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Die Zeit des Oswald von Wolkenstein

Oswald von Wolkenstein

Oswald von Wolkenstein: geboren um 1377 in Südtirol, gestorben 1445 in Meran, war einer der wichtigsten Dichter und Komponisten des Mittelalters; etwa 130 vorwiegend weltliche Lieder sind mit Melodien erhalten, darunter 34 mehrstimmige, mit starker Betonung der Sinnlichkeit: Essen, Trinken, Erotik. »Die einstimmigen Lieder sind das bedeutendste überlieferte Ouvre weltlicher deutscher mittelalterlicher Musik«. (Brockhaus)

Oswald war ein weitgereister Mann; er kam bis nach Georgien, und war Mitglied im Drachenorden (ordo draconis oder societas draconia), zu dem so erlauchte Herrschaften wie der Vater von Vlad III. Țepeș Drăculea gehörte, Vlad II. Dracul (daher der Beiname von dessen weitaus berühmterem Sohn: Drăculea, als Sohn von Vlad Dracul).

»... ein intensiv gelebtes Leben: Exzessiv, exzentrisch, egoistisch, widersprüchlich, sinnlich, streitlustig, zynisch, fromm, kreativ, produktiv bis zur Triebhaftigkeit, stolz, rechthaberisch, anlehnungsbedürftig, neugierig und angefochten.«
Jens Voskamp: »Des Minnesängers Jagd nach dem Glück«, Nürnberger Nachrichten, 8.3.2004

»Was für ein pralles Leben. Oswald von Wolkenstein: Im Alter von zehn Jahren wird er Knappe eines fahrenden Ritters, durchzieht halb Europa und Kleinasien, lässt sich in allen Tugenden und Untugenden des Kriegshandwerks und der höfischen Künste unterweisen, reibt sich in Erbstreitigkeiten mit seiner Familie auf, verliert ein Auge, liebt sich durch die bessere Gesellschaft und den niederen Stand, heiratet und bekommt Nachwuchs wie am Fließband, verstrickt sich in politische Ränkespiele und sieht die Kerker von innen, mischt sich in die Machtkämpfe von Fürsten und Bischöfen, wird handgreiflich gegen Repräsentanten des Klerus. Mitglied von Ordensrichtungen und Kommissionen, Richter und Kreuzfahrer, Gründer des Elefantenbundes Tiroler Adliger gegen den Landesherrn, Diplomat und Gesandter, Dichter, Rebell und Raufbold – das schiere Gegenbild zum höfisch-idealistischen Walther von der Vogelweide, der ihm als Minnesänger vorausging. 1445 stirbt Oswald mit siebzig, gelebt aber hat er dreimal so viel Jahre.«
Wolfgang Sandner: »Müder Krieger mit sanftem Hackbrett«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.3.2004

»Als die Welt noch ein halbes Jahrtausend jünger war, hatten alle Geschehnisse im Leben der Menschen viel schärfer umrissene äußere Formen als heute.« 
(Huitzinga: Herbst des Mittelalters)

»Mit dem einen Auge schaute er als Ritter neugierig auf die Welt, mit dem anderen sah er nach innen. Oswald von Wolkenstein war ein Grübler, der nach Worten rang, um seine Gedanken und Gefühle kunstvoll auszudrücken. [...] Und so farbig wie sein Empfinden sind die Texte: komisch, kraftvoll und erotisch, aber auch sehnsüchtig und manchmal abgrundtief traurig. [...] Mit Leichtigkeit schlagen Oswald von Wolkensteins Lieder eine Brücke in die Gegenwart, weil er besonders die Momente zu fassen vermochte, in denen der Mensch allein ist.«
Maren Gottschalk im WDR-ZEITZEICHEN vom 2.8.2020 zu Oswalds 575. TodestagLink zum MP3

»Als Literaturwissenschaftlerin sehe ich natürlich zuerst das Bild eines höchst sensiblen Dichters vor mir, und zwar weil er es verstand, das Innenleben, die Gefühlswelten des Menschen in den innersten Regungen auszuleuchten und mittels subtilster Beobachtungen anschaulich darzustellen. Die Fokussierung auf seine persönlichen Erfahrungen, die stellte er in den Mittelpunkt sehr vieler Lieder, und das ist ein Alleinstellungsmerkmal in der Lyrik um 1400 bis 1440. Von der Sprachkunst übertrifft er alle anderen Lyriker, weil er eine Sprache sinnlicher Wahrnehmung schafft, deshalb wirken sie bis heute lebendig.«
Prof. Dr. Sieglinde Hartmann, 2007 – 2018 Vorsitzende der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft
, im WDR-ZEITZEICHEN vom 2.8.2020 zu Oswalds 575. TodestagLink zum MP3

»Oswald [gilt] heute als der bedeutendste Lyriker des deutschsprachigen Mittelalters neben Walther von der Vogelweide.«
Prof. Dr. Ulrich Müller (Mitbegründer der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft, Erster Vorsitzender 1980 – 2007 und Ehrenvorsitzender,
14.10.2012, Nachruf)

»DER Singer-Songwriter des späten Mittelalters«
Lena Ganschow in »Das Mittelalter im Südwesten (2/2): Konstanz – Stadt des Konzils«, SWR 2014 (Sendung SWR 25.1.2015, PHOENIX 16./17.05.2015)

»Krankheiten beispielsweise: kaum wirksame Medikamente, kaum Spitäler; wer krank war, fand nur wenig Hilfe.
Und Gebrechen versteckten sich nicht in isolierenden Heimen, die drängten sich auf – das Klappern und Rasseln der Aussätzigen, das schreiende Betteln der Krüppel. Und der Tod: Volksprediger, die enormen Zulauf fanden, redeten vom Sterben, vom Verwesen, auf einem Friedhof, vor einem offenen Beinhaus, Knochen geschichtet, Schädel gestapelt; eindringlich wurde hingewiesen auf das Verkrampfen der Hände, das Aufklaffen des Mundes, das Erkalten und Verwesen, Würmer in den Eingeweiden, der Mensch als Madensack, alle Schönheit nur äußerlich, unter der Haut nichts als Schleim, Blut, Galle, Kot. Und Weinen, Wehklagen unter den Zuhörern, ein Hinausschreien der Angst vor dem Sterben, dem Verwesen, ein Hinausschreien von Sündenbekenntnissen, man warf sich auf die Erde, Schluchzen, Weinen, Stammeln, Ächzen – man war damals rückhaltlos in seinen Äußerungen. Immer wieder gemeinsame Emotion, ein öffentliches Hingerissenwerden: Scheiterhaufen, die nach zündenden Predigten errichtet wurden, und Frauen warfen Kopfputz hinein, der als eitel bezeichnet wurde, Männer warfen Spielkarten, Würfel, Spielbretter hinein, die als teuflisch bezeichnet wurden, und kurz darauf trug man wieder Kopfputz, vielleicht noch höher, glanzvoller, und bald wieder fortgesetzt das Kartenspielen, Brettspielen, Würfeln, und unablässig das Fluchen, das gotteslästerliche Fluchen, weil alles sanftere Fluchen ohne Würze war, einer versuchte den anderen zu übertrumpfen, ganze Fluchkataloge gab es, Flucharien... Man wünschte einem das Fieber, die Krämpfe, den Veitstanz, man legte Schwüre ab bei Gottes Lunge oder Leber, bei Gottes Blut oder Darm, bei Gottes Laus oder Schweiß, bei Gottes Leichnam. Dass dich Gottes fünf Wunden schänden! Dass dich der Teufel schände! Dass dich Gottes Leichnam schände! Und dann wieder verfluchte man sein Fluchen, weinte während der öffentlichen Ekstase, die Wanderprediger herausreizten durch Predigten, in denen Schreien und Wimmern, Singen und Toben rasch abwechselten – nur so konnten sie ihr Publikum einfangen, bannen; alles musste krass sein, überdeutlich. Krasse Deutlichkeit auch beim öffentlichen Bestrafen und Töten von Verurteilten: düstere Spektakel der veranstaltenden Justiz... Wer mit falschen Würfeln spielte oder nachts Unfug trieb, Passanten behelligte, dem wurden die Augen ausgestochen oder ausgebrannt; Fälschern wurden die Wangen gebrandmarkt, oder sie wurden in kochendes Wasser geworfen; Dieben hackte man die Hände ab, oder man hängte sie auf; Schänder wurden gepfählt: auf den Rücken gelegt, Arme und Beine weggestreckt und festgebunden, ein Pflock auf die Bauchdecke gesetzt, das Opfer durfte die ersten drei Hammerschläge ausführen, dann wurde der Pflock durch den Körper in den Boden geschlagen. Und Vierteilen und Rädern. Das Enthaupten: Der Verurteilte musste dabei hinknien vor dem Henker, der schlug mit dem Schwert zu. Dabei reichte normalerweise ein Schwerthieb nicht aus, oft drei, vier, fünf, sechs oder sieben Schwerthiebe, ehe der Kopf vom Rumpf war; es kam auch vor, dass man den Kopf schließlich absägte... Als zentralen Faktor sieht Huizinga die Religion, die Kirche: das Leben der mittelalterlichen Christenheit in jeder Beziehung durchdrungen von religiösen Vorstellungen... Selbst der damals übliche Spott über Pfarrer und Mönche, das Verhöhnen dieser Männer, die nicht kämpfen und lieben durften, und die lustvollen Vorstellungen von prassenden, messerstechenden, saufenden, fickenden Mönchen – Affekte, die Bindungen anzeigten!

Was man, zu einer Stadt kommend, als erstes sah, war meist der Rabenstein, demonstrativ an der Landstraße: zwei oder drei gemauerte Steinsäulen, miteinander verbunden durch Balken, an denen gewöhnlich ein Gehängter baumelte oder mehrere; man nahm sie nicht ab nach der Hinrichtung, sie blieben zur Abschreckung hängen, bis sie verfault, vertrocknet waren; nur wenn hoher Besuch zur Stadt kam, wurden sie abgehängt, verscharrt. Köpfe, die auf Pfählen steckten, gewöhnlich über den Stadttoren, die nahm man selbst zu feierlichen Empfängen nicht ab, die blieben oben, bis sie von selbst herabfielen. Man spießte sogar die Stücke von Gevierteilten auf, um Besuchern, vor allem Herumstreifenden zu zeigen: hier wird scharf gerichtet.

Innerhalb der Stadtmauern vor allem: Dreck. Erst mit Beginn des 15.Jahrhunderts begann man hier und dort zu pflastern, aber meist nur den Marktplatz, die eine oder andere Gasse, dann vielfach Steinerne Gasse genannt. In den gewöhnlich noch ungepflasterten, auch in der Konzilsstadt ungepflasterten Gassen die Gosse. Hier und dort hölzerne Übergänge oder kleine, aufgeschüttete Dämme, an den Häusern entlang. Bei Regen konnte man in den Gassen kaum noch gehen – Schlamm, Schlick. Wiederholt wird berichtet, dass Pferde bis über die Kniegelenke im Dreck einsanken, manchmal bis zum Bauch. Dass es nicht bloß Schlamm war, in dem man einsank, dies zeigen zeitgenössische Berichte. Sehr viele Stadtbewohner hielten Schweine, die sich in den Gassen suhlten. Die Behörden versuchten hier und dort, die Sauerei einzudämmen, indem sie eine Höchstzahl von Schweinen pro Haushalt ansetzten...

In den Gassen tote Ratten, Katzen, Hunde; Innereien von geschlachteten Tieren; aus Fenstern wurden Fäkalien geschüttet. Es galt als erstaunliche Neuerung, als Ende des 15. Jahrhunderts von der Stadt Nürnberg ein Knecht angestellt wurde, der mit einer Bütte umherzog und die toten Ratten, Hühner, Hunde, Katzen aufsammelte, die er gleich vor dem nächsten Stadttor wieder auskippte. Wie viele Fliegen während der Sommermonate in diesen Städten? Durch die Gassen zogen Hausierer und Korbmacher, Lumpensammler und Kesselflicker, Kaminfeger und Abdecker, Kuppler und Schweineschneider, Baderknechte, Kuchenverkäufer, Zahnbrecher. Und Landstreicher, Suppenfresser genannt, auch: Suppenlecker, Schmalzbettler, Faltenstreicher, Schlegelwerfer. Zahlreiche Bettler, die sich auf das Simulieren verschiedener Krankheiten spezialisiert hatten: Gelbsucht oder Epilepsie; andere verbanden sich die Augen mit blutigen Tüchern und klagten, sie seien von Räubern überfallen, geblendet worden. Armut – sie prägte entschieden das Bild einer spätmittelalterlichen Stadt.

Theoretisch galt Armut als christliche Tugend; aber dieses Leitbild hatte in der damaligen Gesellschaft wenig Auswirkungen. Nur die Reichen hatten etwas zu sagen in der Stadt, die Patrizier, die Aufsteiger unter den Bürgern. Sie wohnten in eigenen Vierteln, hatten eigene Kleidung; soziale Stufen sichtbar gemacht. Ein Geselle durfte nicht wie ein Meister gekleidet sein, ein Bürger nicht wie ein Patrizier; zahlreiche Gesetze, Durchführungsbestimmungen zur Kleiderordnung. Abgrenzungen, Abstufungen überall; wo sich die Metzger von den Gerbern distanzierten, distanzierten sich die Gerber wiederum von den Abdeckern. Und die zünftigen Berufe streng getrennt von den unehrlichen; zu denen gehörten die Henker, die Schinder, die Büttel, die Totengräber, die Turmhüter, die Bader, die Spielleute. Von Mitgliedern dieser meist unterprivilegierten Berufe wiederum abgesetzt die Personen mit sehr geringem oder gar keinem Einkommen – die Armen und die Siechen, die Witwen und Waisen, die auf Almosen, Spenden, auf Suppengeld, Brotgeld, Spitalkost angewiesen waren. Wie groß war die Schicht derer, die kaum das Existenzminimum, verdienten – und weniger? Die Zahlen unterscheiden sich nach Städten und Jahren, aber einige Richtwerte lassen sich doch angeben, für Oswalds Zeit: Zur sozialen Unterschicht gehörten etwa 25 bis 30 Prozent der Stadtbevölkerung; 4 bis 10 Prozent lebten in Kellerwohnungen. Die Vorstellung, dafür hätten wenigstens die Handwerker stattliche Häuser besessen, trifft insgesamt auch nicht zu; die Handwerkerfamilien wohnten oft eng und ärmlich zur Miete. Einer der Hauptgründe: Die reichen Händler (mit dem Handel, nicht mit der Herstellung wurden damals die großen Geschäfte gemacht!) steuerten vielfach die Produktionskapazitäten der Handwerksbetriebe durch Kontingentierungen – etwa der Tuchmengen, die jährlich hergestellt wurden... In Köln beispielsweise wurden etwa zehn Prozent der Bevölkerung in Spitälern abgefüttert. Ein großes, auch gefährliches Potential! Die Spenden wurden vielfach nur gemacht, um die Armen ruhig zu halten: das Werk des Friedens sollte fest und sicher bestehen; so wurde das (schon) damals formuliert.«

Dieter Kühn: ICH WOLKENSTEIN – Biographie; © 1977, 1980, 1988 Insel-Verlag; © 1996 Fischer Taschenbuch Verlag

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