Hypertexte unterscheiden sich von linearen Texten nicht nur durch ihren nicht-linearen Aufbau. Das Schreiben eines Hypertextes wird oft von einer grundsätzlich anderen Strukturierungsphilosophie geleitet, und als Folge der Nicht-Linearität muß auf andere Kohäsion stiftende Mittel zurückgegriffen werden. Diese Unterschiede haben Auswirkungen auf den Lese- und Verstehensprozeß, die unter den beiden Begriffen "Desorientierung" und "kognitive Überlastung" in der Hypertext-Literatur ausführlich diskutiert werden.
Zwei Strukturierungsphilosophien
Hypertexten liegt eine grundsätzlich andere Strukturierungsphilosophie zugrunde als traditionellen Lehrtexten. Bei traditionellen Texten wird der Prozeß der Linearisierung bzw. Hierarchisierung (das sorgsame Legen des "roten Fadens") als eine entscheidende Leistung der Autorin angesehen. Die Fähigkeit der Autorin, die Wissenseinheiten in eine sinnvolle, verständliche Reihenfolge zu bringen, die klare Unterscheidung von Übergeordnetem und Untergeordnetem, von Wichtigem und weniger Wichtigem bestimmt entscheidend mit, wie gut aus einem Buch gelernt werden kann. Dazu muß die Autorin sich in die Lage der Lernenden versetzen und den Sachverhalt aus dieser Perspektive heraus ausbreiten: die komplexe, vernetzte Wissens-Struktur wird in eine möglichst einfache, hierarchische Struktur überführt, die der vernetzten Struktur möglichst nahe kommt. Die hierarchische Textstruktur ist somit eine Reduktion der tatsächlichen Inhaltsstruktur und kann als ein Kompromiß angesehen werden, den die Autorin eingeht, um zwischen der exakten, möglichst umfassenden Darstellung des Themas und den Fähigkeiten der Leserin zu vermitteln.
In hierarchisch aufgebauten Texten werden mehrere Ideen unter einem bestimmten Aspekt zusammengefaßt, als zusammengehörig und damit auch als unterschiedlich von anderen Aspekten deklariert. Hierarchische Relationen übernehmen somit eine global ordnende Rolle. Sie setzen die Textelemente zueinander in Beziehung, ohne deren semantische Relationen untereinander genau zu spezifizieren. Ein Unterpunkt kann zu seinem übergeordneten Punkt in einer ganz anderen semantischen Relation stehen als dies für zwei andere Textelemente gilt, die in derselben hierarchischen Relation zueinander stehen. Auch die unter einem Aspekt zusammengefaßten Unterpunkte können in sehr unterschiedlichen semantischen Relationen zueinander stehen. Es können bloße Aufzählungen sein, Argumentationsketten, verschiedene, aber aufeinander bezogene Standpunkte, die zu einem bestimmten Thema vertreten werden, zeitliche Abfolgen, usw.Die semantischen Relationen werden innerhalb des Textes selber ausgedrückt.
Auch Texte sind in den seltensten Fällen inhaltlich rein hierarchisch strukturiert, sondern mehr oder weniger stark vernetzt. Hierarchische Textstrukturen sind eher als Orientierungshilfen anzusehen, die - in Einklang mit der Inhaltsstruktur - über den Text gestülpt werden. Meist sind verschiedene Hierarchien denkbar, d.h. es gibt mehrere Möglichkeiten, Textabschnitte unter bestimmten Aspekten zusammenzufassen. Die Entscheidung für eine der verschiedenen Möglichkeiten liegt bei der Autorin.
Hierarchische Strukturen haben die Eigenschaft, daß die Stellung eines Elementes innerhalb der Hierarchie vielfältige Hinweise auf seine Bedeutung im Gesamtzusammenhang liefert: die Position gibt Auskunft über die relative Wichtigkeit, das Verhältnis zu übergeordneten, untergeordneten und auch gleichgestellten Elementen. Es ist somit an jeder Stelle klar, in welchem Kontext die einzelnen Textabschnitte zu interpretieren sind. Nicht-hierarchische Relationen und deren semantische Bedeutung werden in den Text integriert. Ferner sind hierarchische Strukturen minimal verknüpfte Strukturen. Sie verfügen über N Knoten und N-1 Relationen. Alle anderen Strukturen (außer lineare) mit der gleichen Anzahl von Knoten verfügen über mehr Verknüpfungen.
Die Hypertexten zugrundeliegende Strukturierungsphilosophie ist eine grundsätzlich andere. Anstatt das Schwergewicht auf die Reduktion der Komplexität des Sachgebietes durch eine Hierarchisierung der Wissenseinheiten zu legen, wird angestrebt, die komplexe Inhaltsstruktur möglichst umfassend und in allen Einzelheiten auch an der Textoberfläche abzubilden. Anders ausgedrückt: Die Autorin kann vielfältige Verknüpfungen erstellen und so eine dem Thema und ihrem eigenen Wissen entsprechende, vernetzte Struktur aufbauen.
Vernetzte Hypertext-Strukturen verfügen im Vergleich zu hierarchischen Strukturen bei gleicher Anzahl von Wissenselementen über mehr Verknüpfungen an der Oberfläche.
Hinweise auf die relative Bedeutung des Wissenselementes innerhalb des Gesamtzusammenhangs nicht oder nicht in dem Maße deutlich, wie das bei hierarchisch strukturierten Texten der Fall ist. Ein Wissenselement bzw. Knoten ist zwar auch mit einer Reihe anderer Elemente verknüpft, die Relationen haben aber eher lokale Bedeutung, d.h. sie sind nur im Zusammenhang mit dem gerade zuvor gelesenen Knoten interpretierbar. Die Beziehungen zu weiter entfernt liegenden, durch mehrere Links voneinander getrennten Knoten ist aus diesen lokalen Relationen nicht direkt ableitbar.
Die strukturelle Unterschiedlichkeit der den beiden Textarten zugrundeliegenden Strukturierungs-Philosophien besteht natürlich in konkreten Texten bzw. Hypertexten nie in dieser Deutlichkeit. Auch lineare Texte verfügen, wie oben schon angedeutet wurde, über nicht-lineare Strukturen, allerdings werden diese in Texten möglichst sparsam eingesetzt und weniger explizit gemacht. Sie treten gegenüber der dominierenden hierarchischen Struktur in den Hintergrund.
Auf der anderen Seite sind aber auch Hypertexte nicht völlig "strukturlos". In ihnen spielen aber die referentiellen, assoziativen Verknüpfungen die zentrale Rolle. Typisierten Links, mittels derer hierarchische oder andere, ordnende Strukturen aufgebaut werden, kommt nur eine untergeordnete Bedeutung zu.
Kohäsion und Kohärenz
Obwohl es keine einheitlich anerkannte Definition von "Text" gibt, so wird doch allgemein akzeptiert, daß ein Text ein kohärentes Ganzes ist. Ein Text ist kohärent, wenn die in ihm enthaltenen Informationen so aufeinander bezogen sind, daß auf Seiten der Leserin keine Informationslücken oder -brüche entstehen. Diese Kohärenz wird erreicht durch grammatikalische Mittel der Kohäsion (z.B. durch Pronomina, Konjunktionen) und durch inhaltlich-semantische, kohärenzbildende Strukturen. Beispiele für solche Kohärenz stiftenden Elemente sind zB:
- die Thematisierung nicht-neuer Gegenstände,
- Kausalanknüpfungen,
- Motivanknüpfungen,
- diagnostische Interpretationen,
- Spezifizierungen,
- metasprachliche Einordnungen,
- Temporalanknüpfungen,
- Vergleiche, usw.
In Texten stehen also vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung, innerhalb des Textes auch abschnitts- bzw. kapitelübergreifende Zusammenhänge herzustellen. Ferner kann auch bei nicht-linearer inhaltlicher Struktur auf schon zuvor Gelesenes verweisen werden, oder es wird - sozusagen zur Beruhigung der Leserin - auf noch kommende Textabschnitte verwiesen. Durch einleitende Sätze kann angedeutet werden, in welcher Relation die folgenden Sätze oder auch Abschnitte zueinander stehen und folglich zu interpretieren sind.
Bei nicht-linearen Hypertexten sieht die Situation anders aus. Da die Leserinnen auf die Knoten eines Hypertextes in beliebiger Reihenfolge zugreifen können, darf der Inhalt eines Knotens nicht für das Verständnis eines anderen vorausgesetzt werden. Die Knoten eines Hypertextes müssen folglich in sich abgeschlossene, semantisch und syntaktisch diskrete Informationseinheiten bilden, die für sich alleine verständlich sind Ein in sich abgeschlossener Knoten wird erzeugt, indem er keine auf vorhergehende Knoten verweisende Pronomina enthält. Durch diese Abgeschlossenheit wird eine Textfragmentierung hergestellt, die nicht nur den Vorteil der beliebigen Lesereihenfolge mit sich bringt, sondern auch den Nachteil, daß übliche, Kohäsion und Kohärenz bildende Strukturen zwischen den Knoten nicht mehr anwendbar sind.
Beispiele für die die Abgeschlossenheit verletzende Formulierungen sind
- Zweitens ...
- Nachdem ...
- Wie wir schon in Kapitel 3 gesehen haben, ...
- Er ...
Solche Formulierungen machen in Hypertexten, sofern sie sich auf Inhalte anderer Knoten beziehen, keinen Sinn, da man nie davon ausgehen kann, daß die Leserin den Knoten, auf den verwiesen wird, schon gelesen hat.
In Hypertexten wird knotenübergreifende Kohärenz durch die Links hergestellt. Sie zeigen an, daß eine Relation zwischen zwei Knoten besteht. Sind die Links zusätzlich typisiert, dann zeigen sie auch die Art der zwischen den Knoten bestehenden Relation an. Auch wenn man zwei Knoten und den sie verbindenden Link als Subjekt-Prädikat-Objekt-Struktur konzipiert, so ist dies doch ein sehr beschränktes und umständliches kohärenzbildenes Mittel. Die durch Hierarchien herstellbare globale Kohärenz ist bei Hypertexten nicht mehr gegeben. Hier findet man nur lokale Kohärenz, d.h. die über die Links vermittelte Beziehung zwischen benachbarten Knoten.