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Cyber-Mobbing Tod eines Teenagers

Megan war 13 und über beide Ohren in eine Internet-Bekanntschaft verliebt. Als ihr virtueller Freund sie plötzlich verschmähte, erhängte sich das Mädchen. Doch der virtuelle Freund war in Wahrheit eine ehemalige Freundin, die sich rächen wollte. Jetzt stehen die Täter selbst am Online-Pranger.

Es hat über ein Jahr gedauert, bis die Welt auch außerhalb des Örtchens Dardenne Prairie in Missouri vom Tod der damals 13-jährigen Megan Meier Notiz nahm. Megan war Schülerin am örtlichen katholischen Privatgymnasium "Unbefleckte Empfängnis" - und hatte einen Traum: Der nannte sich Josh Evans und verdrehte seiner MySpace-Bekanntschaft gründlich den Kopf. Der gutaussehende 16-Jährige interessierte sich auf höchst angenehme Weise für das übergewichtige Mädchen, das als freundlich, aber depressionsgefährdet galt. Megan betete Josh an.

Megan war wohl das, was man ein behütet aufgewachsenes Kind nennt. Als sie Josh entdeckte, fragte sie erst ihre Mutter, ob sie ihn zu ihrem virtuellen Freund erklären dürfe. Mutter Tina Meier prüfte und sah, dass alles gut und anständig war: Josh bohrte und stocherte nicht, wollte nichts intimes wissen, keine Telefonnummer erfahren, nichts, was Eltern misstrauisch werden lässt. Megan durfte ihn zum Freund erklären.

Doch Josh war kein Freund. Was er wirklich war, machte erst rund ein Jahr nach Megans Tod die örtliche Regionalzeitung "St. Charles Journal" am Dienstag, dem 10. November, öffentlich: In einer langen erschütternden Geschichte  erzählt dort Steve Pokin, wie es zum Tode Megan Meiers kam. Vier Tage später war Megan amerikaweit berühmt, am Wochenende trugen Associated Press und CNN die Geschichte hinaus in den Rest der Welt.

Und die geht so: Der von Megan schnell angehimmelte Josh war kein Freund, sondern eine ehemalige Freundin des Mädchens aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Eigentlich ist das eine alte Teenager-Geschichte, nur die Waffen in diesem Konflikt sind neu: Als Megan mit ihr brach, war dies zum einen der gegebene Anlass für einen pubertären Zickenkrieg, zum anderen für Racheakte. Vor zehn Jahren hätte das bedeutet, dass die Freundin zum "backstabbing" übergegangen wäre, Megan mit Gerüchten, Verleumdungen, mit Mobbing und Zickenallianzen Druck gemacht hätte. Im Jahr 2006 gab es für so etwas bessere Mittel: MySpace.

Die Mutter machte mit

Mit Hilfe ihrer Mutter, die an der Aktion maßgeblich beteiligt war, weil sie angeblich herausfinden wollte, ob Megan schlecht über ihre Tochter rede, baute sie die Josh-Figur auf. Nutzte persönliche Kenntnisse, um ein emotionales Verhältnis zu schaffen. Nutzte die Hilfe eines 18-jährigen Teilzeitangestellten der Mutter, um den nötigen männlichen Touch überzeugend rüberzubringen. Man kann sich vorstellen, dass neben Rachegefühlen und Neugier auch eine Menge niederträchtiger Spaß im Spiel war, als die drei das Mädchen mit so einfachen Mitteln emotional manipulierten. Zu dritt fixten sie Megan regelrecht an - um sie am Ende gezielt zu demütigen.

Megans Leben endete im Oktober 2006. Der Anfang vom Ende war eine kleine Nachricht von Josh: Er wolle mit ihr keinen Kontakt mehr, weil er gehört habe, dass sie schlecht mit ihren Freunden umgehe, eine böse Person sei. "Wovon redest Du?", soll Megan ihn chattend konfrontiert haben. Einige Zeit später hatte Josh ihr das mit einem Bündel von Beleidigungen, Demütigungen und Anschuldigen so klargemacht, dass Megan sich im Keller ihres Elternhauses erhängte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Josh dafür gesorgt, dass etliche MySpace-Seiten auf Megan einhackten, sie eine Schlampe schimpften, ihr Profilbild als Fälschung outeten: "Megan ist fett!" Wenn man 13 ist, Zahnspange trägt und gerade nicht so recht weiß, wer man eigentlich ist, ist so etwas ein Weltuntergang.

Megan Meier, 13 Jahre, Selbstmord nach Streit mit einem Freund bei MySpace: Im Oktober 2006 keine heiße Nachricht. Eine Teenager-Tragödie, Stoff für die Lokalseiten.

Es sollte mehr daraus werden.

Eine perfide Intrige: "Es war, als hätte ihr jemand eine geladene Pistole gereicht"

Megans Eltern Tina und Ron Meier konnten den Tod der Tochter kaum verwinden. Doch sie bemühten sich, ihre Kontakte zu anderen Menschen weiter zu pflegen. Gratulierten Megans ehemaliger Freundin zum Geburtstag, ließen sich gar zu einer Party einladen und schauten auch kurz vorbei. Das Leben sollte weitergehen, so sehr die Tragödie auch schmerzte. Und als bei den Nachbarn eine Renovierung anstand, boten die Meiers Hilfe an und lagerten einige Dinge in ihrer Garage.

Ende November 2006 zogen sie einen Kickertisch der Nachbarn in den Vorgarten. Mutter Tina nahm ein Beil, Ron einen schweren Hammer, gemeinsam zerlegten sie das Ding. Packten es in einen Karton, schrieben "Frohe Weihnachten" drauf und lieferten es den Nachbarn. Die erstatteten prompt Anzeige, womit auch die Namen von Lori und Curt D. polizeilich Aktenkundig wurden.

"Ein bisschen schuldig"

Lori D. bestritt den Vorwurf auch gar nicht, sie habe mit ihrer Tochter und einem Angestellten gezielt eine virtuelle Person aufgebaut, um Megan Meier zu demütigen. Im Polizeiverhör sagte sie aus, sie fühle sich "ein bisschen schuldig" für den Selbstmord, aber nicht sehr, weil das Mädchen sowieso depressiv gewesen sei und Tabletten genommen habe. Wenn nicht durch Josh, wäre das irgendwann eben durch etwas anderes passiert.

Herausgekommen war das alles, weil die letzte Nachricht von Josh gar nicht von Megans ehemaliger Freundin gekommen war, sondern von einem anderen Mädchen aus der Nachbarschaft, die ebenfalls über einen Zugang zum Josh-Account verfügte. Als sie ihrer Mutter erzählte, von der Nachbarin angestiftet worden zu sein, "zum Spaß" an Megans Demütigung teilzunehmen, wandte sich ihre Mutter an Megans Eltern. Die eigentliche Täterin hatte alles nicht ernst genommen, kannte die involvierten Parteien nur flüchtig. Ihr aber sei das alles okay vorgekommen - schließlich sei sie von vertrauenswürdigen Erwachsenen aus der Nachbarschaft zu dem "Streich" aufgefordert worden.

Das alles und mehr schrieb Steve Pokin am Dienstag auf - und entfachte einen Sturm.

Pokin verzichtete darauf, die Namen der so offenkundig niederträchtigen Nachbarn öffentlich zu machen. Doch binnen weniger Tage schrieben und diskutierten Web-Nutzer auf rund 80.000 Internet-Seiten über Pokins Bericht und den Fall Megan Meier. Der weit verbreitete Konsens: Outet die Täter, stellt sie an den Pranger, macht ihnen das Leben zur Hölle, treibt sie aus der Stadt. Pokin wurde im Netz, in Leserbriefen und in Blogs dafür beschimpft, die Namen der Nachbarn nicht genannt zu haben.

Aber wozu auch, fragte ein Blogger, der sogar versucht hatte, sie Pokin direkt beim Bier zu entlocken: Das würde das Web selbst schnell genug übernehmen.

Und so kam es auch: Bereits am Mittwoch hatten erste Blogger eine verdächtige Familie ausgemacht. Allzu schwer war das nicht: Einige Hinweise waren Pokins Bericht zu entnehmen, andere lieferten Menschen aus der Umgebung, wo sich Megans Eltern seit fast einem Jahr einen Nachbarschaftskrieg mit den Mördern ihrer Tochter, wie sie das sehen, liefern. Neben der Anzeige wegen der Zerstörung des Kickertisches hat Ron Meier noch eine wegen Sachbeschädigung am Hals, weil er seinen ehemalig freundschaftlich verbundenen Nachbarn mit einem Kleinlaster den Vorgarten umgepflügt hatte.

Gesetzloser Raum: Man kann Menschen in den Selbstmord treiben, ohne vor dem Gesetz schuldig zu werden

Es gibt kein Gesetz

Doch Lori und Curt D. ist juristisch nicht beizukommen. Bisher gibt es kein Gesetz, nach dem jemand bestraft werden könnte, der anderen über eine Online-Plattform seelisches Leid zufügt. Das Gesetz von Missouri, das einem Anti-Mobbing-Gesetz am nächsten kommt, stammt aus dem Jahre 1974 und ist auf das Internet nicht anwendbar. Nicht nur in Missouri kann man einen Menschen regelrecht in den Selbstmord treiben, ohne dadurch zum Täter zu werden.

Doch das dürfte sich nun ändern. 80.000 Blogs und Webseiten sind eine Menge, gerade wenn sie eine eh schon interessante Geschichte fortschreiben: Kreuz und quer durchs Netz sind nun Namen und Adressdaten und Telefonnummern zu finden. Bei Rottenneighbors.com, einer Art Pranger für miese Nachbarn, haben die D.s einen prominenten Platz und natürlich wird es mit jedem Tag wahrscheinlicher, dass sich die noch immer wachsende Wut gegen sie irgendwann auch physisch manifestiert.

Es ist nie vorbei

Die Ehe der Meiers ist derweil am Ende, zerbrochen. Sie haben die Scheidung schon hinter sich, sie führen keinen Krieg mehr gegen die Nachbarn, aber sie werden auch nicht mit der Geschichte fertig.

Tina Meier leidet unter Schuldgefühlen, dabei hatte sie eigentlich alles richtig gemacht: Sie hatte die Passworte zum MySpace-Account ihrer Tochter, sie überprüfte, was sie dort tat, sie ließ ihre Tochter nicht allein.

Nur an diesem Abend, dem 15. Oktober 2006, da hatte sie eben einen Termin. Rief zwar wiederholt zu Hause an, versuchte, die Tochter zu beruhigen. War aber schlicht nicht da in diesem fatalen Moment, in dem sie hätte da sein müssen, wie sie glaubt.

Zwei Jahre zuvor hatte sie der Familie, die später ihre Tochter in den Selbstmord treiben sollte, das Haus in der Nachbarschaft verkauft.

Dass die ganze Geschichte nun in die Medien gerät, ist nicht den Meiers geschuldet. Beide streiten inzwischen öffentlich ab, dass die D.s irgend etwas damit zu tun hätten, sie wollen keine Lynchjustiz. Wer auch immer dahinter gesteckt habe, sagt der Vater Ron Meier heute, habe es wohl nicht darauf abgesehen, seine Tochter in den Selbstmord zu treiben. "Aber es war, als hätte ihr jemand eine geladene Pistole gereicht."

Öffentlich bemühen sich beide, Freunde und Familie davon abzuhalten, irgend etwas gegen die D.s zu unternehmen. "Die Polizei würde glauben, dass wir das waren", sagt die Mutter. Das wollen beide nicht, es bringt nichts mehr. Heute überwiegt das Schuldgefühl - und die Wut auf MySpace, das Web und das Gesetz, das so hilflos scheint.

Im Web schwelte die Geschichte ein Jahr, bis ein Regionalreporter aus einer 7000-Einwohner-Gemeinde sie so akribisch aufschrieb. Einen Tag und Hunderte von Presseberichten in aller Welt später bewegte sich etwas: Wieder war es Steve Pokin im "St. Charles Journal", der berichten konnte, dass die Behörden des Bezirkes planen, Cyber-Mobbing endlich zu einem Vergehen zu erklären. Bis zu 90 Tage Haft und 500 Dollar Geldstrafe sollen künftig darauf stehen. Tina Meier hofft, dass es irgendwann schärfere Gesetze geben wird, einen Prozess.

Vielen im Web reicht das nicht. Malcolm Gay hat im "Riverside Journal" Reaktionen zusammengetragen, die er in einem einzigen Satz kumulieren lässt und mit einer Vorhersage für "mehr zerbrochene Fensterscheiben" in Dardenne Prairie, Missouri, verbindet: "I hope these fuckers burn in hell." (Ich hoffe, diese Arschlöcher schmoren in der Hölle")

Es sind immer die Geschichten, die nie hätten beginnen sollen, die so leicht kein Ende finden.