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ThyssenKrupp Wende im Existenzkampf

Fünf Milliarden Euro Verlust, keine Dividende, halber Vorstand geschasst - jetzt kann es nur noch aufwärts gehen, heißt das Signal aus Essen. ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger verspricht einen Umschwung - und verkauft auf absehbare Zeit alles, was zu verkaufen ist. Anleger schöpfen Hoffnung.
Von Arvid Kaiser
Noch rauchen die Schlote: ThyssenKrupp-Stahlwerk in Duisburg

Noch rauchen die Schlote: ThyssenKrupp-Stahlwerk in Duisburg

Foto: Frank Augstein/ AP

Hamburg - Heinrich Hiesinger hat seinen großen Auftritt. Einen "kompletten Neuanfang" kündigt der sonst für seine eher stille Art bekannte Manager an der Spitze des ThyssenKrupp-Konzerns am Dienstag an: "Wir werden unsere Führungskultur grundlegend verändern". Er stellt klar, dass der Aufsichtsrat am Vortag drei seiner Vorstandskollegen "in enger Abstimmung mit mir" abberufen hat.

So präsentiert Hiesinger sich als Aufräumer, der reinen Tisch macht. Selbst der Rekordverlust von fünf Milliarden Euro, das dritte Milliardenminus in vier Jahren, unterstreicht diese Botschaft: Mit Abschreibungen von 3,6 Milliarden Euro hat ThyssenKrupp  die neuen Werke in Brasilien und den USA in den Büchern auf 3,9 Milliarden herabgestuft - und damit eine einigermaßen ehrliche Bilanz des Amerika-Debakels gezogen.

Noch vor wenigen Wochen hatte Hiesinger erklärt, bei einem Verkauf "mindestens" den Buchwert von bisher gut sieben Milliarden Euro erzielen zu wollen - was am Markt niemand für realistisch hielt.

"Der neue Buchwert signalisiert, dass das Transaktionsergebnis unserer Schätzung von 3,5 Milliarden Euro entsprechen dürfte", erklärt Analyst Ingo-Martin Schachel von der Commerzbank, der sich eher auf der Seite der optimistischen Beobachter sieht.

An der Börse setzt sich diese Lesart durch: Die ThyssenKrupp-Aktie stieg am Dienstagnachmittag um bis zu 8 Prozent als mit Abstand stärkster Wert im Dax, nachdem sie morgens noch klar im Minus notierte.

Die schlimmsten Katastrophenszenarien vermieden

Ein Katastrophenszenario wie ein Verkauf des Zehn-Milliarden-Projekts für nur eine fast schon symbolische Milliarde, wie es zuletzt kolportiert worden war, ist damit hinfällig. Dass überhaupt ein erfolgreicher Verkauf in Aussicht steht, ist schon eine Nachricht. Finanzchef Guido Kerkhoff spricht von "mehr Bietern, als in eine Hand passen", die nun die Bücher prüfen. Zu niedrige Gebote habe der Konzern aussortiert.

"Für einen Neustart erkennen wir in der damit verbundenen deutlichen Reduzierung der hohen Nettoverschuldung eine große Bedeutung", erklärt Analyst Steffen Manske von der Essener National-Bank. Zuletzt belief die sich auf 5,8 Milliarden Euro - während das Eigenkapital sich im abgelaufenen Geschäftsjahr auf 4,5 Milliarden Euro mehr als halbierte. Das Verhältnis der beiden Ziffern ergibt ein Gearing von 128,5 Prozent.

Diese Zahl zeigt am deutlichsten, wie existenziell die Krise des Traditionskonzerns ist. "Zum 30. September", also zum Ende des Geschäftsjahres, erklärt Finanzvorstand Kerkhoff, hält der Konzern damit die mit Kreditgebern vereinbarte Obergrenze von 150 Prozent ein. Zwar werde diese Kreditlinie aktuell nicht benötigt, eine Kündigung der Banken hätte also keine direkten Auswirkungen, doch sie ist wichtig für Kerkhoffs Botschaft: "ThyssenKrupp besitzt ausreichend Liquidität und ist ausreichend finanziert."

Verkauf von Inoxum bringt rettende Milliarden

Zum Bilanzstichtag hielt diese Aussage noch gerade so stand. In den kommenden Monaten dürfte sich die Lage aber spürbar entspannen, vor allem wegen des Verkaufs der Edelstahltochter Inoxum an den finnischen Wettbewerber Outokumpu . Die EU-Kartellwächter hatten den Deal erst im November gebilligt, der nun noch vor Jahresende abgeschlossen werden soll. Die ThyssenKrupp-Bilanz war wegen des Wartens auf die rettenden Milliarden um drei Wochen verschoben worden.

Die wirkliche Entlastung an der Schuldenfront aber wäre der Verkauf des amerikanischen Stahlgeschäfts, der sich aber noch weit ins kommende Jahr hinziehen dürfte. Und auch dann dürfte das Abenteuer unterm Strich noch an die zehn Milliarden Euro gekostet haben: neun Milliarden Investitionen plus drei Milliarden Verlust aus den ersten drei Betriebsjahren und eine Milliarde reguläre Abschreibungen auf Betriebsvermögen minus drei Milliarden Verkaufserlös - in Summe einer der teuersten Fehlgriffe der deutschen Industriegeschichte.

Alles muss raus - außer Duisburg

Wegen der steigenden Schuldenlast hat ThyssenKrupp sich unter Hiesinger in 18 Monaten bereits von sieben Töchtern, teils mit Milliardenumsätzen, getrennt. Mit Inoxum und den amerikanischen Stahlwerken hätte der Konzernchef sein Programm abgearbeitet. Hinzu kommt noch der italienische Baumaschinenzulieferer Berco, den ThyssenKrupp  im September zum Verkauf gestellt hat. Laut Konzernkreisen könnten noch die Autozulieferer Bilstein und Presta hinzukommen.

"Aktives Portfoliomanagement bleibt auch in Zukunft ein Bestandteil für die strategische Weiterentwicklung unseres Unternehmens", erklärt Hiesinger. Im Klartext: Auf absehbare Zeit verkauft ThyssenKrupp weiter, was zu verkaufen ist.

"Auch ohne Edelstahl und Steel Americas besteht Handlungsbedarf", bekräftigt Hiesinger. Er verweist auf die Kosten - und auf das auf jährliche Einsparungen von zwei Milliarden Euro zielende neue Programm.

Eine wichtige Einschränkung macht Hiesinger jedoch: "Es gibt weder Planungen noch Überlegungen, Steel Europe abzugeben." Mit dieser Botschaft wolle er sich am Dienstagabend einer Mitarbeiterversammlung am größten Standort Duisburg stellen.

Das ist ein klares Dementi entsprechender Medienberichte, der Ruhrkonzern verabschiede sich komplett von seinen Wurzeln. Richtig sei daran, dass das Unternehmen auch in der einstigen Kernsparte nach "Verbesserungspotenzialen" sucht. Doch "alle Aussagen zu angeblichen Ergebnissen dieser Überprüfung sind nicht richtig".

Öffentlicher Streit mit Europas Stahlbranche um Überkapazitäten

Hiesinger gibt nicht einmal Signale in Richtung der Schließung einzelner deutscher Stahlwerke - und stellt sich erstmals öffentlich gegen den Kollegen Wolfgang Eder vom österreichischen Wettbewerber Voestalpine , der als Präsident des europäischen Branchenverbands Eurofer einen koordinierten Abbau der Überkapazitäten der Stahlindustrie von rund einem Viertel in Europa - 60 Millionen Tonnen Produktion und 100.000 Jobs - fordert.

Hiesinger sagte, die deutschen Industrievertreter sähen nur Produktionskapazitäten von 15 Millionen Tonnen als "derzeit nicht genutzt" an, was sich aber wieder ändern könne. Und von Eder vorgeschlagene Staatshilfen für sozial abgefederten Jobabbau würden erfahrungsgemäß nur längst stillgelegten Standorten zugute kommen und so "die Starken" belasten.

ThyssenKrupps Stahlsparte in Europa schrieb - wie alle fortgeführten Geschäftsbereiche - operativ schwarze Zahlen, wenn auch der Betriebsgewinn um 83 Prozent einbrach. Für das kommende Jahr erwartet der Konzern keine Erholung der Nachfrage in Europa. Hiesinger will auf der Ebene einzelner Aggregate, beispielsweise Hochöfen, Walz- oder Veredelungsstufen, gegensteuern. Manche davon könnten stillgelegt, einzelne gut ausgelastete Anlagen aber auch mit neuen Investitionen gestärkt werden. Zudem setzt Hiesinger darauf, die im August für mehrere deutsche Werke verordnete Kurzarbeit über Januar hinaus zu verlängern. Da müsse die Bundesregierung mitspielen.

Dieses Bekenntnis zur Heimat des Konzerns ist so stark, wie es in dieser Situation sein konnte - auch wenn nach Hiesingers Plänen Stahl künftig weniger als 30 Prozent zum Umsatz von ThyssenKrupp beiträgt.

Am Ende werden wohl weitere Randsparten geopfert, um den Bestand der Werke in Duisburg, Bochum oder Dortmund zu retten. Vorausgesetzt, der Verkauf der Verlustbringer in Alabama und Rio de Janeiro gelingt.