rilkes gedichte


- herbsttag -

herr, es ist zeit.
der sommer war sehr groß.
leg deinen schatten auf die sonnenuhren
und auf den fluren
lass die winde los.

befiel den letzten früchten voll zu sein
gib ihnen noch zwei südlichere tage
dränge sie zur vollendeung hin
jage die letzte süße in schweren wein

wer jetzt kein haus hat, baut sich keins mehr
wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben
wird wachen, lesen, lange briefe schreiben

und wird in den alleen hin und her
unruhig wandern
wenn die blätter treiben

rainer maria rilke


- Du musst das Leben nicht verstehen -

Du musst das Leben nicht verstehen
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen
von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen, seine Hände hin.

Rainer Maria Rilke


- liebeslied -

wie soll ich meine seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern dingen?
ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
verlorenem im dunkel unterbringen
an einer fremden stillen stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine tiefen schwingen.
doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein bogenstrich,
der aus zwei saiten eine stimme zieht.
auf welches instrument sind wir gespannt?
und welcher spieler hat uns in der hand?
O süßes lied.

Rainer Maria Rilke


- prolog zum bocklet des albums "bis in alle sterne" vom rilke projekt -

... und ich möchte Sie, so gut ich es kann,
bitten Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in
Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst
liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie
Bücher, die in einer fremden Sprache geschrieben
sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten,
die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie
nicht leben könnten. Und es handelt sich darum,
alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht
leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken,
eines fernen Tages in die Antworten hinein.

Rainer Maria Rilke


- Über die Stille -

Wenn es nur einmal so ganz still wäre.
Wenn das Zufällige und das Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen ...

Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken
bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken wie einen Dank.

Rainer Maria Rilke


- ich lebe mein leben -

ich lebe mein leben in wachsenden ringen,
die sich über die dinge zieh'n.
ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

ich kreise um gott, um den uralten turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein falke, ein sturm
oder ein großer gesang.

rainer maria rilke


- Die Welt die monden ist -

Vergiss, vergiss,
und lass uns jetzt nur dies erleben,
wie die Sterne durch geklärten Nachthimmel dringen,
wie der Mond die Gärten voll übersteigt.

Wir fühlten längst schon, wie's spiegelnder wird im Dunkeln;
wie ein Schein entsteht,
ein weißer Schatten in dem Glanz der Dunkelheit.
Nun aber lass uns ganz hinübertreten
in die Welt hinein
die monden ist

Rainer Maria Rilke
Paris, Frühsommer 1909


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