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Duisburg: Katastrophe bei der Love Parade

Foto: PATRIK STOLLARZ/ AFP

Love-Parade-Chronologie Wie Duisburg eine Katastrophe genehmigte

Am Ende musste es schnell gehen und sollte billig sein: Interne Unterlagen aus der Duisburger Stadtverwaltung zeigen, wie die Verantwortlichen die Love Parade gegen alle Bedenken und Widrigkeiten durchboxten. Wo ein politischer Wille war, fand sich auch ein rechtlicher Weg.

Duisburg - Hinterher wollte er von nichts mehr gewusst haben, für nichts unmittelbar zuständig oder gar verantwortlich gewesen sein, es sollte so aussehen, als gäbe es niemanden, der mit der Love Parade weniger zu schaffen hatte als Adolf Sauerland, Duisburgs Oberbürgermeister.

Ihm seien "keine Warnungen bekannt" gewesen, beteuerte der CDU-Politiker nach der Katastrophe, nach dem Tod von 21 Menschen. Von Juristen, die er hatte beauftragen lassen, ließ er sich später noch die rechtliche Absolution erteilen: Es gebe derzeit "keine Erkenntnisse" darüber, dass die Mitarbeiter der Stadt ihre gesetzlichen Pflichten verletzt und "auf diese Weise zum Unglück beigetragen oder es gar verursacht hätten", schrieben die Anwälte im Auftrag der Duisburger Verwaltung.

Doch das erscheint zunehmend zweifelhaft. Interne Unterlagen der Stadt zeigen, wie nachsichtig die Beamten mit dem Veranstalter waren, wie sie immer wieder Fristen verlängerten und Ausnahmeregelungen fanden. Schließlich genehmigten sie die Party sogar, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht alle erforderlichen Dokumente vorlagen.

SPIEGEL ONLINE zeichnet nun auf Grundlage neuer vertraulicher Papiere aus den Behörden nach, wie die Love Parade nach Duisburg kam und vor welchen Schwierigkeiten die Verantwortlichen zwischenzeitlich standen: Es ist die Chronologie eines behördlichen Versagens mit furchtbaren Folgen.

Beginnen muss man mit Adolf Sauerland, dem Oberbürgermeister, der hinterher von keinerlei Bedenken gegen die Technofeier mehr gewusst haben wollte. Dabei hätte der Politiker seit Wochen gewarnt sein können. Die Aufzeichnungen aus seinem Haus belegen, dass Sauerland offenbar früh über den geradezu chaotischen Verlauf der Love-Parade-Planung informiert war.

  • So forderte am 14. Juni - also einen guten Monat vor der Party - die Untere Bauaufsicht der Stadt von Lopavent, endlich wichtige Unterlagen einzureichen. Knapp fünf Wochen vor der Megafeier, so der zuständige Sachgebietsleiter, habe der Veranstalter noch immer keinen "Lageplan" des Geländes vorgelegt, kein "zielorientiertes Brandschutzkonzept" und keine Endfassung des Sicherheitskonzepts.

Der Beamte drohte den Love-Parade-Machern: "Sollten die fehlenden Unterlagen" nicht bis zum 29. Juni "eingegangen sein, werde ich den Antrag gebührenpflichtig (...) zurückweisen." Der Brief ging in Kopie an die zuständigen Verwaltungsabteilungen und auch ganz nach oben, an das "Büro OB z. Kts.", also an Oberbürgermeister Sauerland.

  • Am 18. Juni machten Mitarbeiter der Duisburger Verwaltung den Lopavent-Leuten bei einem Besuch außerdem deutlich, dass es in den Planungen noch viel zu wenige Fluchtwege gab. Doch da schaltete sich Rechtsdezernent Wolfgang Rabe ein. In dem Protokoll der Besprechung, das laut Verteiler ebenfalls dem Oberbürgermeister (OB) vorgelegt wurde, hieß es:

"Herr Rabe stellte in diesem Zusammenhang fest, dass der OB die Veranstaltung wünsche und dass daher hierfür eine Lösung gefunden werden müsse. Die Anforderung der Bauordnung, dass der Veranstalter ein taugliches Konzept vorlegen müsse, ließ er nicht gelten. Er forderte 62 (Amt für Baurecht; d. Red.) auf, an dem Rettungswegekonzept konstruktiv mitzuarbeiten und sich Gedanken darüber zu machen, wie die Fluchtwege dargestellt werden könnten."

Und weiter: "Es könne nicht sein, dass 62 (Amt für Baurecht; d. Red.) diese Pflicht nur auf die Antragsteller (Lopavent; d. Red.) abwälzen würde, schließlich wolle der OB die Veranstaltung."

  • Eine Woche später, am 25. Juni, trafen sich Vertreter von Lopavent mit der Stadt, der Feuerwehr und einer Brandschutzfirma zu einer Krisensitzung im Duisburger Hoist-Haus. Hier präsentierte Lopavent einen neuen Plan mit "doppelgenutzten Ausgängen".

Sowohl die Bauaufsicht als auch die Brandschutzexperten warnten, "dass dieser Lösungsansatz" nicht den Vorschriften entspreche. Eine "Abweichung vom geltenden Recht" sei nicht zu rechtfertigen. Die Love-Parade-Macher saßen in der Klemme: Das Gelände war zu klein für die Besuchermassen, es fehlten Rettungswege und Notausgänge von entsprechender Breite. Die Party stand auf der Kippe.

Da kam einem der Brandschutzspezialisten die zündende Idee: Eine "Entfluchtungsanalyse" könnte die Love Parade retten, das hatte schon früher geklappt.

Der Mann fragte im Bauministerium nach. Ein Beamter bestätigte ihm, dass eine solche Untersuchung tatsächlich "die Möglichkeit biete, Verdichtungen von mehr als zwei Personen je Quadratmeter darzustellen". "Daraus", so heißt es in einem Vermerk der Duisburger Expertenrunde, "kann dann eventuell eine erforderliche Abweichung" vom Baurecht "formuliert werden".

Bis zu Love Parade waren es noch 29 Tage.

In rekordverdächtiger Zeit wurde die rettende "Entfluchtungsanalyse" erstellt, die beweisen sollte, dass das Gelände im Notfall schnellstens geräumt werden konnte. Wenn genügend Notausgänge vorhanden seien, kalkulierte man offenbar, könnten auch mehr Menschen aufs Gelände, größeres Gedränge sei dann nicht so schlimm - die Ausgänge ließen sich ja zügig öffnen. Am 20. Juli, vier Tage vor der Love Parade, legte die beauftragte Firma das gewünschte Gutachten vor.

Entfluchtung, Verdichtung - alles im Griff.

Auch Panikforscher Michael Schreckenberg war im Einsatz. Vor Vertretern von Stadt, Polizei und Feuerwehr referierte er über die Zugangswege zur Love Parade. Glaubt man einem "speziellen Vermerk" der Polizei über das Treffen, so warnte Schreckenberg zum Beispiel vor dem Einsatz von festinstallierten Gittern: Diese seien "zu gefährlich und wenig zielführend". Er empfehle, "keine festen Sperren auf der Strecke einzusetzen".

"Es können schlicht nicht so viele Personen nach Duisburg kommen, dass es hier zu absolut gefährlichen Zuständen kommt"

Im Aktenvermerk der Stadt zum selben Treffen kam die Botschaft des Wissenschaftlers ganz anders an: "Herr Prof. Dr. Schreckenberg", heißt es darin, "stellte fest, dass er das Gesamtkonzept für gut halten würde." Besonders habe er die "ausreichende Beschilderung der Laufwege durch Fahnen und Banner" gelobt.

Die Beschilderung erwies sich später als fatal. Bereits vor der Katastrophe am 24. Juli irrten Hunderte Raver, die nach Hause wollten, genervt über das Gelände. Gegen 16.40 Uhr prallte die herausströmende Masse auf der Hauptrampe auf die hereindrängenden Besucher. Die Tatsache, dass die Rampe zugleich als Ein- und Ausgang für Zehntausende Menschen fungieren sollte, hatte man offenbar nicht als Problem erkannt.

  • Es blieb ohnehin nicht viel Zeit zum Nachdenken: Am 29. Juni lief für Lopavent die Frist aus, in der sie fehlende Dokumente noch hätte einreichen können. In letzter Sekunde stellten Anwälte einen Antrag auf Verlängerung. Man bemühe sich, die "geforderten weiteren Unterlagen zu erstellen". Der Veranstalter habe schließlich ein "überragendes Interesse an der schnellstmöglichen Abwicklung der Angelegenheit".

Die Bitte des Veranstalters war der Stadt Duisburg Befehl - nur einen Tag später, am 30. Juni, wurde den Lopavent-Advokaten "Ihrem Wunsch entsprechend" eine Fristverlängerung bis zum 7. Juli gewährt.

  • Am 8. Juli wiederum übersandte der Lopavent-Produktionsleiter dem Ordnungsamt eine "Besucherprognose" und verlangte: "Bitte behandeln Sie diese Unterlagen streng vertraulich!" Mit erschreckender Offenheit gab der Event-Manager darin zu, "dass die folgenden Angaben keinen Bezug zur 'offiziellen Besucherzahl' für mediale Zwecke" hätten. Selbst bei der Abschlusskundgebung, so Sasse, sei "im Saldo nicht mit mehr als 250.000 Personen" zu rechnen.

Das bedeutete wohl: Wir werden zwar allen sagen, es seien mehr als eine Million Besucher gewesen, aber wir wissen schon vorher, dass das Quatsch sein wird.

"In der zur Verfügung stehenden Zeit", schrieb der Lopavent-Mann noch, "können schlicht nicht so viele Personen nach Duisburg kommen, dass es hier zu absolut gefährlichen Zuständen kommt." Jedoch "können sich (...) selbstverständlich gefährliche Situationen immer dann ergeben, wenn lokale Besucherkonzentrationen auftreten".

Alles war möglich in Duisburg.

  • Nur die notwendigen Unterlagen hatte das Bauamt noch nicht bekommen. Am 14. Juli, eine Woche nach Ablauf der verlängerten Frist, fehlten weiterhin wichtige Dokumente. Wieder drängte ein Beamter: Der Lageplan sei nicht auf dem aktuellen Stand, auch das Brandschutzkonzept liege nicht vor.

Der Verteiler des Briefs lässt darauf schließen, dass auch dieses Schreiben - nur zehn Tage vor der Love Parade erstellt - dem Büro Sauerland "zur Kenntnis" übermittelt wurde.

5 Tage bis zur Love Parade - eilig wird ein Brandschutzkonzept gezimmert

  • Auch wenn sie mit Entscheidendem im Verzug waren, erhöhten die Lopavent-Anwälte den Druck. Eine Berliner Kanzlei ("Rechtsberatung nach Maß") schrieb dem Oberbürgermeister am 19. Juli: Die Genehmigungen sollten nun mit "sofortiger Vollziehung" angeordnet werden, "um das überwiegende öffentliche Interesse" und natürlich auch das "schutzwürdige Interesse der Veranstalterin nicht zu gefährden".

Das Schreiben schloss mit der Warnung vor "immensen wirtschaftlichen aber auch ideellen Schäden, die nicht nur der Veranstalterin, sondern auch der Metropole Ruhr und der Stadt Duisburg entstehen, wenn die Veranstaltung (...) abgesagt werden muss".

Der drohende Unterton war kaum zu überhören - noch fünf Tage bis zur Love Parade.

In großer Eile wurde das 53-seitige Brandschutzkonzept zusammengezimmert: "Der Unterzeichner wurde am 12. Juli durch den Bauherrn beauftragt, ein Brandschutzkonzept mit abschließender Gesamtbeurteilung zu erstellen", heißt es in der Einleitung.

  • Abgegeben wurde das Konvolut bereits nach zehn Tagen, am 22. Juli, gerade mal zwei Tage vor der Love Parade und - was noch erstaunlicher ist - einen Tag nach der Genehmigung der Veranstaltung. Im Erlaubnisschlussspurt offenbarten die Duisburger Beamten geradezu hellseherische Fähigkeiten. Leider verschlossen sie vor den Risiken der Party wohl die Augen.

Denn die Tragödie hätte womöglich leicht verhindert werden können. Mit einem längeren Weg der Paradewagen wäre die verhängnisvolle Pulkbildung an der Rampe wohl vermieden worden. Noch im vorläufigen Ablaufkonzept vom 15. Januar ("Vertraulich!") war eine "gedachte 8" als Truckstrecke erwogen worden, um die Rampe herum. Später war sogar von einer noch größeren Runde die Rede, aber in beiden Fällen hätte der Zug mit seinen jeweils 40 Tonnen schweren "Floats" den Tunnel überqueren müssen.

Die Sicherung der längeren Strecke war dem Veranstalter wohl zu teuer, wie Insider dem SPIEGEL sagten. Sie hätte entsprechende Maßnahmen an den Übergängen und zusätzliche Asphaltarbeiten erforderlich gemacht. Die schließlich gewählte Runde kam billiger. "Bei dieser Lösung", so hieß es schon in dem Konzept vom 15. Januar, "werden viele, schon vorhandene oder leicht herzustellende Fahrwege genutzt."

Der Preis dafür war eine Katastrophe.