Ist’s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode

Das St. Galler Versicherungsgericht hat vor ein paar Monaten im Rahmen des Urteils IV 2020/209 ein Glanzstück einer stringenten Beweisführung vorgelegt, welches ich speziell den Jurist·innen unter meinen Leser·innen nicht vorenthalten möchte. Für eine bessere Lesbarkeit habe ich den Text in Absätze unterteilt und Hervorhebungen vorgenommen.

Die Beschwerdeführerin hat die Auftragserteilung an die ABI GmbH akzeptiert. Ihre Eingaben an die Beschwerdegegnerin und an das Ver­sicherungsgericht enthalten zwar verschiedene pauschale Einwendungen gegen die ABI GmbH, aber diese Vorbringen zielen nicht darauf ab, eine Befangenheit der Sachverständigen der ABI GmbH im vorliegenden konkreten Einzelfall zu belegen, sondern sie sollen offenbar nur dazu dienen, generelle Zweifel an der Zuverlässigkeit eines Gutachtens der ABI GmbH zu wecken.

Die Kernbegründung lautet, die ABI GmbH sei befangen, weil sie wirtschaftlich von den IV-Stellen abhängig sei. Das genügt allerdings nicht für den Nachweis einer (generellen) Befangenheit der ABI GmbH. Die IV-Stellen sind verpflichtet, das geltende Recht objektiv und unparteiisch anzuwenden, weshalb sie von Gesetzes wegen daran interessiert sein müssen, möglichst objektive und überzeugend begründete Gutachten zu erhalten. Will eine MEDAS möglichst viele Aufträge von den IV-Stellen erhalten, muss sie also sorgfältige Gutachten erstellen, was augenscheinlich nicht nur im Interesse der IV-Stellen, sondern auch im Interesse der Versicherten ist. Mit unsorgfältigen, tendenziösen oder „versichertenfeindlichen“ Gutachten würde eine MEDAS einer IV-Stelle einen Bärendienst erweisen, da ein solches Gutachten keine taugliche Beweisgrundlage darstellen würde und sich die IV-Stelle folglich gezwungen sähe, eine Begutachtung durch eine andere MEDAS in Auftrag zu geben.

Die wirtschaftliche Abhängigkeit der MEDAS von den IV-Stellen würde also nur dann eine Befangenheit der Sachverständigen zulasten der Versicherten bewirken, wenn auch die IV-Stellen befangen, das heisst nicht an der objektiven Rechtsanwendung, sondern an der Einsparung von Rentenausgaben interessiert wären. Eine solche generelle Befangenheit aller IV-Stellen könnte aber nur vorliegen, wenn dies von der Aufsichtsbehörde toleriert würde, womit auch diese dem Anschein nach befangen wäre.

Wenn also behauptet wird, dass eine MEDAS befangen sei, weil sie wirtschaftlich von den IV-Stellen abhängig ist, schlösse das notwendigerweise auch eine Befangenheit sämtlicher IV-Stellen und des Bundesamtes für Sozialversicherungen mit ein. Tatsächlich ist aber eine solche umfassende und systematische Befangenheit des gesamten Verwaltungsapparates der Invalidenversicherung nicht ersichtlich, weshalb der Vorwurf, die ABI GmbH sei befangen, weil sie so viele Aufträge von den IV-Stellen erhalte, haltlos ist.

Die Behauptung der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin, der Zufallsmechanismus über die Plattform „SuisseMED@P“ werde unterlaufen, ist ebenso haltlos. Das Zufallsprinzip leistet nämlich entgegen anderslautender Behauptungen keinen Beitrag zur Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit der Sachverständigen, weil die IV-Stellen nicht befangen sind und weil folglich auch die wirtschaftliche Abhängigkeit einer MEDAS von den IV-Stellen keine Befangenheit der Sachverständigen begründen kann.

Selbst wenn die IV-Stellen befangen wären, würde der Zufallsmechanismus keine Abhilfe leisten, da die begrenzte Zahl von MEDAS, die eine Tarifvereinbarung mit dem Bundesamt für Sozialversicherung geschlossen haben, ihre Gutachten in jedem Fall für eine befangene IV-Stelle erstellen würden, ob ihnen der Auftrag nun „zufällig“ oder gezielt zugeteilt würde. Zusammenfassend besteht keine Veranlassung, den beiden Gutachten der ABI GmbH ungeachtet ihres Inhaltes den Beweiswert abzusprechen.

IV 2020/209 bestätigt durch BGE 9C_40/2022

Ich weiss nicht, wie es Ihnen nach dieser trümligen Argumentation geht, aber meiner bescheidenen Meinung nach hat das Versicherungsgericht St. Gallen mit dieser famosen Leistung eindeutig den goldenen Zirkelschluss verdient.

Ich lasse diese juristische Glanzleistung jetzt erst mal auf die Leserschaft wirken, bevor ich dazu später einige Ausführungen anfüge.

Kritik an der Kritik an IV-Gutachten

Die «Schweizer Versicherung» ist laut deren Eigendeklaration «eine monatliche Fachzeitschrift für Versicherungsfachleute,  Spezialisten der beruflichen Vorsorge und Vermögensanlage sowie Investitionsverantwortliche von Pensionskassen und an Personalverantwortliche in Unternehmen».

In der Ausgabe vom 30.12.2010 äussert sich David Weiss* arrogant bis herablassend zum Rechtsgutachten über die parteiische Gutachterpraxis der IV von Staatsrechtsprofessor Jörg Paul Müller:

«(…)Schliesslich müsste die medizinische Fehleinschätzung auch noch so verpackt werden, dass selbst fachkundige Mediziner die Manipulation nicht als solche entlarven können.»

Ich bin mir sicher, Herr Weiss weiss ganz genau, dass vor (Bundes-)Gericht den MEDAS/ABI-Gutachten regelmässig absoluter Beweiswert zugestanden, den Gutachten des behandelnden Arztes jedoch ebenso regelmässig «Voreinge-nommenheit» unterstellt wird. An welche Instanz soll sich also jemand genau wenden, um allfällige «Manipulationen» zu entlarven?

Und weiter:

«(…)Berechtigte und konstruktive Kritik, die dazu anregt, etablierte Abklärungsabläufe zu überdenken, ist in sich ständig verbessernden Organisationen willkommen. Das Parteigutachten leistet dazu keinen Beitrag und birgt die Gefahr in sich, einen Vertrauens- und Akzeptanzverlust der Gutachterstellen zu bewirken.»

Den Vertrauens- und Akzeptanzverlust der Gutachterstellen haben diese und deren Auftraggeberin die Invalidenversicherung sich aber mal ganz schön selbst zuzuschreiben. Insbesondere wenn Gutachterinstitute wie das ABI in Basel nachweislich über Jahre hinweg Gutachten zu Gunsten der IV abänderten, und trotzdem weiterhin Gutachteraufträge der IV bekommen.

Ganzer Artikel: «Unter Dauerbeschuss» (in absolut unzumutbarem Layout).

* David Weiss ist Jurist und Direktionsmitglied bei den Zürich Versicherungen und Lobbyist in der Berner Wandelhalle (Gästeausweis für das Bundeshaus durch SVP-Nationalrat Christian Miesch).

ABI änderte nachweislich Gutachten ab und erhält weiter Aufträge der IV

Das Bundesverwaltungsgericht kommt zum Schluss, dass der Leiter des (grössten!) ärztlichen Begutachtungsinstituts ABI in Basel eigenmächtig Gutachten externer Fachleute abgeändert hat. Die Richter erwähnen auch, dass dies «eine offenbar seit 2003 bestehende Praxis» war, die selbst von ABI-Ärzten kritisiert wurde».

Auch das Verwaltungsgericht St. Gallen rügte die Praxis des ABI: «Ganz entschieden muss missbilligt werden, wenn eigen­mächtig an Arbeitsfähigkeits­schätzungen von Teilgutachten herumkorrigiert wird», schreibt das Gericht. Das ABI-Gutachten sei «mangelhaft», der Begutachtungsablauf «grob fehlerhaft».

Doch nach wie vor erhält das ABI Aufträge von der IV. Kurz nachdem die Vorwürfe bekanntgeworden sind, habe das zuständige Bun­des­amt beim ABI interveniert: «Das ABI hat daraufhin seine Praxis umgehend geändert», teilt das Departement des Innern mit. (Quelle: Beobachter)

Abgesehen davon, dass es eine Ungeheuerlichkeit ist, dass ein solches Institut weiterhin Aufträge von der IV bekommt, fallen zwei weitere Dinge unter den Tisch: das Institut hat Geld verdient mit gefälschten Gutachten – Geld, dass hunderten kranken und behinderten Menschen berechtigterweise zustehen würde, WENN sie nicht vom ABI in voller Absicht um ihre Rente gebracht worden wären. (Da das ABI das grösste Gutachterinstitut ist, erscheint dann die um 40% reduzierte Neurentenquote seit 2003 auch nochmal in einem ganz speziellen Licht). Und das einzige, was dem Departement Burkhalter dazu einfällt, ist, an das ABI weiterhin jährlich 500-600 Gutachteraufträge zu vergeben mit der lakonischen Begründung: «Das ABI habe seine Praxis geändert».

Treffender wäre wohl: Wir machen den Bock zum Gärtner. (Wenn Kahlschlag äh Frass gewünscht ist wie bei der IV, macht das Ganze dann auch wieder Sinn – auf eine irgendwie verdrehte Weise)

Ärztegutachten: Im Zweifel gegen den Patienten

Der Kassensturz berichtet über die zweifelhafte Gutachterpraxis der vom BSV nach wie vor stur als «unabhängig» bezeichneten Gutachterinstitute. Die «Kassensturz»-Recherchen beweisen: Ein grosses Institut (das ABI in Basel) hat Gutachten abgeändert: zu Ungunsten der Patienten.

Kassensturz Beitrag vom 20. April 2010 ansehen

siehe auch: Schweizer IV-Verfahren verstösst gegen EMRK (Rechtsgutachten von Staatsrechtsprofessor Jörg Paul Müller)

und: Behindertenverbände kritisieren in Positionspapier Gutachterpraxis der IV

Bereits 2006 berichtete der Kassensturz über patientenfeindliche Gutachten des ABI.

Daraufhin reichte Pascale Bruderer im Nationalrat die Interpellation «Qualität von ärztlichen Gutachten für die Invalidenversicherung» ein.

Und keinen interessierts. Und das BSV präsentiert Jahr für Jahr voller Stolz die stetig sinkenden Zahlen bei den NeurentnerInnen.