5 Minuten Text

Der Auftrag war ehrenvoll und klar formuliert: Genau fünf Minuten hätte er Zeit, in der Kirche nach der Trauung seines Bruders zu sprechen, zu lesen. Was genau, das läge in seinem Ermessen. Er wisse bestimmt etwas Passendes. Bei Lichte besehen hieß dies: etwas Erbauliches, Bestärkendes, aber nicht zu Kitschiges, vielleicht Lyrik, vielleicht Prosa, bitte witzig, aber nicht zu frech, man befände sich schließlich in einem Gotteshaus. Anders gesagt: eine schwierige Aufgabe.

Angestrengt dachte er nach. Sein Bruder, der im Kreativteam einer PR-Agentur tätig war, galt als glühender Anhänger von Borussia Dortmund, wer weiß warum! Könnte man das einflechten, Scherze treiben über Schwarzgelbes wie Regierungen oder Bienen? Nein, Fußball war definitiv fehl am Platze, so wenige Minuten nach dem Jawort. Wo die Hand noch zitterte und das Herz noch raste.

Seine Gattin hatte ursprünglich Jura studiert, dann aber, weil sie vom Rechtssystem enttäuscht war, auf Floristik umgeschult. Eine Steilvorlage, dachte er, Blumen, da gibt es Gedichte ohne Ende, zu allen Anlässen, sicher auch zur Hochzeit, Emily Dickinson, wie auch immer. Aber beim Gedanken, florale Lyrik ins Kirchenschiff zu ventilieren, wurde ihm schnell mulmig.

Ratlos sondierte er die Hochzeitsbücherauslagen in verschiedenen Buchläden. Bändchen für Bald-Heiratende, Heiratende, Lang-Schon-Verheiratete. Aphorismen, Sprüche, Weisheiten, von mäßig lustigen Comics begleitet, überall quoll ihm der Paolo-Coelho-Kitsch entgegen, und: man sehe nur mit dem Herzen gut, behauptete der kleine Prinz, stimmt ja, absolut, aber neu war das nicht.

Von der Durchsicht entmutigt, wandte er sich deshalb wieder den Gedichtanthologien zu. Ein Zweizeiler gefiel ihm:

Der Ehestand ist ein schwarzes Meer, worin viel trübe Wasser fließen;

Er ist ein herb- und bittrer Kohl. Kann ihn ein beißend Salz versüßen?

Von Sidonia Zäunemann. Aus dem 18. Jahrhundert.

Nun – damit könnte er keine fünf Minuten füllen. Und überhaupt: Klang das nicht zu defätistisch? Und wer ist überhaupt Sidonia Zäunemann?

Das Problem war schnell entdeckt: Gute, erhebende Lyrik über Hochzeit, Ehe und selbst über Liebe balancierte immer am Abgrund, dachte stets das Ende mit und die Flüchtigkeit allen Glücks. Das konnte man glücklich Frischvermählten natürlich nicht zum Vortrage bringen, sie würden es zurückweisen – und zwar mit völligem Recht. Deshalb blieb es so oft bei jenen Poesiealbums-Binsen, mit denen all diese Büchlein vollgedruckt sind. Sie haben ihre Berechtigung, aber von ihm, da war er sich sicher, wollte das Brautpaar sie nicht unbedingt hören.

Schöne, aufbauende, bestärkende, positive und dabei doch nicht doofe Lyrik über Ehe, über dauerhafte Liebesbeziehungen, die war tatsächlich selten. Er dachte an eins seiner Lieblingsliebesgedichte, von Karl Krolow, es ging so:

Ziemlich viel Glück gehört dazu,

Daß ein Körper auf der Luft zu schweben beginne

Und auf dieser Luft einem anderen Körper begegne,

Wie er: unterwegs.

Eine ganze Zeit noch ist ihr Flüstern zu vernehmen,

Und wie sie einander das schenken, was leicht an ihnen ist.

Glücklichsein beginnt immer ein wenig über der Erde.

Aber niemand hat es beobachten können.

Jede echte Liebe begann ja so, wie Krolow es da schreibt. Und wenn es gar um eine Liebe ging, die so profund war, dass sich die Liebenden dazu entschlossen, sich offiziell aneinanderzubinden, amtlich und vor Gott, dann galt das erst recht.

Aber: Ein ausgewiesenes Hochzeitsgedicht war das natürlich nicht. Die sahen anders aus und klangen oft wie Büttenreden zu Ommas Achtzigstem.

Er kam ins Schwitzen. Millionen Gedichte oder keins. Fünf Minuten an das Brautpaar. Das reichte auch nicht für eine ganze Hochzeitsgeschichte, und davon gab es gab wunderbare. Nur: Wie bei den Gedichten war es auch hier: Die besten handeln eher von den schlechten als von den guten Zeiten. Wie gern würde er Tschechow vortragen, der so viel Kluges, Amüsantes und auch Abgründiges über Ehepaare geschrieben hat. Eine Geschichte – sie hieß “Anna am Halse” – fing zum Beispiel so an:

Nach der Trauung gab es nicht einmal einen kleinen Imbiss; die Jungvermählten tranken ein Glas Wein, zogen sich um und fuhren zum Bahnhof. Statt eines fröhlichen Hochzeitsfestes und eines Abendessens, statt Musik und Tanz – eine Wallfahrt von zweihundert Kilometern. Viele billigten das und sagten, Modest Alexejitsch habe schon einen hohen Dienstrang und sei nicht mehr jung, eine lärmende Hochzeit könne da vielleicht als nicht besonders schicklich gelten; außerdem stimme die Musik wehmütig, wenn ein Beamter von zweiundfünfzig Jahren ein Mädchen heiratet, das gerade erst achtzehn geworden ist. Viele meinten auch, Modest Alexejitsch habe als ein Mensch mit Prinzipien diese Fahrt ins Kloster absichtlich unternommen, um seiner Frau begreiflich zu machen, daß er auch in der Ehe in erster Linie auf Religion und Sittlichkeit achten werde.

Am Ende der Geschichte triumphierte die Liebe. Nur dummerweise nicht die zwischen den Eheleuten. Also auch keine gute Idee für eine Lesung in der Kirche bei der Hochzeit seines Bruders.

Nervös und planlos machte er sich am Tag der Trauung auf den Weg in die Kirche, idyllisch direkt am Wasser gelegen, am Starnberger See. Er wollte sich spontan entscheiden, ob er doch die Paulo-Coelho-Weisheiten oder ein paar gut abgehangene Hochzeitsgedichte ins Gestühl deklamieren würde, je nach Stimmung, vielleicht war es ja zu heiß oder zu verregnet. Oder alle kamen zu spät.

Die Trauung war bezaubernd, das Ja kam von Herzen, das Brautpaar wunderschön, der Pfarrer ein Profi, und dann kamen seine fünf Minuten. Sein Mund war trocken, sein Kopf dröhnte, als er sich vor die zweihundert Hochzeitsgäste stellte. Dann aber drangen, aus den hintersten Zellen seines Unterbewusstseins, zu Tage gefördert durch synaptische Verschaltungen sonderbarster Art, die unschuldigsten Verse aus ihm heraus, die ihm einfielen, und ohne mit der Wimper zu zucken, rezitierte er mit klarer Stimme:

Ein Vogel wollte Hochzeit machen in dem grünen Walde – Fiderallala!

Die Drossel war der Bräutigam, die Amsel war die Braute.

Das reimte sich nicht, aber so hatte es geheißen, und während er sprach, mit wachsender Inbrunst, überkam ihn tiefe Freude, denn wie könnte man eine Hochzeit schöner besingen als mit diesen alten Strophen?

Der Sperber, der Sperber, der war der Hochzeitswerber.

Der Stare, der Stare, der flocht der Braut die Haare.

Die Gänse und die Anten, die war’n die Musikanten.

Der Uhu, der Uhu, der bringt der Braut die Hochzeitsschuh’.

Bald schon wippten die dreihundert Hochzeitsgäste und sangen mit.

Der Kuckuck schreit, der Kuckuck schreit, er bringt der Braut das Hochzeitskleid.

Der Seidenschwanz, der Seidenschwanz, der bracht’ der Braut den Hochzeitskranz.

Der Sperling, der bringt der Braut den Trauring.

Die Taube, die bringt der Braut die Haube.

Der Wiedehopf, der bringt der Braut nen Blumentopf. (Was auch sonst?)

Die Lerche, die führt die Braut zur Kerche. (Wohin auch sonst?)

Die Mutter war die Eule, nahm Abschied mit Geheule.

Der Auerhahn, der Auerhahn, der war der stolze Herr Kaplan.

Jetzt war er nicht mehr zu stoppen. Der Dortmund-Schal des Bruders wogte im Takt, die Braut vergaß das juristische Rüstzeug, den Vortragenden nötigenfalls zu verklagen. Und auch der Pfarrer klatschte fidel in die Hände.

Der Pfau mit seinem bunten Schwanz macht mit der Braut den ersten Tanz.

Der lange Specht, der macht der Braut das Bett zurecht.

Das Drosselein, das führt die Braut ins Kämmerlein.

Die fünf Minuten waren längst um, den vierhundert Hochzeitsgästen knurrte der Magen. Und mit den allerletzten Zeilen kehrte er zurück ins Gestühl.

Der Hahn, der krähet: „Gute Nacht“, nun wird die Kammer zugemacht.

Der Uhu, der Uhu, der macht die Fensterläden zu.

Die Vogelhochzeit ist nun aus, die Vögel fliegen all’ nach Haus.

Und – warum nicht einfach gleiches Wort auf Wort reimen?

Das Käuzchen bläst die Lichter aus und alle ziehn vergnügt nach Haus.

3 Kommentare

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3 Antworten zu “5 Minuten Text

  1. gerrit albrecht clemens und so weiter...

    und alle so: „YEAH“!

  2. Pingback: fidirallala,fidirallalalala,braut,auerhahn,meise,seidenschwanz,uhu | mitkinder.de mit kindern

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