt noch der Aspekt des Lärms, also des Schalldrucks hinzu.
Daß der süchtig machen kann, zeigt jene Anekdote, die Ulf Poschardt erzählt:
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Zitator
[Ulf Poschardt]
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»Gene Hester, ein 19jähriger Jugendlicher aus LA, ist im Besitz der mächtigsten Subwoofer-Anlage, die jemals in den USA in einen PKW eingebaut wurde. Er hat 24 Lautsprecher, drei
Verstärker mit jeweils 800 Watt, angetrieben von 4 Autobatterien. Im Frühjahr 1996 wurde Hester verhaftet, als er am Ventura Boulevard die Subwoofer-Boxen voll aufgedreht hatte und dabei die Frontscheibe
zersprungen war. Wenn Hester mit aufgedrehter Anlage durch die Straßen fährt, springen hintereinander – ausgelöst durch die heftigen Schallwellen – die Alarmanlagen der geparkten Autos an. Außerdem stören die
Soundwellen den Fernsehempfang der Anwohner.
Gene Hester nennt sich einen Bass-Head, einen Baß-Süchtigen. Seinen Spaß beschreibt er wie folgt: ›Ich höre alles. Ich vertiefe mich in den Sound, erlausche mir kleine Details, spüre
noch unbekannte Schwingungen auf, lasse mich so treiben, mein ganzer Körper schwingt mit, ich spüre die Reibung auf der Haut, unter dem Arsch, und ich unterscheide Rhythmusmuster. Und dabei kann ich sogar meine
Nervenstränge fühlen. Ich erlebe mehr als die anderen. Das ist so etwas wie ein Wahrnehmungsabenteuer.‹«
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Zitator 2
[Wissenschaftler]
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[mit Hall] »Ein Spezialgeschäft für DJ-, für Disc Jockey-Bedarf hatte vor einiger Zeit sogenannte »Brustbeinhörer« im Sortiment, kopfhörerähnliche Geräte, die auf dem Solar Plexus zur unmittelbar körperlichen Schallaufnahme angelegt werden.«
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Zitator
[Dror Feiler]
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»Wenn Intellekt auf den manischen Raver trifft, entsteht eine neue Musik mit einer neuen Dimension des Denkens und Fühlens. Noise im weitesten Sinne ist ein zentrales Element meiner Musik. Die aufgeschliffene Rauhheit der Musik dient dazu, Hörgewohnheiten zu verändern. Außerhalb seines gewöhnlichen Umfelds konfrontiert, berührt und verändert Noise. Meine Musik ist schwierig in dem Sinne, wie Adorno Schönbergs Musik für schwierig hält. Nicht weil sie prätentiös oder obskur wäre, sondern weil sie eine aktive Teilnahme des Zuhörers erfordert.«
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Sprecher
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Der israelisch-schwedische Komponist Dror Feiler ist einer der wenigen, die gleichermaßen in der freien Improvisationsszene wie in der Welt der europäischen Festivals für Neue Musik zu
Hause sind. Mit haarsträubend schwierigen Partituren versucht er, klassisch ausgebildeten Orchestermusikern das Engagement abzuverlangen, das seine eigenen Saxophon-Improvisationen auszeichnet. Für ihn ist, wie
für Jani Christou und Masami Akita, Noise eine Metasprache, Metamusik. Noise kann niemals, sagt er, zu einer Hintergrundmusik werden, der Zuhörer kann nicht »weghören« oder sich ihm entziehen. Noise trifft den Hörer direkt und fordert ihn zu einer Auseinandersetzung mit der Musik, mit sich selbst und mit seinen Gefühlen heraus. Noise, demnach, ist dionysisch, unkontrolliert und ekstatisch, während die leise, die Ohren öffnende Musik von John Cage etwa eher apollinische Züge trägt.
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Zuspiel 17 2’45
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Dror Feiler:
»Extension du domaine de la lutte« (1999) / Anfang
Dror Feiler, zeitkratzer-Ensemble 1999
[LC 08864 Tourette (noch iohne Nr.)]
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