Brief Heinrichs an Ulrike von Kleist vom 24.10.1806

Meine theuerste Ulrike,
Wie schrecklich sind diese Zeiten! Wie gern mögt‘ ich, daß du an meinem Bette säßest, und daß ich deine Hand hielte; ich fühle mich schon gestärkt, wenn ich an dich denke! Werdet Ihr flüchten? Es heißt ja, daß der Kaiser den Franzosen alle Hauptstädte zur Plünderung versprochen habe. Man kann kaum an eine solche Raserei der Bosheit glauben. Wie sehr hat sich Alles bestätigt, was wir vor einem Jahre schon voraussahen. Man hätte das ganze Zeitungsblatt von heute damals schon schreiben können. Habt Ihr Nachrichten von Leopold und Pannwitz? Vom Regiment Möllendorff sollen ja nur drei Officiere übrig geblieben sein. Vierzig tausend Mann auf dem Schlachtfelde, und doch kein Sieg! Es ist entsetzlich. Pfuel war, kurze Zeit vor dem Ausbruch des Krieges, Adjudant bei dem General Schmettau geworden, der bei Saalfeld geblieben ist. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Auch von Rühlen habe ich seit drei Wochen keine Nachrichten erhalten. Sie standen beide bei dem Corps des Prinzen Hohenlohe, das, wie es heißt, eingeschlossen und von der Elbe abgeschnitten ist. Man kann nicht ohne Thränen daran denken. Denn wenn sie alle denken, wie Rühle und Pfuel, so ergiebt sich keiner. Ich war vor einiger Zeit willends, nach Berlin zu gehen. Doch mein immer krankhafter Zustand macht es mir ganz unmöglich. Ich leide an Verstopfungen, Beängstigungen, schwitze und phantasiere, und muß unter drei Tagen immer zwei das Bette hüten. Mein Nervensystem ist zerstört. Ich war zu Ende des Sommers fünf Wochen in Pillau, um dort das Seebad zu gebrauchen; doch auch dort war ich bettlägrig, und bin kaum fünf oder sechsmal ins Wasser gestiegen. Die Präsidentinn hat mir noch ganz kürzlich etwas für dich aufgetragen, mein Kopf ist aber so schwer, daß ich dir nicht sagen kann, was? Es wird wohl nicht mehr, als ein Gruß gewesen sein. Sie hat durch den Kriegsrath Schäffner etwas von dir erfahren, von dem du, glaub‘ ich, eine Anverwandte gesehen und gesprochen halt. Übrigens geht es mir gut. Wenn ich nur an dir nicht Unrecht gethan hätte, mein theuerstes Mädchen! Ich bin so gerührt, wenn ich das denke, daß ich es nicht beschreiben kann. Schreibe mir doch, wenn Ihr, wie ich fast glaube, nach Schorin gehen solltet. Denn Minette wird doch schwerlich die Franzosen in Frankfurt abwarten. Vielleicht käme ich alsdann auch dahin. Kein besserer Augenblick für mich, euch wiederzusehen, als dieser. Wir sinken uns, im Gefühl des allgemeinen Elends, an die Brust, vergäßen, und verziehen einander, und liebten uns, der letzte Trost, in der That, der dem Menschen in so fürchterlichen Augenblicken übrig bleibt. Es wäre schrecklich, wenn dieser Wütherich sein Reich gründete. Nur ein sehr kleiner Theil der Menschen begreift, was für ein Verderben es ist, unter seine Herrschafft zu kommen. Wir sind die unterjochten Völker der Römer. Es ist auf eine Ausplünderung von Europa abgesehen, um Frankreich reich zu machen. Doch, wer weiß, wie es die Vorsicht lenkt. Adieu, meine theuerste Ulrike, ich küsse dir die Hand. Zweifle niemals an meiner Liebe und Verehrung. Empfiehl mich allen meinen theuren Anverwandten, und antworte mir bald auf diesen Brief.
H. v. Kleist. (Königsberg,) d. 24ten (Oktober 1806.)

In: Heinrich von KLEIST, Sämtliche Briefe. Hrsg. von Dieter Heimböckel, Stuttgart, Reclam 1999 (= Universal-Bibliothek; 9768).

Historische Einordnung des Briefes
-Kleist verfasste den Brief am 24. Oktober 1806, 1 Jahr und 10 Tage nach der Schlacht bei Auerstedt und Jena (14. Oktober 1805)
-Kleist wird, durch den Einmarsch Napoleons in Berlin und seinem Sieg über Preußen, zu einem leidenschaftlichen deutschen Patrioten
-Kleist findet, dass sich das Prinzip des Krieges nicht verändert hat (Plünderung und Kampf)
(cd1992)

Welches Bild vom Krieg zeichnet Kleist?
Kleist stellt die Zeit als schrecklich dar und schreibt über die Plünderung der Franzosen aller Hauptstädte, auch Berlin wurde zu der Zeit geplündert. Der Krieg wird von ihm als „Raserei der Bosheit“ (Z.5) beschrieben. Er schriebt, dass selbst vierzigtausend Mann keinen Sieg ermöglichen können und stellt so die Übermacht des Feindes dar. Kleist schreibt in dem persönlichen und adressatenbezogenen Brief an seine Stiefschwester Ulrike, dass der Krieg nun schon seit einem Jahr anhält, und ein Jahr nach der Schlacht hat Kleist den Brief verfasst. Dies kann man aus dem Satz „Wie sehr hat sich Alles bestätigt, was wir vor einem Jahr schon voraussahen“ herauslesen. Außerdem berichtet Kleist über Rühle, (Politiker und Schriftsteller) von dem er seit drei Wochen keine Nachricht mehr bekommen hat, daraus kann man also schließen, dass auch Rühle ein Opfer des Krieges geworden ist. (Z.10f.) Kleists Brief ist insgesamt sehr geprägt von Plünderung, Kampf und Krieg. Des Weiteren sieht Kleist eine hoffnungslose Situation in dem Krieg. „Denn wenn sie alle denken, wie Rühle und Pfuel, so ergiebt sich keiner.“ (Z.13 f.), er hebt die beiden noch einmal ganz besonders hervor um sie vielleicht auch zu ehren und als Helden darzustellen. Sie beide sind gegen Napoleon und dessen Krieg.Sie wollen, dass sich die Truppen zurückziehen, da es aussichtslos ist, weiter zu kämpfen. Auch Heinrich von Kleist ist ganz klar gegen den Krieg von Napoleon und bringt diese Gefühle auch in dem Brief an Ulrike zum Ausdruck. (laurah91)

Bezug zur Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege
– Der preußische Reiter in der Anekdote soll Rühle(Politiker und Schriftsteller) und Pfuel(königlich-preußischer General) darstellen
– Die Anekdote soll an Rühle und Pfuel erinnern, da sie genau wie der preußische Reiter als Helden dargestellt werden
– Der Reiter und Rühle und Pfuel haben Mut :

  • Rühle und Pfuel geben nicht auf, dies wirkt wie ein Hoffnungsschimmer, der aber nur im Brief zu erkennen ist (Z.14), in der Anekdote jedoch nicht, da dort der Reiter auf sich allein gestellt ist.
  • Für Kleist ist die Situation hoffnungslos, da es keinen Sieg gibt, nur viele Tote, und so lange anhält, bis man sich ergibt
  • Reiter: Sieg gegen Übermacht

– Der Reiter soll die Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit darstellen (kathaz)

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3 Kommentare - “Brief Heinrichs an Ulrike von Kleist vom 24.10.1806”

  1. specialnin Says:

    „Welches Bild vom Krieg zeichnet Kleist?“

    Hier kann noch hinzugefügt werden, dass Kleist seine Enttäuschung über die Niederlage mit einem „!“ ausdrückt: „Vierzig tausend Mann […], und doch kein Sieg!“ (Z.8). Ebenso ist er entsetzt darüber, dass Rühle und Pfuel weiterkämpfen wollen. Daher würden noch mehr Menschen sterben. „Denn wenn sie alle denken, wie Rühle und Pfuel, so ergiebt sich keiner.“ (Z.13 f.). Zudem ist Napoleon kein guter Herrscher (Z.29f.)

  2. Helmar Kloss Says:

    Alles okay und recht interessant, aber in der historischen Einordnung muß es heißen: -Kleist wird, durch (wen oder was?) den Einmarsch Napoleons in Berlin und seinen Sieg (Akkusativ, nicht Dativ) über Preußen, zu einem leidenschaftlichen deutschen Patrioten

  3. Tim Says:

    Ich hab die Anekdote als Parodie aufgefasst, Kleist kritisiert meiner Meinung nach die übertriebene patriotische Einstellung der Deutschen unter der napoleonischen Fremdherrschaft..
    Hab auch eine Analyse geschrieben und Anklang gefunden…


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