Leonardo da Vinci und die Neuerfindung des Christentums

Warum das Abendmahl nicht nur die Kunstwelt veränderte

von Manfred Christ

Jahrhundertelang verharrten die Apostel in stiller Andacht und Regungslosigkeit. So wollten es jedenfalls die Maler des Letzten Abendmahls bis ins ausklingende 15. Jahrhundert hinein. Doch plötzlich herrscht Aufruhr in der heiligen Gesellschaft. Einige der Jünger springen heftig gestikulierend von ihren Sitzen auf – der Schreck ist ihnen sichtlich in die Glieder gefahren. Anderen steht die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Soeben haben sie erfahren, dass sich ein Verräter unerkannt in ihrer Mitte befindet.

Leonardo, Abendmahl

Leonardo da Vinci war es, der in seinem Abendmahl von Santa Maria delle Grazie in Mailand das damals besonders als Wandschmuck für Klosterrefektorien populär gewordene Motiv durch ein Stück psychologischer Wahrheit bereicherte. Er erkannte die ungeheure Provokation der Worte »Einer unter euch wird mich verraten!«, zog daraus erstmals künstlerische Konsequenzen und sprengte mit seiner lebendig-bewegten Komposition den vorherrschenden Bildkanon, dessen Variationen sich bis dahin im dekorativen Beiwerk erschöpften. Die Apostel verlieren nicht nur ihr Rangabzeichen, den Nimbus. Die Ungeheuerlichkeit der Verratsankündigung weckt ihre Emotionen, die sie teils zu heftigen Reaktionen veranlassen. Sie werden dabei aus ihrer untergeordneten, assistierenden Rolle befreit, verwandeln sich vom Beobachter zum Akteur, vom Wissenden zum Fragenden, vom Typus zur Individualität, und rücken uns damit selbst dem Geschehen näher.

Doch nicht der skandalöse Verrat ist der eigentliche Grund für die Erregung. Woraus die Dramatik des Augenblicks wirklich resultiert, zeigt erst die Sprache der ausdrucksgeladenen Gestik. Hinter allen Gemütsäußerungen steht eine einzige Frage: »Bin ich zu einer solchen Tat fähig?« Noch darf sich der Verräter hinter dem Schleier der Anonymität verbergen, und so richtet sich der Verdacht jedes Einzelnen zunächst auf die eigene Person. Es ist der Selbstzweifel, die dunklen Flecken in der eigenen Seele, die durch die Worte Christi unvermutet in ihrer tiefsten Schwärze sichtbar werden. Allein drei Gestalten bleiben davon unberührt: Judas und Christus in ihrer Selbstgewissheit als Täter und Opfer, und nur Johannes bewahrt als einziger der übrigen Apostel die Ruhe, nur er scheint Christus in innerer Teilnahme in die Einsamkeit des bevorstehenden Leides folgen zu können.

Man kann wohl mit einiger Berechtigung sagen, dass erst mit Leonardos Abendmahl das Böse in die Kunst einzieht. Nicht etwa als allgegenwärtige Weltmacht, als metaphysische Konstante, als kosmischer Schrecken, als der es in der mittelalterlichen Malerei immer wieder drastisch und unmissverständlich visualisiert wurde, sondern in seiner tatsächlichen Wirkungsweise, die sich des menschlichen Willens bemächtigt. Es präsentiert sich nicht plakativ, fratzenhaft, mit offenem Visier, sondern nuanciert, gebrochen, in unterschiedlichen Grauwerten, oft hinter der Maske des Guten verborgen. Es zeigt sich erst auf den zweiten Blick, verborgen in Physiognomie, Ausdruck und Kolorit, mit künstlerischer Raffinesse und subtilsten Mitteln angedeutet. Inkognito schleicht es sich in die heilige Gesellschaft ein, nistet unbemerkt in jedem einzelnen Apostel, und erst als Christus mit seinen Worten die Lunte zündet, macht es sich in seiner ganzen Sprengkraft bemerkbar. Jeder könnte der Verräter sein, der gewaltbereite Petrus, der zweifelnde Thomas, selbst der entrüstete Philippus – und natürlich Judas, der das Unfassbare schließlich in die Tat umsetzt.

Leonardo, Abendmahl

Abbildung links:
Leonardo gelingt es, die wesentlichen Aspekte des Seelendramas in dieser Gruppe unterschiedlichster, aber kompositorisch eng verzahnter Gestalten zu komprimieren. Judas (links) wird Johannes (rechts), der äußerlich völlig teilnahmslos erscheint, als dessen durch Beleuchtung, Körpersprache und Profilansicht deutlich gekennzeichneter Antipode direkt an die Seite gestellt. Dazwischen schiebt sich Petrus, der den Gegensatz beider Gestalten in sich vereint: Scheinbar unbeeindruckt vom äußeren Tumult flüstert er Johannes die Frage nach dem (ihm unmittelbar benachbarten!) Täter ins Ohr, während er hinter dem Rücken (auf der Judas zugewandten Seite) drohend das Messer hält.


Abbildung rechts:
Das «Sprechende» des Gestus zeigt sich besonders eindrucksvoll bei Philippus (rechts) und Jakobus dem Älteren (Mitte). – Unmissverständlich die Geste des Philippus, die Goethe in folgende Worte übersetzte: «Herr, ich bin’s nicht! Du weißt es! Du kennst mein reines Herz.» Jakobus der Ältere (links) dagegen wirft unkontrolliert die Arme nach außen, was als Zerrbild der bedächtig ausgebreiteten Arme Christi betrachtet werden kann.

Die Komposition des Abendmahls bedeutet künstlerisch und bewusstseinsgeschichtlich einen jähen Abbruch der bestehenden Bildtradition. Die Fähigkeit zu einer solch neuartigen Bildauffassung nimmt Leonardo gewiss nicht aus einem ohnehin problematischen Verhältnis zur kirchlichen Glaubenslehre, wenn nicht gar zum Christentum selbst. Wer in die inneren Abgründe des Christus-Verrats eintaucht, muss sich selbst die Frage gestellt haben, zu welcher Tat er fähig ist. Die Quelle für Leonardos Kunst ist die tabulose Selbsterforschung, bei der er nicht minder konsequent nach Ausdrucks- und Erscheinungsformen für die unterschiedlichen Seelenkräfte sucht als bei seinen zahllosen Skizzen und physiognomischen Studien, die ihm als Vorlage seiner Apostelgestalten dienten. Diese bilden ebenso wie seine technischen Erfindungen Markierungen auf der Skala menschlicher Seelenverfassung, Ergebnisse einer Neuvermessung des geistigen Horizontes in einer Zeit der Entdeckungen und Grenzüberschreitungen, bei denen Leonardo weder Konventionen und moralische Tabus noch Grenzen der technischen Machbarkeit respektierte. Sein Denken und Schaffen war radikaler und moderner als das seiner Zeitgenossen, und seine Biografie würde weitaus eher in die Welt des 20. Jahrhunderts passen.

Die Kunstwissenschaft tut sich bis heute herzlich schwer mit dem Phänomen Leonardo. Zu widersprüchlich seine Persönlichkeit, zu komplex seine Ideenwelt und zu fragmentarisch seine materiellen Hinterlassenschaften, um sie mit den Werkzeugen des historischen Diskurses zu enträtseln. Gleichwohl – oder gerade deshalb – um so begehrlicher der Versuch, ihrer habhaft zu werden. Jahr für Jahr erscheinen Dutzende von Veröffentlichungen, die sich ausschließlich mit Leonardo oder mit Teilaspekten seines Werks beschäftigen, ohne sich dem Geheimnis seines Genius wirklich zu nähern. Sie bleiben auch eine Erklärung schuldig, wie der Erfinder von Kriegsmaschinen, mit denen er modernen Massenvernichtungswaffen Pate stand, zum Urheber eines Bildes werden konnte, das von Rudolf Steiner als Schlüssel zum Sinn des Erdendaseins verstanden wurde.

Leonardo schuf sein Abendmahl als Wandgemälde für das Refektorium des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie in Mailand. Argwöhnisch verfolgte der Abt den Fortgang der Arbeiten. Gewiss war die langsame und unregelmäßige Arbeitsweise nicht der einzige Grund, sich beim Auftraggeber des Bildes, dem Herzog von Mailand, über den Künstler zu beschweren. Denn je mehr das Werk Gestalt annahm, desto deutlicher zeigte es sich, dass es keineswegs geeignet war, mönchische Disziplin und Subordination zu fördern. Was Leonardo schuf, markierte in der Tat das Ende des religiösen Andachtsbildes, obwohl – oder gerade weil – es ins Zentrum des christlichen Heilsgeschehens trifft, stärker, leidenschaftlicher und vor allem auch zeitgemäßer, als es jeder theologische Disput vermochte. Für ihn war es weitaus mehr als ein beliebiges Sujet – wie viele vielleicht meinen –, mehr als ein lästiger Tribut an seinen Auftraggeber und an seine Zeit, der er doch weit voraus war. An die Stelle distanzierter Verehrung setzt es die teilnehmende Betroffenheit, vermittelt es die Größe der Opfertat Christi und die Bewusstseinsverdunklung der Apostel, die in Judas ihre höchste Steigerung erfährt, zeigt es das Spektrum menschlicher Seelenverfassung zwischen Christusgegenwart und Geistesferne. Als Künstler nähert sich Leonardo der zentralen Problematik des christlichen Heilsgeschehens auf ähnliche Weise wie als Erfinder den technischen Grundlagen von Flugmaschinen, Kriegsgerät und anderen Konstruktion. Er forscht nach Gesetzmäßigkeiten, Ursachen und Beweggründen, er experimentiert mit den Möglichkeiten der Realisierung. Auch das Christentum musste neu erfunden werden. Leonardo hat es mit seiner Abendmahlsdarstellung getan.

Leonardo, der analytische Denker und scharfsinnige Beobachter, konnte das Ideal des Menschen, dessen Wiederentdeckung sich die Renaissance rühmt und das auch das eigentliche Zentrum des Abendmahls bildet, nur dadurch wiedergewinnen, dass er mit bestehenden Konventionen brach, dass er die vielfältigen Ausdrucksformen des Lebendigen, die er mit enzyklopädischer Sorgfalt in einer immensen Anzahl von Skizzen und Aufzeichnungen sammelte und studierte, nach seiner eigenen, neuartigen Rezeptur zu einem Ganzen formte. Im orchestralen Zusammenspiel ergänzen sich unterschiedliche Temperamente, Lebensstufen und Emotionen der aus ihrer Teilnahmslosigkeit erwachten Figuren zu einem universellen Bild des Menschen, ohne dass die einzelnen Individuen ihre Selbstständigkeit preisgeben. Die Rolle der Apostel, von früheren Malern stets nur mit Komparsen besetzt, hat sich bei Leonardo grundlegend gewandelt. Neben Christus agieren nun zwölf Hauptdarsteller im Weltendrama um Liebesopfer, Verrat und Martyrium. Georg Simmel hat die eigentliche Botschaft des Bildes in diesem Sinne als »Lebensproblem der modernen Gesellschaft« gedeutet: »Wie aus individuell absolut verschiedenen und gleichberechtigten Persönlichkeiten eine organische Geschlossenheit und Einheit werden könnte, ist hier in der Vorwegnahme im Bilde gelöst.« Auch Judas – bei Leonardo in die Reihe der Apostel integriert – ist daran beteiligt. Auch der Verräter hat eine Stimme im polyphonen Zusammenspiel der Charaktere. Und auch er hat Anteil am christlichen Heilsgeschehen, unter dessen Vorzeichen sich das Erwachen zur Individualität vollzieht.

Leonardos Aktualität wurde zu allen Zeiten empfunden. Kein anderes Gemälde wurde öfter reproduziert als das Abendmahl, kein anderes Werk der bildenden Kunst übte einen stärkeren Einfluss auf Künste und Gesellschaft aus, und man wäre geneigt, es als die Ikone der Moderne zu bezeichnen, würde dieser Terminus nicht dem neuartigen Kunstbegriff widersprechen, den es proklamiert. Denn im Zeitalter der Bewusstseinsseele zeichnet sich große Kunst, um es mit Worten Nietzsches auszudrücken, dadurch aus, »dass sie in sich den Anreiz besäße, eine Veränderung zu suchen«. Leonardo hat mit seiner Kunstauffassung nicht nur epochale Veränderungen an der Wende zu einer neuen Zeit vollzogen, sein Mailänder Abendmahl fordert sie immer wieder aufs Neue heraus. Die restauratorische Wiedergewinnung dieses Bildes trägt dazu bei, dass wir uns auch im 21. Jahrhundert dieser Wirkung nicht entziehen können.

Literaturhinweis:
Allein im 18. Jahrhundert wurde Leonardos Abendmahl zweimal vollständig übermalt. Erst seit 1999 ist das Gemälde wieder in seinem Originalzustand zu sehen, nachdem die Reste der ursprünglichen Bildsubstanz freigelegt und spätere Zutaten entfernt wurden. Die im Pforte Verlag erschienene Werkmonografie des Abendmahls von Michael Ladwein enthält die neuesten Abbildungen und führt an die wesentlichen künstlerischen und geistesgeschichtlichen Aspekte des Bildes heran.

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