"Wenn man sich tot fühlt, hat Blut etwas Belebendes."

Geschätzte zwei Prozent der Bevölkerung schneiden sich regelmäßig die Arme auf und verstümmeln sich somit bewusst selbst. Doch nicht, weil sie sich umbringen möchten. Im Gegenteil: sie wollen leben!

Die schwarzgeschminkten Augen und das leichenblasse Gesicht lassen sie wie einen Vampir aussehen. Vielleicht auch ein bisschen wie eine Tote. Doch das Funkeln in ihren Augen widerlegt das. Ihren Namen möchte das Mädchen aus Kassel nicht nennen. "Meine Eltern dürfen nichts wissen." Und doch erzählt die 16jährige Schülerin ganz offen, dass sie sich regelmäßig Arme und Beine aufschneidet, als wäre es das Normalste der Welt, so normal wie Zähneputzen und Beinerasieren. Wobei das Beinerasieren für das selbsternannte Punk-Gothic-Mädel mit den buntgefärbten Haaren des öfteren schon schlimme Folgen hatte: "Wenn ich mich dabei aus Versehen schneide und das Blut sehe, ist das wie ein Rausch. Dann schneide ich mich einfach immer weiter."

Ihre Freunde, die die Narben an ihrem Körper entdeckten, reagierten mit Vorwürfen und versuchten, ihr das Schneiden auszureden, manche ignorierten es auch. Dr. Gerhard Paar von der psychosomathischen Klinik in Geldern hält gerade das für den größten Fehler. "Menschen, die keine spezifische Ausbildung haben, neigen dazu, sich aus Schrecken und Unverständnis zurückzuziehen. Das ist falsch. Man darf die Betroffenen nicht alleine lassen, sondern sollte Gesprächskontakt anbieten. Man muss keine Antworten geben können, aber zuhören." Wer sich schneidet, fühlt sich unverstanden, kann sich ja nicht einmal selbst verstehen. Und gerade deswegen sollten Freunde unbedingt das Gespräch suchen.

Obwohl dies bei ihr nicht geschah, kann das Mädchen mit ihrer Sucht ganz gut leben, hat sogar schon geeignete Rezepte für die Selbstverletzung gesammelt: "Wenn man Teebaumöl auf die Wunde tut, brennt es zwar, aber es bleiben keine Narben!" Eine Expertin, was Selbstverstümmelung betrifft. Aber warum?

"Ich mach das, seit ich 14 bin. Ich fühlte mich nicht gut und versuchte damit, meinen inneren Schmerz zu überspielen - und das schaffte ich auch."

Nicht nur sie. Hunderttausende fügen sich selbst bewusst Schmerzen zu. Die meisten davon sind Mädchen oder Frauen. Auch Prominente wie Lady Di und der Hollywood-Star Anglina Jolie bekannten sich dazu. Während Jungen ihre Aggressionen gerne an anderen auslassen, greifen viele Mädchen zur Rasierklinge, um sich in den linken Unterarm zu ritzen. In der Fachsprache nennt man das dann Selbstverletzendes Verhalten (SVV), für die Betroffenen ist es einfach nur "Schnippeln" oder "Ritzen" - und in den meisten Fällen eine Sucht.

Die 16jährige Dagmar, die mit Vorliebe schwarze Klamotten trägt und gerne lächelt, auch wenn sie selten Grund dazu hat, erklärt den Sachverhalt folgendermaßen: "Das Ritzen schafft eine Erleichterung, die an den Masochismus der Selbstbestrafung grenzt. Ich will nicht sterben. Im Gegenteil - ich will leben! Dieses Paradox steckt wahrscheinlich hinter vielen Schnipplern und Selbstmördern. Der Hunger nach Leben wird so quälend, dass man es beendet, um nicht miterleben zu müssen, dass man nicht wirklich leben kann."

Auch Experten wie der Psychotherapeut Dr. Gerhard haben erkannt, dass Selbstverletzung nicht mit Selbstmordversuch gleichgesetzt werden kann: "Selbstverletzung dient nicht dazu, sich zu vernichten, sondern sich zu bewahren." Trotzdem sind viele Ärzte mit der Diagnose noch immer überfordert und halten Schnittverletzungen in der Regel für Suizidversuche.

Dagmar, die in einem Dorf in Bayern lebt und wie viele Betroffene der Gothic-Szene angehört, wollte sich nie umbringen. Und doch begann sie vor über einem Jahr, sich zu verletzen, obgleich sie noch ein halbes Jahr zuvor schockiert reagierte, als sie bei ihrer besten Freundin ein ins Handgelenk geritztes Kreuz entdeckt hatte.

Selbstbewusst und wohldurchdacht erzählt das hübsche Mädchen, wie alles anfing: "Das war, soweit ich mich erinnere, in einer meiner ganz üblen Phasen, wo ich nichts weiter tun konnte, als rumsitzen und heulen. Ich hasste mich, ich wollte mich dafür leiden lassen, dass ich so ein Versager war." Die Bastelschere aus Kindertagen wurde zum ständigen Begleiter. Aus einem Kreuz am Arm wurde ein Gittermuster. "Einige Schnitte hab ich mir nur aus ästhetischen Gründen zugefügt."

Die Reaktionen waren die altbekannten: alles von Unverständnis bis zu Ekel. Gerade das, was eine Schnipplerin nicht gebrauchen kann. "Meine Mutter stand dem total verständnislos und hilflos gegenüber. Sie wollte mich in die Psychatrie einweisen lassen." Dagmar wollte Hilfe, aber nicht auf diese Art und Weise. Eine Therapie kam für sie nie in Frage.

Wie Dagmars Mutter reagieren viele Eltern, sofern sie die Narben überhaupt entdecken. Jugendliche, die unter SVV leiden, werden oft zu wahren Versteckkünstlern und schaffen es, mit den scheinbar unsinnigsten Ausreden, ihren Eltern die Sorgen zu nehmen. Werden diese aber doch direkt mit der Selbstverstümmelung ihrer Kinder konfrontiert, sind sie meist überfordert und wissen überhaupt nicht, wie sie ihrem Kind am besten helfen können.

Dagmars stumme Hilfeschreie wurden immer verzweifelter. "Ich schlief absichtlich zu wenig, aß ungesund oder gar nichts mehr, trank dafür zuviel." Als sie am letztjährigen Heilig Abend aufgrund eines Zusammenbruchs im Krankenhaus landete, dichtete man ihr einen Selbstmordversuch an.

Sascha (22) hat mittlerweile vier Selbstmordversuche hinter sich. Er ist einer der wenigen Männer, die sich absichtlich physischen Schmerz zufügen, und er tut es seit Jahren. "Es fing damals damit an, dass ich zwölf war und wir in der Schule Sexualkunde hatten," berichtet er zögernd. "Da kam in mir hoch, was mir als sechsjähriges Kind passiert war." Vergewaltigung. "Ich fing an zu heulen und rannte aus dem Klassenzimmer zum Klo, wo ich mich einschloss und weinte. Wie aus einem Reflex heraus griff ich da zum ersten mal zum Messer." Am selben Tag noch brach Sascha den Kontakt zu allen männlichen Freunden ab und bestrafte sich mit dem Messer fortan täglich dafür, selbst ein Mann zu sein.

Schnippeln ist oft eine Reaktion auf Vergewaltigung, aber nicht ausschließlich, wie viele behaupten. Außerdem ist es lediglich ein Gerücht, dass alle Schnippler der Gothic- oder Punk-Szene angehören. Sascha widerlegt es: "Bei Punks und Gruftis ist es auch eine Frage der Ästhetik, darum gehen sie offener mit dem Schneiden um, während sich die vielen anderen, die ganz normal scheinen, eher dafür schämen und man es bei ihnen darum nicht so schnell erkennt." Doch gerade Sascha, dessen Erzählungen des öfteren von Kicheranfällen und kleinen Gesangseinlagen unterbrochen werden, erfüllt die Schnippler-Klisches. Sein schwarzes Outfit verrät alles - und das Geschehnis seiner Kindheit prägte ihn.

Zora aus Karlsruhe dagegen behauptet, niemals auch nur geschlagen worden zu sein. "Ich habe auch sehr viele Freunde, die schnippeln. Die wenigsten davon wurden vergewaltigt, aber sie alle haben sehr große Probleme mit dem Leben." Das quirlige Punk-Mädchen gab sich selbst den Spitznamen Zora. Wie die rote Zora - rot wie ihre Haare und rot wie Blut. Obwohl die 18jährige Schülerin ansich panische Angst vor Blut hat und bei jeder Blutabnahme einer Ohnmacht nahe ist, griff sie aus Verzweiflung zum Skalpell, das nun immer einsatzbereit auf ihrem Schreibtisch liegt. Die täglichen Heulanfälle brachten sie dazu. Mit einem zögerlichen Blick auf ihren zerschnittenen linken Unterarm flüstert sie: "Es war von Anfang an eine Sucht und wurde gleich zum Ritual. Erst habe ich mich nur sehr unregelmäßig geschnitten, später wurden die Gründe immer lapidarer und die Schnitte dafür immer tiefer. Mittlerweile habe ich fast jede Woche einen Anfall. " Für die Narben schämt sie sich nicht, möchte sogar, dass sie gesehen werden und zieht Blicke auf ihren linken Arm, indem sie das Handgelenk mit Handschellen schmückt. "Es ist für mich auch eine Art Solidaritätszeichen", berichtet die politisch engagierte Musikerin mit ein wenig Stolz in der Stimme. "So viele Menschen auf der Welt müssen leiden. Ich füge mir selbst Schmerzen zu, weil ich es für ungerecht halte, dass andere so viel Schmerz von außen zugefügt bekommen und ich nicht. Außerdem halte ich es für besser, meine Aggressionen gegen mich selbst zu richten als gegen andere." Sie grenzt sich damit auch von der Gesellschaft ab, macht sich freiwillig zum Außenseiter. Und doch hofft sie darauf, dass ihr Verständnis entgegengebracht wird. "Das wollen wir doch alle: Verstanden werden!"

Ob sie das Leben liebt? - Das Leuchten in ihren blauen Augen erlischt. "Das Leben ansich liebe ich schon, aber nicht das Leben in dieser Welt. Ich mag die Menschen nicht. Ich bestrafe mich dafür, dass ich selbst einer bin."

Dagmar führt diesen Gedanken noch weiter, wenn sie sagt: "Es waren weniger die Schmerzen, die ich spüren wollte, sondern es war ein symbolischer Akt der Purifikation. Ich gab mir dadurch eine Art Absolution von meinen Verfehlungen, für die ich mich so hasste."

Hass spielt bei allen eine Rolle - doch ebenso die Liebe. Die Liebe zum Leben. Was symbolisiert das Leben besser als Blut? Die Sucht nach dem Leben wird zur Sucht nach dem Blut. Und wer einmal mit der Selbstverletzung anfängt, findet nur sehr schwer wieder aus diesem Teufelskreis heraus.

Helfen können dabei am besten Experten. Zwar können Selbsthilfegruppen im Internet kurzfristige Entspannung schaffen, doch das grundlegende Problem wird durch das Chatten nicht gelöst. Einem Arzt anvertrauen sollte man sich, laut Dr. Gerhard Paar, sobald klar ist, dass das selbstverletzende Verhalten nicht nur eine Mode ist. Wenn man sich längerfristig und immer regelmäßiger schneidet. "Wenn man ohne das Schneiden nicht mehr auskommt, wenn es zur Sucht wird, ist dringend ärztliche Hilfe nötig. Außerdem, wenn das Mädchen weiß, dass das Schneiden in einem Zusammenhang mit Gewalterfahrung steht. Wenn der Freund oder der Vater prügelt oder gar ein Missbrauch stattgefunden hat. Das legt sich nicht von selbst."

Der erste Schritt in die richtige Richtung ist es, sich seinem Hausarzt anzuvertrauen. Danach wird in der Regel der Kontakt zu einem Psychotherapeuten hergestellt, mit dem man in regelmäßigen Gesprächen die Problematik behandelt. Auch wenn eine stationäre Behandlung nötig sein sollte, bekommt man ohne allzulange Wartezeiten einen Therapieplatz.

Sascha begann eine Therapie, doch weil er sich unverstanden fühlte, brach er sie ab und fiel zurück in seine Sucht: "Ich fand es sehr ästhetisch zu sehen, wie diese kleinen roten Perlen über meine glatt rasierte Haut rannen, das zog mich in eine Art Bann, eine Trance, und es nahm mir auch für einen Moment die Alpträume."

Das fließende Blut hat für alle Schnippler etwas Befreiendes, da es sie spüren lässt, dass sie noch am Leben sind. Und nicht zuletzt dient der physische Schmerz dazu, den psychischen zu verdrängen. "Blutende Arme sind besser als ein blutendes Herz", lächelt Zora.

Menschen mit blutenden Herzen muss geholfen werden, denn meist sind sie zu schwach, um sich selbst zu helfen. Leider bekommen die wenigsten Betroffenen Hilfe angeboten, auch wenn ihre Narben nicht zu übersehen sind. Die Narben, die den inneren Schmerz nach außen kehren. Die Narben bleiben immer, werden immer zeugen von dem seelischen Schmerz.

"Jetzt habe ich schon seit Monaten nicht mehr geschnippelt", erwähnt Dagmar, die froh ist, ihre Sucht nach Selbstverletzung überwunden zu haben. "Die Narben verblassen. Aber sie sind da. Sie gehören zu mir."