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Trauermarsch in Oslo Eine Nation ringt um Trost

Was kann ein Land dem mörderischen Hass eines Einzelnen entgegensetzen? Die Norweger haben eine Antwort gefunden: Liebe und Hoffnung. In einem bewegenden Trauermarsch haben mehr als 200.000 Menschen in Oslo der Opfer der Attentate gedacht.
Trauermarsch in Oslo: Eine Nation ringt um Trost

Trauermarsch in Oslo: Eine Nation ringt um Trost

Foto: Jeff J Mitchell/ Getty Images

"Eine Person, die glaubt", so lautet die erste und letzte Twitter-Nachricht des Fanatikers und Todesschützen Anders Breivik, "nimmt es leicht mit 100.000 auf, die nur Interessen haben." Die Frage aber am Montagabend muss lauten: Was ist, wenn Hunderttausende glauben? Wenn sie den irrsinnigen Hassmorden eines Einzelnen mit Großmut begegnen? Mit Liebe gar?

Norwegen, dieses tief verwundete Land, hat eine überwältigende Antwort auf Breiviks furchtbare Verbrechen gefunden. Mehr als 200.000 Menschen sind es allein in Oslo, die sich spontan vor dem Rathaus versammeln, um der Toten zu gedenken, auch in anderen Städten des Landes wie Bergen und Stavanger gab es Kundgebungen wie seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Die Bürger trösten sich gegenseitig, tragen Blumen und Kerzen und Karten, viele weinen, schluchzen, halten sich fest umschlungen. "Heute sind unsere Straßen mit Liebe gefüllt", ruft Kronprinz Haakon.

Und Ministerpräsident Jens Stoltenberg sagt, er sei sicher, dass Norwegen "diese Prüfung bestehen wird". Er blickt in die Menge, der studierte Volkswirt und Karrierepolitiker, der Meister der Statistiken, der in den vergangenen Tagen zum Landesvater reifen musste und gereift ist.

"Wir werden uns unsere Geborgenheit zurückerobern", so Stoltenberg. Dies sei ein Marsch für Demokratie, Toleranz und Einigkeit. "Das Böse kann Menschen töten, aber niemals ein ganzes Volk besiegen."


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Auch Kronprinz Haakon legt die sonst übliche royale Zurückhaltung ab: "Nach dem 22. Juli gibt es keine Ausrede mehr für den Kampf um eine freie und offene Gesellschaft." Man könne die schrecklichen Morde nicht ungeschehen machen, "aber wir können wählen, was sie mit uns machen". Seine Ehefrau Prinzessin Mette-Marit weint, die Menschen halten mitgebrachte Rosen in die Höhe.

"Menschen sind wir doch nur, weil wir den Hass überwinden können"

Mit den Tränen kämpft auch Alexander Rybak, der vor der Menge ohne Begleitung auf der Violine spielt. Der Sieger des Eurovision Song Contest 2009 kam als Vierjähriger mit seinen Eltern aus Weißrussland nach Norwegen. Als "starkes Signal" gegen Zuwanderung, für die sich die regierenden Sozialdemokraten starkgemacht hätten, hatte der Attentäter Breivik die Morde am Montagmittag einem Osloer Haftrichter begründet.

"Menschen sind wir doch nur", sagt am Abend die Hausfrau Lill Seljord, "weil wir den Hass überwinden können. Wir sind mehr als das Böse, das in uns ist." Und ihr Mann Jonas fügt hinzu: "Wir müssen und werden jetzt zusammenstehen."

Doch einfach wird die kollektive Umarmung nicht. Zerknirscht räumen die Behörden nun ein, bereits im März auf Breivik aufmerksam geworden zu sein - und nichts unternommen zu haben. Der 32-Jährige sei auf einer Liste von 50 bis 60 Personen aufgetaucht, nachdem er bei einem polnischen Chemieunternehmen einen Einkauf im Wert von umgerechnet 15 Euro getätigt habe, so die Chefin des Polizeisicherheitsdienstes PST, Janne Kristiansen. Die Firma stehe unter Beobachtung, Breiviks Order sei aber zu unbedeutend gewesen, um weiter verfolgt zu werden. "Wir hatten absolut nichts gegen Behring Breivik in der Hand, er lebte ein unglaublich gesetzestreues Leben", rechtfertigt sich Kristiansen.

Zuvor war bereits aus polnischen Sicherheitskreisen verlautet, dass Breivik Chemikalien zum Bau von Bomben über das Internet unter anderem bei einer Firma in Breslau bestellt habe. Es habe sich aber um legale Substanzen gehandelt. Auf Bitten der norwegischen Polizei sei der Inhaber des Unternehmens befragt worden. Die Kontakte wurden demnach aber als rein geschäftlich eingestuft.

Waren die Sicherheitskräfte wirklich so machtlos?

Nach offiziellen Angaben verlangte der Attentäter dort genau diejenigen Substanzen, die er laut seiner im Internet veröffentlichten 1500 Seiten starken Schrift zum Bau von Bomben benutzen wollte.

In dem Dokument schrieb der Verdächtige unter anderem von 300 Gramm Natriumnitrat zu einem Preis von umgerechnet zehn Euro, die er im vergangenen Dezember geordert habe. Bei eventuellen Fragen wollte er demnach angeben, das Salz zum Pökeln von Elchfleisch zu benötigen.

Breivik erstand dem Papier zufolge auch 150 Kilogramm Aluminiumpulver zu einem Preis von umgerechnet etwa 2000 Euro. Dieses hatte er am 1. März aber noch nicht erhalten. Bei Erkundungen zu dem Pulver wollte er seiner Schrift zufolge behaupten, dieses zur Aufwertung einer Bootsfarbe nutzen zu wollen.

Standen die Sicherheitskräfte dem bösartigen Talent des Anders Breivik also tatsächlich machtlos gegenüber, wie sie noch immer versichern? Es könnte sein, dass in Norwegen auf Schock, Trauer und Versöhnung schon bald die Skepsis folgt - und das Misstrauen.

Mit Material von dpa