Der Schutz der Verfassung in der attischen Demokratie im Zeitraum zwischen den Perserkriegen und der Niederlage Athens gegen Makedonien

Inhalt

1. Einleitung
2. Der Schutz der Verfassung in der attischen Demokratie
2. 1. Die Verantwortung des Politikers für sein Handeln
2. 2. Kontrolle des Gesetzgebungsverfahrens - Normenkontrolle
2. 3. Beamte - Bestallung, Bedeutung und Kontrolle
2. 4. Ahndung von Gefährdungen der Verfassung
2. 5. Ostrakismos
2. 6. Begrenzung der des Umfangs der Bürgerschaft
3. Zusammenfassung

1. Einleitung

Das politische System Athens im 5. und 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung - die Demokratie - gilt heute als beispielhafter Versuch von vollständiger Realisierung der souveränen Herrschaft der Bürgerschaft. Nicht weil es in seiner politischen Konzeption in der Gegenwart eine Nachahmung erfahren würde - hierzu sind die Ansprüche an eine 'moderne Demokratie' zu weit fortgeschritten, als dass die attische Realität der demokratischen Periode ihnen gerecht werden könnte -, vielmehr ist die Ausformung der attischen Demokratie im Besonderen dazu geeignet, - soweit es die Quellenlage erlaubt - Strukturen und Wirkungsweisen einer direkten 'Volksherrschaft' zu untersuchen. Dem demokratischen Athen lagen bestimmte Voraussetzungen zu Grunde, welche einer modernen Demokratie völlig fremd sind. So sind eine überschaubare Größe der Polis und vor allem die Eingrenzung der zur aktiven Partizipation zugelassenen Bürgerschaft auf männliche Erwachsene mit nachweisbarer genealogisch er Abstammung aus einer zur attischen Polis gehörenden Sippe grundlegende Merkmale der attischen Demokratie, welche mit einem modernen Demokratieverständnis kaum mehr etwas gemein haben dürften, geschweige dass sie in ähnlicher Weise heute einem demokratischen Gemeinwesen Voraussetzung sein könnten. Trotz allem lassen sich aus der Untersuchung des demokratischen Systems Attikas Erkenntnisse aus dem Wirken von demokratischen Mechanismen und dem Verhalten von zahlenmäßig überschaubaren Bürgergruppen ziehen. Derartige Erkenntnisse sind einerseits für das Verständnis der Funktion der attischen Demokratie förderlich, andererseits lassen sie aber auch Rückschlüsse auf Handlungsabläufe in 'modernen Demokratien' - bei gebührender Berücksichtigung aller vorhandenen Differenzen - zu. .Die Demokratie, welche von Aristoteles als "Herrschaft der Menge zum Vorteil der Armen" verstanden wurde, ist für ihre Existenz elementar an das Vorhandensein von Gesetzen gebunden, welche Grundlagen, Strukturen und Funktionen des politischen Systems der Demokratie beschreiben. Die als Verfassung zu bezeichnenden Gesetze sollen als übergeordnetes rechtliches Gut die Herrschaftsautorität eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe ersetzen, welche in der Monarchie oder der Oligarchie die Organisation und Funktionalität des Staates garantiert. Nachfolgend möchte ich mich mit Art und Weise des Schutzes der Verfassung in Attika beschäftigen. Hierbei ist es mir a. G. der mir zugänglichen Quellen und Literatur nur möglich, ein grobes Bild jener Strukturen und Mechanismen zu zeichnen, welche das demokratische System Athens vor der Zerstörung durch jene Kräfte bewahrten, die die großen politischen Möglichkeiten der attischen Demokratie hierfür zu nutzen gedachten.

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2. Der Schutz der Verfassung in der attischen Demokratie

Die hohe Bedeutung der Verfassung für die Existenz des demokratischen Staates macht die Sicherung derselben vor unbefugter oder fahrlässiger Manipulation notwendig. Dem Schutz der Verfassung ist seit jeher in den demokratisch verfassten Gemeinwesen hohe Bedeutung zugemessen worden. Nicht anders war es in der attischen Demokratie im 5. und 4. Jahrhundert gewesen. Im politischen System des demokratischen Athens entwickelten sich eine Reihe von Gesetzen und Institutionen, welche den erreichten Stand der Verfassungsentwicklung schützen, d. h. Veränderungen der Verfassung verhindern oder zumindest in einen für die Existenz des Staates ungefährlichen Rahmen halten sollten. Die Einrichtung jener Mechanismen zur Sicherung der Staatsgrundlage Attikas zeugten im hohen Maße von einer aus historischen Erfahrungen gewachsenen Sensibilität gegenüber den Gefährdungen, welcher die Verfassung als Fundament des Staates insbesondere aus dem Inneren Athens heraus ausgesetzt gewesen war.

Insgesamt war jeglicher Verfassungsbruch mit strengen Strafen bedroht, was in diesem System, in welchem der freie Wille der Bürgerschaft der höchste politische Maßstab war, die sich auf den freien Bürgerwillen berufende Beseitigung der Verfassungsgrundlage verhindern sollte. Jedoch vermochten es alle Bemühungen des Verfassungsschutzes letztendlich nicht, die Rückkehr zu oligarchischen Führungsstrukturen zu verhindern, wie dies beispielsweise im Jahre 412 geschah, als Alkibiades (ca. 450 - 404) in der Volksversammlung in einer dafür günstigen Situation einen Beschluss herbeiführte, welcher die - allerdings nur vorübergehende - Abkehr von der Monarchie mit sich führte. Dem Bemühen um Schutz der attischen Verfassung sind vielfältige Erscheinungen zuzuordnen, die ich im folgenden separat betrachten und beurteilen möchte.

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2. 1. Die Verantwortung des Politikers für sein Handeln

Die im demokratischen Athen politisch Handelnden waren, neben der ständigen Gefahr des Ostrakismos zumindest im 5. Jahrhundert, vielfältigen Zwängen untergeordnet. Anträge konnte in der Volksversammlung grundsätzlich jeder Bürger stellen. Dabei wurde jeder Antragsteller für die Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit seines Antrages haftbar gemacht. Diese Verantwortung setzte bereits mit der Vorbringung und Begründung des Antrages ein. Über die Anklagen, welche aus der Antragstellung folgen konnten, wurde in einem Prozess vor einem attischen Gerichtshof entschieden. "Der schier unbegrenzten Freiheit der Initiative stand ein System regressiver Kontrollen gegenüber." Die justifizierende Eingrenzung der Politik stand nur scheinbar im Widerspruch zum politische System, welches dem Bürger nahezu alle Handlungsmöglichkeiten offen ließ, denn man musste bestrebt sein, Athens "innere Stabilität zu sichern und den Zufall momentaner Einfälle und Gefühlsregungen [in der Volksversammlung] auszuschalten. Des weiteren hatten die Regressionen bei der individuellen Ausübung der Bürgerrechte Einfluss auf den Umfang der politisch aktiven Bürgerschaft Athens. So war eine hinreichende Professionalität bei der Einbringung und Begründung von Anträgen in der Volksversammlung von Nöten, um nicht unmittelbar in den Mühlen der justiziablen Schutzmechanismen zerrieben zu werden. So bleibt die Gruppe derjenigen, die quasi berufsmäßig als Rhetoren, d. h. gesetzlich definierte Antragsteller in Volksversammlung oder Rat der 500, auftraten, relativ klein - gemessen an der Gesamtzahl der an den Volksversammlungen teilnehmenden Bürgern. Der vor der Volksversammlung auftretende Rhetor mussten Eigenschaften entwickeln bzw. besitzen, welche ihn befähigten "kraft seiner Rede und der in ihr entwickelten Gründe allein um die Zustimmung der Bürgerschaft zu der von ihm empfohlenen Politik zu werben und die Rivalen durch die Weite seines Blickes und die Größe seiner Auffassung zu überwinden." Der Einfluss, den ein solch geschickter Rhetor auf die sich ansonsten im weit geringeren Umfang mit Politik beschäftigenden Bürger auszuüben vermag, rechtfertigt eine umfassende, auch strafrechtliche Verantwortung desselben für sein Handeln. Der erste Vertreter dieses neuen Typus von Politiker, die durch ihre Erscheinung und ihre Rede, und nicht Kraft ihrer auf Reichtum oder Amtsausübung basierenden Macht überzeugten, war wohl Themistokles (ca. 525 - ca. 460) gewesen. Das Streben um Popularität, welches durchaus ausschlaggebend im Ringen um Einfluss auf die Volksversammlung sein konnte, trieb teilweise derart seltsame und der Idee der Demokratie abträgliche Blüten, wie die Freigiebigkeit Kimons (ca. 510 - 450), auf dessen Anwesen sich jedermann bedienen konnte. Er trat stets als Wohltäter der Armen auf und gewährte den Angehörigen seines Demos jederzeit Freitisch. Die Gefahr der "Verführung" der Bürgerschaft war erkannt und wurde zu verhindern gesucht. Freilich funktionierte dieses Gleichgewicht aus weitgehender politischer Freiheit, in welcher den Staatsbeamten - im Gegensatz zur verbreiteten Realität heutiger Zeit - nur eine dienende bzw. ausführende Funktion zugedacht war, und regressiver Kontrolle der politisch Handelnden nur soweit, wie die Volksversammlung und die Gerichte heterogen genug waren, um einen Gesetzesverstoß eines Politikers zu ahnden. Dürstete die Bürgerschaft nach tiefgreifenden politischen Veränderungen, wie dies 412 nach schweren militärischen Niederlagen Athens der Fall gewesen war, verhinderten die Protektionsmechanismen für die Verfassung diesen tiefgreifenden politischen Umschwung nicht. Im konkreten Fall gelang es Alkibiades unter dem Slogan 'Zurück zur "Verfassung der Väter"' in der Volksversammlung die Beseitigung der Demokratie zugunsten der Oligarchie durchzusetzen. Die vorhandenen Schutzmechanismen waren kein Automatismus, sondern bedurften der Aktivierung durch einzelne Bürger oder der mit der Gesetzgebungskontrolle beauftragten Gremien.

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2. 2. Kontrolle des Gesetzgebungsverfahrens - Normenkontrolle

In Athen unterschied man formell zwischen einem Gesetz (nomos) und einem Beschluss (psephisma), wobei das bestehende Gesetz Priorität vor dem Beschluss der Volksversammlung besaß, sofern dieser mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Auch neue Gesetze, die in der Volksversammlung beschlossen wurden, hatten alten zu weichen, wenn deren Bestimmungen mit diesen kollidierten. Um dies zu verhindern, übertrug man die Überwachung des Gesetzgebungsverfahrens auf seine Verfassungskonformität bereits im ersten Drittel des 5. Jahrhunderts - als Gegenpol zur neuen demokratischen Freiheit der Volksversammlung - dem altehrwürdigen Areopag, dem Rat der ehemaligen Archonten. Diese Konstellation brachte ein eher konservatives Klima in der attische Politik mit sich. Ephialtes schaltete schließlich 462 den Areopag als politisch Handelndes Gremium aus, so dass auch dessen Kompetenzen zur Gesetzgebungskontrolle entfielen. Die Demokratie wurde danach unter maßgeblichen Einfluss von Perikles (495/490 - 429) in radikalisierter Weise fortgeführt. Die Kontrolle der Verfassungskonformität wurde in dieser Zeit von dem Rat der 500, dem geschäftsführenden Ausschuss der Volksversammlung, durchgeführt. Unter dem Eindruck der Ergebnisse der sizilianischen Expedition des Attischen Seebundes setzten konservative Kreise in den 410er Jahren die Übertragung der Gesetzgebungskontrolle vom Rat der 500 auf das Gremium der "Zehn Vorberater (Probulen)" durch. Diese bestanden aus je einem gewählten Vertreter der zehn Phylen Attikas. In der Volksversammlung gab es vier Verfahrensarten, um Beschlüsse, entsprechend ihrer Bedeutung, gegen momentane Willensregungen einer von geschickten Demagogen, wie die Rhetoren im positiven Sinne auch genannt wurden, beeinflussten Mehrheit der Bürgerschaft abzusichern.

1. Der Beschluss wurde in der darauffolgenden Volksversammlung erneut zur Diskussion gestellt und abgestimmt. 2. Es war möglich, in einen Beschluss einen Paragraphen einzufügen, welcher Anträge auf Änderung bzw. Aufhebung des Beschlusses unter Strafe stellte. Dieser Strafparagraph konnte nur auf einer Sitzung der Volksversammlung aufgehoben werden, die zeitlich vor der eigentlichen Neuverhandlung des gesamten Gesetzes lag. 3. Bestimmte Dekrete, wie Friedensverträge, Bündnisse, jährliche Gesetzesrevisionen, musste man auf zwei aufeinanderfolgenden Sitzungen verhandeln, ehe sie ratifiziert werden konnten. 4. Die Einsetzung von Nomotheten und die Amnestierung von Verurteilten mussten mit einem Quorum von 6.000 Stimmen beschlossen werden, wobei die Abstimmung mit Stimmsteinen erfolgte.

Die Normenkontrolle war, neben der gesetzlich fixierten persönlichen Verantwortung des Politikers für sein Handeln, das wichtigste Element des Verfassungsschutzes im - den zur Bürgerschaft gehörenden Individuum große Freiräume bietenden - politischen System Athens. Gleichsam wirke sie auch als Gegengewicht zu den Verfassungsbestand leichtfertig gefährdender politischer Tätigkeit. Auch radikalen Handlungen der Bürgerschaft setzte die Normenkontrolle Grenzen, sobald sie selbst formell und institutionell aus dem direkten Einflussbereich der Volksversammlung herausgelöst wurde. Dies wird einleuchtend durch die Tatsache aufgezeigt, dass die radikalste Phase der attische Demokratie mit der Periode zusammenfällt, da die Normenkontrolle vom geschäftsführenden Ausschuss der Volksversammlung durchgeführt wurde. Die Ausübung dieser Funktion durch ein weit unabhängigeres Gremium, wie dem Areopag oder den Probulen, führte zwangsläufig zu einer stärkeren Bewahrung der überkommenen Rechts- und Verfassungsnormen. Das Verfassungsschutzgebot trat hier gegenüber dem Interesse an progressiver Gesetzesnovellierung, was den Gesetzgebern eigen sein muss, wieder stärker in den Vordergrund. Die Trennung von Gesetzgebung und deren Kontrolle war demzufolge für das Anliegen der Bewahrung der Verfassung von Vorteil. Es muss auch im Bereich der Normenkontrolle festgestellt werden, dass die Intensität, mit der sie durchgeführt wurde, von dem Bedürfnis der Bürgerschaft nach stärkerer oder schwächerer Betonung einer demokratischen Entwicklung abhing.

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2. 3. Beamte - Bestallung, Bedeutung und Kontrolle

Als wichtigstes Element für die Funktion des attischen Staatswesens ist die Beamtenschaft auf ihre Bedeutung bei der Bewahrung der bestehenden Verfassungsgrundlage hin zu betrachten. Die Last der Staatsverwaltung wurde während der attischen Demokratie nach dem Grundsatz "Herrschen und Beherrscht werden" mit dem Ziel der Verhinderung einer Elitenbildung auf die Schultern der gesamten Bürgerschaft verteilt. Für höchstens ein Jahr Amtszeit wurden zahlreiche Beamtenstellen mittels des Loses aus den Reihen der Bürgerschaft besetzt. Eine Amtszeitverlängerung war quasi ausgeschlossen. Für die Finanzverwaltung war die Zugehörigkeit zur höchsten Zensusklasse Pentakosiomedimnen vorgeschrieben, um die Haftbarkeit der dort tätigen Beamten bei Fehlern und Veruntreuung gewährleisten zu können. Fast alle anderen Stellen konnten von jedem Angehörigen der Bürgerschaft besetzt werden. Lediglich die zehn Strategen, die militärischen Oberbefehlshaber, wurden durch Wahl bestimmt, da von ihrem Können das Wohl ganz Attikas abhing. Diese Art der Bestallung der Strategen führte dazu, dass die herausragendsten Persönlichkeiten der attischen Politik in dieses Amt gewählt, teilweise auch öfters wiedergewählt wurden. Die Kandidaten für die Losungen wurden in den zehn Phylen ebenfalls durch Los bestimmt, dabei mussten die einzelnen Gemeinden (Demen) angemessen berücksichtigt werden. Die Amtseinführung eines Beamten ist mit der Prüfung seiner formalen Qualifikation verbunden, zu der u. a. der Nachweis des Bürgerrechts und eines ehrbaren Lebenswandels gehörten. Für sein Handeln konnte der Beamte jederzeit von der Volksversammlung zur Verantwortung gezogen werden, die auch für seine Entlastung zuständig war. Aristoteles (384 - 322) berichtet in seinem 'Staat der Athener' beispielsweise folgendes: "Es findet über sie in jeder Prytanie eine Abstimmung statt, ob sie ihr Amt gut zu verwalten scheinen. Wenn gegen einen gestimmt wird, liegt das Urteil beim Gericht, und wenn er verurteilt wird, bestimmen die Richter die Strafe, die er erleiden muss. Bei Freispruch tritt er sein Amt wieder an." Die Einführung von Aufwandsentschädigungen für die Tätigkeit im Staatsapparat sowie für die Teilnahme an den Volksversammlungen während der Ephialtischen Reformen von 462 ermöglichte es einem großen Kreis der wenig vermögenden Bürgerschaft den Dienst für den Staat wahrzunehmen bzw. an den politischen Freiheiten Athens zu partizipieren. Es zeigt sich, dass die Beamten als Diener des Staates keine Möglichkeit hatten, feste hierarchische Strukturen zu bilden. Die einzelnen Ämter unterlagen dem Rotationsprinzip, so dass der Einzelne keinen Anspruch auf ein und dasselbe Amt hatte, somit sich in diesem durch Informationsvorsprung und Beziehungen keine Machstellung erschaffen konnte, die ihm gegenüber einem anderen Bürger oder den politisch Handelnden bevorteilte. Freilich hatte dieses System auch den Nachteil, dass spezifische Verwaltungskompetenzen sich nur im begrenzten Umfang entwickeln konnten, oder dass Ämter durchaus schlecht verwaltet wurden. Das daraus resultierende relativ geringe Leistungsniveau der Verwaltung wurde durch eine breite Beteiligung der Bürgerschaft an der Staatsverwaltung ausgeglichen, was der Identifikation des Einzelnen mit dem Staat förderlich gewesen war. Die Vermeidung der Bildung einer Beamtenhierarchie und die Förderung der Identifikation der Bürgerschaft mit dem Staat sind, a. G. der Vermeidung von Stagnation im Staatsapparat und Gefährdungen durch unzufriedene Bürger, wichtige Elemente bei der Sicherung der Verfassung. Die allgegenwärtigen Kontrollen der Tätigkeit der Beamtenschaft durch die Volksversammlung diente einerseits der Gewährleistung der Funktion des Staatswesens, da unfähige Beamte ersetzt werden konnten, andererseits sicherten diese Kontrollen das verfassungsmäßigen Handeln der Staatsbediensteten und stellten somit ein weiteres Element des Verfassungsschutzes in Attika dar.

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2. 4. Ahndung von Gefährdungen der Verfassung

Der Bruch oder die Gefährdung der Verfassung, das unrechtmäßige Handeln von Politikern und Beamten wurde vor der attischen Gerichtsbarkeit zur Anklage gebracht. Es gab zehn Gerichtshöfe mit je ca. 600 Geschworenen, die hauptsächlich für Streitfälle zuständig waren, die im öffentlichen Interesse lagen, sie hatten aber auch die Funktion einer Berufungsinstanz. Besonders schwere politische Delikte, wie Hochverrat - der "auf jeden beliebigen Vorwurf beruhen [konnte], wenn man darin nur eine Gefährdung der Stabilität des Staates und der Verfassung sehen konnte" - , wurden von der Volksversammlung selbst behandelt. Die Rechtsprechung war in Athen ein unmittelbares Instrument des Willens der Bürgerschaft. Jeder konnte gegen einen anderen Bürger Anklage erheben und musste diese auch selbst vertreten. Eine methodische Rechtswissenschaft gab es nicht, die Laienrichter urteilten - beeinflusst durch die Darstellungen von Ankläger und Verteidiger - gemäß ihrem individuellen Rechtsempfinden. Dieses führte freilich zu einer hohen Zahl von Fehlurteilen, und machte die attische Rechtsprechung völlig unberechenbar. Hier wies das attische System des Verfassungsschutzes ein erhebliches Defizit auf. Den umfassenden Vorkehrungen zum Schutz der Verfassung als Fundament des Staates folgte keine nach einheitlichen Kriterien vorgehende Ahndung von Verstößen gegen die Verfassung. Zwar waren allgemein harte Strafen für diesen Tatbestand vorgesehen, doch über dessen Erfüllung entschied die Bürgerschaft, vertreten durch ihre Gerichte, nach ihrem Gutdünken. Auch war es den Richtern selbst überlassen, die Strafe für die Erfüllung eines derartigen Tatbestandes festzulegen. Die Kette der Schutzvorkehrungen hatte mit der Gerichtsbarkeit - im Vergleich zu den anderen Komponenten - ein sehr schwaches, unberechenbares Glied erhalten. Dies hatte in der Praxis aber nicht unbedingt negative Auswirkungen auf den Bestand der Verfassung selbst. Wichtig war vielmehr, dass ein mutmaßlicher Verstoß eines Politikers oder Beamten erkannt und verhandelt wurde. Die Verfassungspolitische Sensibilität der Bürgerschaft Athens wurde dadurch geschärft, und eventuell zu unrecht Freigesprochene wurden sicherlich schärfer als bisher in ihrem Handeln beobachtet und kontrolliert. Die unrechtmäßige Bestrafung war dagegen zwar tragisch, hatte aber für den Bestand der Verfassung insoweit keine Relevanz, als dass der Betroffene wohl nicht mehr in die Lage gekommen sein wird, diese eventuell aus Rache für das Fehlurteil oder ähnlichem unterminieren zu können.

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2. 5. Ostrakismos

Die wohl älteste und bekannteste Schutzinstitution war das Scherbengericht, welches auf die Kleisthenischen Reformen von 508/507 zurückgeht, jedoch aber erst ca. 20 Jahre später erstmals durchgeführt wurde. War diese Institutionen ursprünglich zur Protektion Athens vor der Rückkehr zur Tyrannis gedacht gewesen, wurde sie später zum Instrument in der politischen Auseinandersetzung in Athen gemacht, wie historische Beispiele belegen. So gelang es beispielsweise dem von konservativen Kreisen unterstützten Feldherren Kimon in den 470er Jahren die Ostraktion seines politischen Rivalen Themistokles, dessen Politik auf weitere Demokratisierung gerichtet war, durchzusetzen, der später noch ein Todesurteil folgte. Konnte nun Kimon seine politischen Vorstellungen einige Zeit lang durchsetzten, so ereilte ihn doch 461 auch die Ostraktion, als die attische Volksversammlung seine Politik nicht mehr länger tragen wolle, wozu als konkreter Anlass die Ablehnung der militärischen Hilfe Athens durch Sparta bei der Niederwerfung der Messenier diente. Bei diesem Vorgang spielte Kimons Widerpart Ephialtes, der 462 die weitgehende Entmachtung des Areopags durchsetzte, eine nicht unwichtige Rolle. Kimon selbst kehrte nach Ablauf der Verbannungsfrist 451 nach Athen zurück und führte die Verbände des Attischen Seebundes gegen Zypern an. Am Beginn des 5. Jahrhunderts wurde die Zuständigkeit für das Scherbengericht vom Areopag auf die Volksversammlung übertragen . Diese entschied einmal im Jahr, ob ein Ostrakismos durchzuführen sei. Bei einem positiven Entscheid ritzten die Bürger in Tonscherben den Namen des Politikers ein, in dem sie eine Gefahr für den Bestand der Verfassung sahen. Der Politiker, auf den mindesten 6000 Nennungen entfielen [35], wurde dann auf 10 Jahre aus Athen verbannt. Das Scherbengericht fand als Instrument politischer Auseinandersetzung bis in das letzte Drittel des 5. Jahrhunderts hinein Anwendung, ohne dass es seinem ursprünglichen Zweck, der Verhinderung der Tyrannis, - soweit ich dies beurteilen kann - je gerecht werden konnte. Im Vordergrund des Einsatzes dieses Gerichts stand - wie oben bereits erwähnt - die politische Auseinandersetzung. Hierbei hatte es freilich eine bedeutende Funktion bei der Gewichtung des Einflusses politischer Strömungen oder Individuen auf die attische Volksversammlung ausgeübt. Die Verbannung politischer Gegner garantierte weitgehend eine kontinuierliche Entwicklung Attikas nach einer Phase politischer Auseinandersetzungen. Das war zweifellos von Bedeutung für die Gewährleistung des attischen Aufstiegs zur dominierenden griechischen Macht im 5. Jahrhundert, andererseits war es jederzeit möglich, führende Politiker bei Unzufriedenheit mit deren Politik aus Athen zu verbannen, und damit der attischen Politik eine neue - vielleicht bessere - Richtung zu geben. Bei diesen Vorgängen muss insbesondere das Wirken von Wortführern der Opposition von entscheidender Bedeutung gewesen sein, den allein ein zur Bürgerschaft gehörendes Individuum hatte in Athen die Möglichkeit, Prozesse zu veranlassen, da es keinerlei Strukturen einer politischen Interessenvertretung gegeben haben dürfte. Interessengruppen oder oppositionelle Strömungen waren stets lose Einheiten, deren Vertreter sich nur unter konkreten politischen Voraussetzungen zusammen gefunden hatten.

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2. 6. Begrenzung der des Umfangs der Bürgerschaft

Der Umfang der zur Partizipation an den politischen Freiheiten Athens berechtigten Bürgern wurde, nachdem im 6. Jahrhundert ein behutsames Anwachsen der attischen Bürgerschaft gefördert worden war, in den 450er Jahren durch das von Perikles durchgesetzte Bürgerschaftsgesetz weitgehend begrenzt. Nunmehr war die Heirat eines Athener Bürgers mit einer nichtattischen Frau verboten bzw. die aus derartigen Verbindungen hervorgehenden Kinder wurden nicht mehr als Bürger Athens akzeptiert. Für die Verleihung der Bürgerrechte wurde eine komplizierte Prozedur, welche in der Volksversammlung durchgeführt wurde, installiert. So musste ein derartiger Antrag, nachdem er in einer Sitzung angenommen wurde, in der darauffolgenden mit einem Quorum von mindestens 6.000 Stimmen ratifiziert werden. "Der Grund für diese Maßnahme war, dass Athen die Anzahl seiner Bürger nicht mehr vergrößern konnte...". Das politische System Athens war auf eine breite Partizipation der Bürgerschaft an Verwaltung und Herrschaft ausgerichtet. Die eingeführte Aufwandsentschädigung ermöglichte es - wie bereits erwähnt - weiten Kreisen zumindest der in und um Athen wohnenden Bürger, ihre Recht wahrzunehmen. Das System selbst war auf eine relative Stabilität der Anzahl der partizipierenden Bürger angewiesen, da die Überschaubarkeit der Organe der direkten Vertretung gewährleistet werden musste. Die Teilnahme von ca. 6.000 Bürgern an einer parlamentarischen Versammlung stellte die Leitung vor enorme Probleme bei der Stimmenauszählung oder einer Debatte, da ja jeder Bürger das Recht zur Rede hatte. Auch musste die Größe der zu zahlenden Aufwandsentschädigungen kalkulierbar bleiben, um die Staatsfinanzen nicht zu ruinieren. Weiterhin ist die weitgehende Begrenzung des Zuflusses von außerattischen Elementen von Bedeutung für die innere Identifikation der Bürgerschaft mit dem Staat. Die Begrenzung der Bürgerschaft diente in Athen der Aufrechterhaltung der Funktion des Staates und somit der Sicherung der Grundlage der attischen Verfassung. Diese Art von Verfassungsschutz ist für die Existenz eines Gemeinwesens, welches auf direkter Vertretung durch die Bürgerschaft basiert, von entscheidender Bedeutung und somit auch gerechtfertigt.

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3. Zusammenfassung

Die Gestalter des politischen Systems der attischen Demokratie hatten die Bedeutung des Schutzes der Verfassung des Staates erkannt und gegen die konkreten Gefährdungen durch politisch handelnde Personen und Staatsbedienstete abzusichern versucht. Die potentiellen Gefahren wurden vor allem im Inneren des attischen Staates gesehen. Die Rückkehr zur Tyrannis durch die Machtergreifung einer einzelnen Person war - ob der historischen Erfahrung - allgemein gefürchtet, und man suchte diese durch umfassende Einbindung des Politikers in ein umfassendes System der Eigenverantwortung für sein Handeln und der Kontrolle der durch ihn durchgesetzten Beschlüsse und Gesetze auf Verfassungskonformität zu verhindern. Das System der direkten Vertretung der Bürger und vollen Souveränität der Bürgerschaft bei der Staatsführung bot dem Einzelnen geradezu den Anreiz, sich aus der Masse zu erheben und diese durch seine Erscheinung und rhetorisches Geschick zu manipulieren. Die drohenden harten Strafen sollten die Gewähr dafür bieten, dass derartige Erscheinungen in jenem Moment unterbunden wurden, als sie - nach Meinung der Bürger - der Verfassungsgrundlage gefährlich werden würden. Der Bürgerwille, und sei es der, eines Einzelnen, war überhaupt Maßstab für die Aktivierung der Schutzmechanismen. Beim Scherbengericht nannte der Bürger den ihm unangenehmen Politiker; der Bürger war berechtigt, einen anderen verfassungsgefährdender Delikte zu bezichtigen, die darüber entscheidenden Gerichte waren quasi Instrumente des Volkswillens; ja selbst die Normenkontrollinstanzen waren Gremien aus der Mitte der Bürgerschaft und somit deren Willen verpflichtet. Es setzte sich also im Bereich des Verfassungsschutzes fort, was Motor des freien politischen System Attikas war: Das Primat des Volkswillens. Demzufolge stand die umfassende Einbindung der Politiker, was auch auf Beamte zutraf, nicht im Widerspruch zur politischen Freiheit, sondern war die aus der politischen Freiheit resultierende Konsequenz. Der Verfassungsschutz war im demokratischen Athen in funktionaler Weise geregelt, er diente der Erhaltung der Verfassungsgrundlage, solange diese in der Bürgerschaft akzeptiert wurde, d. h. er erfüllte seinen, im demokratischen System ihm zugedachten Zweck.

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© Olaf Freier (1994)