Hans-Michael Herzog (Hg.)

Jürgen Klauke „PROSECURITAS“

Kunsthalle Bielefeld, 1994, Cantz



HANS-MICHAEL HERZOG
„DEN TOD BEWEGEN UND DAS LEBEN GEFRIEREN“ *
„PROSECURITAS<< – DAS INNENLEBEN DER DINGE“ **


Je unsicherer die Zeiten, desto ausgeprägter das Streben nach Sicherheit. Wir suchen uns nach Kräften in allen Lebensbereichen für bzw. gegen alle Eventualitäten zu sichern. Hierzu dienen Versicherungen, mündliche wie schriftliche, vor allem aber die institutionellen Versicherer, die uns gegen (fast) alle Unbill des Lebens zu versichern trachten. Sicherheitsdenken ist statisch. Die Erlangung respektive Bewahrung von Sicherheit nimmt uns unser Leben lang gefangen; materielle Sicherheit verspricht Wohlergehen. Selbst unsere große Unsicherheit gegenüber dem Tod versuchen wir abzusichern, indem wir eine Todes-Versicherung abschließen, die wir Lebensversicherung nennen, um selbst dem Tod noch ein Schnippchen zu schlagen – wir machen ihn zu einem spekulationsreifen Objekt.
Doch erweist sich immer wieder aufs neue die Verbrüchlichkeit von vermeintlicher Sicherheit, nicht nur am Schicksal von Organisationen wie der rumänischen „Securitate“ oder der „Staatssicherheit“. Bedenken wir, dass alles Streben nach Sicherheit einem Gefühl der Unsicherheit entspringt, daß die Unsicherheit ihrerseits eine Schwester der Angst und dass die Angst selten der beste Ratgeber ist, kommen wir unweigerlich zu dem Schluß, die scheinbar so positive Qualität der Sicherheit nachdrücklich in Frage zu stellen.
Angst vor dem Alleinsein mündet in die Sicherheit einer Beziehung; gegen die Angst vor dem nicht mehr Sein und vor der Auslöschung wappnen wir uns mit Religionen und mit sinnstiftenden Tätigkeiten wie den berühmten drei: sich reproduzieren, einen Baum pflanzen und ein Buch schreiben. Mundtücher sichern den Touristen in der Dritten Welt vor schädlichen Keimen, Kondome geben uns beim Geschlechtsverkehr ein Gefühl der Sicherheit („safer sex“), Armeen sichern ganze Völker vor möglichen Feinden. So umgeben wir uns mit einem sicherheitstechnischen Kordon und zwängen uns in einen Panzer, der unsre Bewegungsfreiheit zusehends einschränkt. Selbst wenn alle sicherheitstechnischen Voraussetzungen erfüllt scheinen, vermögen wir nicht so recht glücklich zu werden, denn allein der Gedanke an das mögliche Versagen dieser Ausrüstung schmälert diejenigen Freuden, derentwegen wir glauben, uns so reichlich sichern zu müssen.
Sicherheitsdenken bietet vor allem aber Schutz vor uns selbst, unseren Gefühlen und Leidenschaften; es entbindet uns des Problems, Freiheit zu erkennen, zu wählen und zu gestalten. Sich einlassen könnte schließlich Verlust von „Sicherheit“ bedeuten …
Klauke thematisiert die existentielle Unsicherheit des Menschen, das „Geworfensein“, und weiß, dass die eigentliche Sicherheit nicht auf einer materiellen Basis beruhen kann, sondern sich nur mühevoll anzueignen ist, indem man sich auf das Leben einlässt.

Hilflos, wie ein auf dem Rücken liegender Käfer, der vergebens mit seinen Beinen strampelt, präsentiert sich Klauke in seiner „SELBSTFINDUNG“ (Abb. S. 68, 69). Eingeweihte können den Künstler allenfalls an seinen Schuhen erkennen; die von den Röntgenstrahlen bloßgelegten Schenkel- und Schädelknochen tragen keine erkennbaren individuellen Merkmale.
Das Subjekt Jürgen Klauke ist reduziert auf sein von Fleisch und Kleidung umhülltes Knochengerüst. Hierdurch erfährt es eine Anonymisierung und damit eine Objektivierung, die ihm eine allgemeingültige Bedeutung verleiht. Klauke bedient sich seiner individuellen Erscheinung, um ein überindividuelles Bild des Menschen zu entwerfen, eines Menschen, der schicksalhaft in eine Situation geworfen ist, aus welcher er sich (wenn überhaupt) wohl nur mit Mühe befreien kann – in diesem Falle „verstrickt“ in unerklärte kleine technische Gegenstände wie Metallklammern und kleine Rädchen, die sich an (oder gar in?) seinem Körper befinden. Eine bandähnliche Klammer am Hals ließe eine Schlinge assoziieren, zwei sehr dunkle, vertikale Formelemente erwecken kriegerische Konnotationen, evozieren aufgepflanzte Bajonette oder Gewehre (zu welchen wiederum die wie kleine Spielzeug-Jagdbomber wirkenden metallischen Klammern passten …). Doch sollte sich der – ohnehin allzu sehr zum gegenständlichen Wiederkennen geneigt – Betrachter davor hüten, jedes einzelne Detail als sinnstiftend im Kontext interpretieren zu wollen.
Der Künstler setzt sich selbst – mit seinem eigenen Körper – ein, in ganz buchstäblichem Sinne, indem er sich im Röntgenschacht durchleuchten lässt. (Dies gilt auch für andere Werke des „PROSECURITAS“-Zyklus wie „TOTER FOTOGRAF“ und „SCHATTENFRESSER“ – vgl. hierzu Abb. S. 83, 66 und 67).
Gleichermaßen setzt sich Klauke auch aus: nicht nur dem betrachtenden Publikum, auch den Röntgenstrahlen.
Die Selbsterfahrung zieht sich wie ein roter Faden durch weite Teile von Klaukes Werk. An der eigenen körperlichen Befindlichkeit exemplifiziert er gesellschaftliche Verfaßtheit, an und mit seinem Körper vollzieht er die „Objektivierung des Subjektiven“ (1). Klaukes Befragung der eigenen Existenz war immer kompromisslos, radikal und von unerbittlicher Konsequenz. Das künstlerische Erkenntnisstreben – die Suche nach neuen, unverbrauchten und aussagekräftigen Bildern – blieb ursächlich verknüpft mit der Frage nach der fundamentalen Bedeutung des Menschseins. Das Leben stand allzu sehr im Vordergrund, als dass es nicht am eigenen Körper auch künstlerisch hätte „ausprobiert“ werden müssen. Klaukes früherer Protest stand unter dem Zeichen der „Zeit der Aufräumarbeit“ (Klauke), die sich mit manch negativer Erfahrung auseinandersetzte; hierzu bediente er sich mitunter auch blasphemischer und „obszöner“ Attribute, die auf eine grelle Schockwirkung angelegt waren (Abb. 1,2).
Klauke muß sich nicht mehr beweisen. Die sich selbst zugefügten Schmerzen bei der 1978 in der National Gallery von New South Wales, Melbourne, durchgeführten Performance „THE HARDER THEY COME III“, während welcher Klauke mit seinem Körper verschieden hohen Mauern zum Einsturz brachte und der einer solchen Aktion zugrunde liegende Zorn, treten zugunsten sublimierterer Aktionen zurück – zumindest schmerzt die Röntgendurchleuchtung nicht körperlich. Exhibitionistische oder gar narzißstische Elemente verbleiben im Hintergrund, treten im entindividualisierten Skelett zurück.
Dennoch stellen Klaukes „PROSECURITAS“-Selbstdarstellungen alle früheren Zurschaustellungen seiner selbst in den Schatten. Sich bis auf die Knochen, bis auf das Skelett „auszuziehen“ ist Resultat einer noch viel radikaleren Selbstbefragung.(2)

Obwohl manche ältere Fotosequenzen eher im Dienste der Dokumentation performancehafter Geschehnisse zu stehen scheinen (Abb. 3), darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es inszenierte Fotografien sind, die nicht in einem ursächlichen Zusammenhang mit Performances stehen. Allein das aktionistische Gebaren der Darsteller lässt manche dieser Fotos wie „stills“, Standbilder aus länger laufenden Sequenzen wirken, da der Betrachter aufgrund der sukzessiven Aufnahmen einzelner Bewegungsmomente automatisch eine von ihm vermutete dazwischen liegende Handlung rekonstruiert. In der „FORMALISIERUNG DER LANGEWEILE“ werden diese vermeintlichen Standbilder abgelöste von Fotos, die einen autonomeren Bildcharakter annehmen und nicht nur zum Tableau zusammengefügt, sonder auch als Einzelbild größere Geltung besitzen (Abb. 4). In den „SONNTAGSNEUROSEN“ schließlich bedient sich Klauke einer raffiniert ausgesteuerten Lichtregie und lässt Akteure wie Requisiten nach einer minutiös ausgearbeiteten Choreographie auftreten; er schafft nun theatralisch inszenierte Bilder, deren melancholische Wirkung von der düsteren Farbgebung unterstrichen wird (Abb. 5, 15, 16). Die wie eingefroren wirkenden, maskenhaft starren Antlitze der Akteure verweisen nicht mehr auf sie selbst, sie haben die Sphäre subjektiver Befindlichkeit bereits verlassen.
Den „tableaux vivants“ früherer inszenierter Fotografien stehen nun die „natures mortes“ des „PROSECURITAS“-Zyklus gegenüber, aus den vermeintlichen „stills“ performativer Aktivitäten wurde eine Art „Stillleben“. Gleichmäßig durchdrungen von den sich allen Objekten gegenüber völlig indifferent verhaltenden Röntgenstrahlen schweben die aus dem Leben gegriffenen Gegenstände, wie auch Klaukes Skelett, teilnahmslos- und leblos in einem undefinierbaren Raum und führen gemeinsam eine „danse macabre“ auf – einen zeitgenössischen Totentanz, der (wie schon im Mittelalter) auf nichts anderem als dem Wissen um die Grundsätzlichkeit menschlicher Kontingenz beruht.

Dem (tabuisierten) Tod, und damit der Vergänglichkeit des Menschen, schaut Klauke mit seinen Arbeiten – weder herausfordern noch ängstlich – ins Auge, indem er sich und uns die Vanitas aller äußeren Hülle vor Augen führt. (Ungleich distanzierter präsentierte sich Lovis Corinth seinerzeit neben einem aufgehängtem Skelett: Abb. 6 Corinths Fleischlichkeit kontrastiert zum Skelett; er kommuniziert nur über den Betrachter mit dem Tod, während Klauke sich mit dem Skelett in eins setzt). „PROSECURITAS“: Jede vermeintliche Sicherheit wird von Klauke durch sein existentielles Sich-dem-Leben-Aussetzen grundsätzlich in Frage gestellt, sein bizarrer Totentanz steht als beständiges „memento mori“ jedem Sicherheitsdenken im Wege.

„AUF LEISEN SOHLEN“ hatte sich schon vor zehn Jahren ein Totentanz in die gleichnamige Werkreihe „eingeschlichen“, dem er gleichsam zur ironisierenden Entschärfung einen kleinen aufziehbaren Spielzeugtrommler als Sekundanten an die Seite stellte (Abb. 7); Klauke figuriert hier (ganz links) im bewegten Schattenbild des makabren Tanzes, das in seiner Irrealität um Immaterialität Ähnlichkeit mit den „PROSECURITAS“-Röntgendurchleuchtungen besitzt. (Drastisch hatte sich Klauke mit dem Thema des Todes bereits Mitte der 70er Jahre auseinandergesetzt: Abb. 8, 9). Überhaupt finden wir in seinem Œuvre zahlreiche Vorwegnahmen einzelner Elemente aus dem „PROSECURITAS“-Zyklus , so beispielsweise die „SCHATTENBILDER“, die zwar Einblicke in das Innenleben der Sujets kategorisch verweigern, aber bereits eine ähnlich schwebende Rätselhaftigkeit aufweisen (Abb. 10). Die Werkgruppe „GRIFFE INS LEERE“ (großformatige, seit 1983 entstehende farbige Zeichnungen, die als Einzelarbeiten zu verstehen sind) drückt sich buchstäblich im „SELBSTENTWURF“ von 1984 aus (Abb. II), der nicht nur thematisch mit der „SELBSTFINDUNG“ (Abb. S. 68, 69) verwandt ist. Die Masken, die einige der „PROSECURITAS“-Bilder wie zarte Gespinste überziehen, finden sich ebenfalls auf mehreren Bilder aus der gleichnamigen Werkreihe (Abb. 12). Hier wie dort stehen sie für die Auseinandersetzung des Künstlers mit sich selbst (den Masken im „PROSECURITAS“-Zyklus lag eine Jürgen Klaukes Gesicht abgeformte Maske als Sujet vor).

Klauke „programmiert“ seine Bilder, indem er unterschiedlichste Gegenstände (und mitunter eben auch sich selbst), in Kofferschächten arrangiert, wie sie auf Flughäfen gebräuchlich sind, um Gepäckstücke auf Waffen und andere gefährliche Gegenstände hin zu durchleuchten. Am Überwachungsbildschirm kontrolliert Klauke das Röntgenbild und greift in gewissem Umfang auch ein. So bewirkt er Veränderungen im Raster oder nimmt Positiv-Negativ-Manipulationen vor; auch kann er die durchleuchteten Gegenstände nahezu unkenntlich machen (Abb. S. 64, 65). Aufgrund seiner reichen Erfahrungen im Umgang mit diesem Medium gelingt es ihm, durch ein gezieltes Arrangement der einzelnen Gegenstände perspektivische Verzerrungen herbeizuführen. Die Kenntnis vom Verhalten von Körpern unterschiedlicher Dichte beim Durchleuchten bzw. das Wissen um die jeweils resultierenden Licht- und Schatteneffekte auf dem Kontrollbildschirm ermöglichen eine prädisponierende Ordnung der Dinge im Kofferschacht. Das jeweils erzielte Bild fotografiert Klauke sodann vom Monitor ab. Die weitere Bearbeitung der so gewonnenen Bildvorlagen erfolgt am Leuchttisch und im Fotolabor. Farben werden durch entsprechende Andrucke über dem Schwarzweiß-Negativ generiert, Solarisationen, Sandwich-Überlagerungen bzw. mehrere übereinander geschichtete Negative führen dann weiter zum endgültigen bildnerischen Resultat. Sein konzeptuelles Vorgehen bezieht sich auf die Auswahl dessen, was in den Durchleuchtungsschacht kommt, und auf die Art und Weise, wie es in ihm arrangiert wird. Die Bilder existieren bereits in seiner Vorstellung, bevor er sie in die Tat umsetzt – sowohl zuvor als auch während des installativen Einbaus der später zu Bildern werdenden Gegenstände bleibt nichts dem Zufall überlassen. Klauke interessiert sich (nach seiner eigenen Aussage) nur peripher für die inhaltliche Bedeutung der Gegenstände, deren Bild er vom Kontrollschirm abnimmt. Sie tritt zurück zugunsten der intendierten Bild-Sensation, die sich aus dem Arrangement der Einzelgegenstände zu einem Ganzen ergibt.

Doch fällt eine ganze Reihe von Gegenständen auf, die Klauke auch in anderen Werkzusammenhängen verwendete und deren Bedeutung nicht grundsätzlich vernachlässigt werden darf. Dies gilt für die schwer zu deutenden Schirme, die im „PROSECURITAS“-Zyklus als (Regen-)Schirm auf dem (Bild-)Schirm ihr konstruktives Innenleben präsentieren. (3)
Von Bedeutung in Klaukes Werk ist auch der Eimer. Er tritt bereits 1990 in der „FORMALISIERUNG DER LANGEWEILE“ auf: In „ABSOLUTE WINDSTILLE“ (Abb. 13) und in „MONTAG ... SONNTAG“ (Abb. 14) verkörpert er – nicht ohne Witz – unser hermetisches in uns Eingeschlossensein; in dem 1980/81 entstandenen Videofilm „FORMALISIERUNG DER LANGEWEILE“ sieht man den Künstler mit über den Kopf gestülptem Eimer bei verschiedenen Anlässen (Papstbesuch, Karneval) in der Kölner Öffentlichkeit – alle sich um Klauke herum abspielenden Vorgänge werden von diesem ultimativen Kommentar unerbittlich ad absurdum geführt. Lapidar und eindringlich zugleich ist die Wirkung der drei metallenen Abfalleimer in „HORIZONTALE EINSICHT“ aus den „SONNTAGSNEUROSEN“ (Abb. 15), während die Eimer in Verbindung mit dem (Stuhl-)Brett von Klaukes Kopf in „ENTRÜCKUNGSERLEBNIS“ (Abb. 16) auf die Aussage in der „FORMALISIERUNG DER LANGEWEILE “ zurückverweisen. In „FINALE“ (Abb. S. 98, 99) nimmt der Eimer monumentale Ausmaße an, wirkt bedrohlich und voll latenter, anonymer Gewalt.
Solch anonyme Gewalt bringt explizit auch der Kopf im „DÜSSELDORFER RAUM“ zum Ausdruck, der einen per Nachtsichtgerät die mexikanische Grenze ausspähenden amerikanischen Sicherheitsbeamten zeigt (Abb. S. 31). Zur Darstellung des existentiellen Ausgeliefertseins gesellt sich die Idee der Isolation und des von anonymen Mächten Gequältwerdens, die von den entmenschlichten Köpfen des „DÜSSELDORFER PROSECURITAS-RAUMS“ (Abb. S. 28, 29) vermittelt wird. Die per Draht unsichtbaren Mächten ausgelieferten Köpfe evozieren Bilder von seelischer und körperlicher Versehrung, wie wir sie – in einer krasseren Form – auch bei dem Wiener Aktionisten Rudolf Schwarzkogler finden (Abb. 17).
Die Fotografie eines für einen Tierversuch missbrauchten Affen verdeutlicht die Kehrseite unseres zivilisatorischen Fortschritts (Abb. S. 87). Mit unverhohlener Ironie macht uns Klauke gleichzeitig klar, dass auch viele unserer kulturellen Errungenschaften fragwürdig sind, indem er der Fotografie des Affen seine „KULTURKOFFER“ (Abb. S. 85, 86) an die Seite stellt, die auf die eigentliche Funktion der von ihm benutzten Durchleuchtungsapparate verweisen (und deren Inhalte – wenn auch nicht im herkömmlichen Sinn – kaum weniger gefährlich als Waffen sind). In den „KULTURKOFFERN“, die in engstem Zusammenhang mit den „SONNTAGSNEUROSEN“ (Abb. 18) stehen, stellt Klauke augenzwinkernd vorgefertigte Kulturaggregate unterschiedlicher Epochen vor, wie sie tatsächlich mancherorts als didaktisches Anschauungsmaterial noch Verwendung finden: Einem Koffer voller archaisierender Figürchen mit Einschlag ins Altägyptische gesellt er Mickey Mouse bei, neben stein- oder bronzezeitlichen Teilen findet sich ein Gartenzwerg, eine Reihe von Coca-Cola Flaschen wird von der Venus von Milo konterkariert.

Röntgenstrahlen stehen im Dienst analytischer Zwecke und sollen diagnostische Sicherheit herstellen. Die Maschine taxiert und fixiert Werte unterschiedlicher spezifischer Dichte; sie erkennt nicht, sondern transformiert lediglich. Emotionslos, objektiv und indifferent durchdringen Röntgenstrahlen die ihnen vorliegenden Objekte und verwandeln sie in Bilder von unterschiedlicher Helligkeit, die Aufschluß über deren Innenleben versprechen. Mit diesem „INNENLEBEN DER DINGE“, also mit der Frage, was hinter der äußeren Oberfläche aller Dinge verborgen ist, hatte sich Klauke bereits 1979 in seiner gleichnamigen Zeichnungsserie befasst: In die Umrisse von Werkzeugen, Schiffen, Flugzeugen, Figürchen, Pistolen oder Autos fügte Klauke deren vermeintliches „inneres Gerüst“ ein, das dem realen oder dem imaginierten Konstruktionsschema nachempfunden ist (Abb. 19). Spielerisch führt(e) uns Klauke vor, wie wenig wir tatsächlich von dem Innenleben der Dinge in Erfahrung bringen und dass unter bestimmten Umständen vermeintliche Klärung auch zu Verunklärung führen kann – Kenntlichmachung und Erkenntnis sind zweierlei Dinge.
Letztlich verdeutlich er die Absurdität allen Strebens nach Erkenntnis, indem er sich in seinem „PROSECURITAS“-Zyklus eines technischen Mittels bedient, das zwar für die wissenschaftliche positivistische Analytik seine Berechtigung hat, bei andersartiger Verwendung jedoch seien Bedeutung völlig verändert oder gar verliert. Indem Klauke die Röntgenbilder von ihrer eigentlichen, ursprünglichen Funktion (als Mittel diagnostischer Analyse) ablöst, hebt er also die „Gesetzlichkeit der Maschine“ auf, trennt von den Objekten deren bisherige Bedeutung ab und versetzt sie metamorphotisch in eine unerklärliche Bildwelt von mitunter geradezu transzendentalem, mystischem Charakter, die sich unseren gewohnten Anschauungsmechanismen entzieht. Die schwerelose Leichtigkeit, das Aufhaben vorangegangener Materialität in einen transparenten Schwebezustand und damit verbunden die Annullierung des vertrauten Charakters der Gegenstände und Lebewesen im Fluidum des opaken Röntgenbildes bewirken ein irreales und hyperreales Bild zugleich: Klaukes „Vision der Innenwelt der Außenwelt“, wie es Klaus Honnef treffen formuliert hat. (5)

Klauke kommt dem Erkenntnisstreben des Betrachters nicht entgegen, vielmehr lässt er Fragen offen und schafft einen Bereich des Unerklärlichen und Rätselhaften, in welchem er Raum zum freien gedanklichen Vagabundieren lässt. Mit den „SONNTAGSNEUROSEN“ und dem „PROSECURITAS“-Zyklus schuf sich Klauke formal unterschiedlich gestaltete Systeme, an denen er parallel arbeitet und innerhalb derer sich ein ganzer Kosmos von Bildern ergibt. Ohne schicksalschwangeres, selbsterhebendes Pathos bewegt sich Klauke in diesen selbstgeschaffenen Bildwelten, die er mit lächelnder Selbstverständlichkeit durchmisst und nach ihrer Tragfähigkeit auslotet, solange sie ihm Stoff bieten für seien spielerisch und elegant wirkenden Zugriff. Eine ernsthafte (und mithin möglicherweise belastende) Sinngebung geht eine scheinbar zwanglose Alliance ein mit nicht unmittelbar sinnstiftenden Elementen. Ähnlich wie in den „SONNTAGSNEUROSEN“ hebt Klauke die arrangierten Gesten und Posen seiner Akteure (hier: seiner selbst) wie auch die miteinbezogenen Requisiten auf eine bildliche Metaebene, auf welcher sie eben jene Spannung erzeugen, die den Betrachter zur Auseinandersetzung mit dem Werk auffordert.

Jürgen Klauke gehört zu den weinigen Künstlern, die in der Lage sind, die „condition humaine“ zum Thema zu machen, ohne in gestisch expressiven Aktionismus zu verfallen. Auf der Suche nach neuen, unverbrauchten Bildern stieß er auf die andersartige Ästhetik des digitalen Bildes, die er sich künstlerisch zu eigen machte. Die nahezu hundert großformatigen Einzelbilder, aus denen der in den vergangenen sieben Jahren entstandene „PROSECURITAS“-ZYKLUS BESTEHT, weisen Klauke als einen Künstler aus, der die komplexen Manipulationsmöglichkeiten zeitgenössischer Fototechnik perfekt auszuschöpfen versteht. Für die in nur drei Tönen – blau, fast schwarz und hell – angelegten Fotoarbeiten bedient sich Klauke der Technik aber nur als Mittel zum Zweck; in einem rein handwerklichen Sinn fungieren die von ihm gesteuerten Maschinen als „Träger seiner Gedanken“.
Innerhalb dieser röntgentechnischen Licht-Bildnerei, die die Ur-Idee der Fotografie in reinster Form zum Ausdruck bringt (so wie beispielsweise auch die Fotogramme von Mohloy-Nagy: Abb. 20), erschließt sich Klauke seine eigene Bildwelt aus Licht- und Schattenzeichnungen unterschiedlichster Dichte, Transparenz und Sättigung, voller subtil nuancierter Zwischentöne, die von größter malerischer Qualität sind.
Trotz ihres hohen ästhetischen Raffinements und ihrer bis ins kleinste Detail bedachten Komposition laufen Klaukes Bilder niemals Gefahr, sich dem Verdacht des „l’art pour l’art“ auszusetzen. Klaukes existentialistische Weltsicht, die um die Absurdität des „Geworfenseins“, um Entfremdung und Tod weiß, richtet sich gegen sinnentleerte gegenständliche Bilder und sucht nach sinnvollen Bildern, die sie in einer reinen Abstraktion nicht finden kann. Es galt also, sich einen Zwischenbereich zu erschließen, um die Tragik des Menschenbildes in gültigen, psychisch wirksamen Bildern zum Ausdruck bringen zu können. Hierin ist Klauke Künstlern wie Francis Bacon und Bruce Nauman geistesverwandt. Trotz aller Unterschiede finden sich signifikante Parallelen zum Werk von Nauman, wie ein Vergleich von dessen 1991 entstandener, ein Jahr später auf der documenta IX präsentierter Arbeit „ANTHRO-SOZIO“ mit Klaukes Performance „MADE IN GERMANY – HINSETZEN / AUFSTEHEN / ICH LIEBE DICH. EIN DIALOG“ im Lenbachhaus, München (1978) augenfällig macht.


ANMERKUNGEN

  1. Vgl. Andreas Vowinckel, Jürgen Klauke – Obsession und Chiffre, in: „EINE EWIGKEIT EIN LÄCHELN“, Köln 1986, S. 141
  2. Wer von uns vermag in Anbetracht eines „chirurgischen“ Röntgenbildes seiner selbst diese Durchleuchtung ursächlich mit seinem eigenen Körper in Verbindung zu bringen? Vielmehr verstehen und empfinden wir es als eine medizinische Objektivation – diese Betrachtungsweise nützt ja auch Klauke künstlerisch aus und ruft so den überindividuellen Charakter seiner Arbeiten hervor. Ein peinvoller Schauder erfasst uns, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es unsere eigenen Knochen sind, die wir im Röntgenbild vor uns haben, dass wir schließlich aus nicht anderem bestehen, und dass sie derjenige Teil von uns sind, der nach unserem Tod übrig bleibt.
  3. Sie finden sich bereits in der Werkreihe „AUF LEISEN SOHLEN“ (1982) wie auch in „VERY DE NADA“ (Mitte der 80er Jahre) und in den später entstandenen „SONNTAGSNEUROSEN“.
  4. Klaus Honnef, Jürgen Klauke. Selbstbildnis als Portrait der Gesellschaft, in: „Jürgen Klauke, Ich war eine Dose“, Düsseldorf 1988, S. 8

* Zitat Jürgen Klauke
** „Prosecuritas“ = „Für die Sicherheit“ (Eigentlich: „pro securitatae“)