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Antisemitische Welle an Schulen Jüdische Schüler fliehen vor Nazis und aggressiven Muslimen

Rechtsextreme Jugendliche und junge Muslime kultivieren einen Hass, der in Deutschland jahrzehntelang für undenkbar gehalten wurde: Sie machen Jagd auf jüdische Mitschüler. Politische Appelle verhallen an vielen Schulen ungehört. "Jude" wird zum Mode-Schimpfwort.

Berlin/Hamburg - Die Jüdische Oberschule in Berlin-Mitte gleicht einem Hochsicherheitstrakt: Wer den imposanten Altbau in der Großen Hamburger Straße betreten will, muss eine Sicherheitsschleuse passieren. Das Gelände ist von einem meterhohen Zaun umgeben, Kameras überwachen jede Bewegung, Polizisten stehen vor dem Gebäude Wache.

"Wir sind kein Ghetto", stellt Schulleiterin Barbara Witting klar. "Wir bieten Kindern Schutz, die an anderen Schulen Diskriminierung fürchten müssen." Und solche Übergriffe hätten in den vergangenen zwei Jahren stark zugenommen, beklagt die Direktorin. "Ich habe immer gedacht, dass Juden in Deutschland integriert seien. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass sich Antisemitismus so virulent äußert wie zuletzt."

Zu Wittings Schülerinnen zählen seit dieser Woche auch zwei Mädchen, die bis vor kurzem die staatliche, nicht-konfessionelle Lina-Morgenstern-Oberschule in Berlin-Kreuzberg besuchten. Ihr Leiden hatte für Aufsehen gesorgt: Eine der beiden Freundinnen, 14 Jahre alt, war über Monate hinweg von arabischstämmigen Jugendlichen antisemitisch beschimpft, geschlagen und bespuckt worden. Ihr Schulweg wurde zum Spießrutenlauf, ihre Peiniger lauerten ihr auf und jagten sie durch die Straßen. Am Ende musste das Mädchen auf dem Schulweg sogar unter Polizeischutz gestellt werden.

Antisemitismus nimmt zu

Die Vorfälle in Kreuzberg sind besonders drastisch, doch keine Ausnahme: Der Berliner Senat listet in seiner Studie "Gewaltsignale an Berliner Schulen 2004/2005" unter dem Stichwort "(Rechts-)Extremismus" 62 gemeldete Vorfälle auf, ein starker Anstieg gegenüber dem Vorjahr, in dem nur 39 Fälle gemeldet wurden. Unter der Kategorie fasst der Senat "antisemitisch, rassistisch/fremdenfeindlich, rechtsextrem, volksverhetzend oder fundamentalisch/islamistisch motivierte Äußerungen" von Kindern und Jugendlichen zusammen.

Ein Schüler einer Hauptschule im Bezirk Steglitz-Zehlendorf sagte im Unterricht: "Juden müssen alle vergast werden." In Friedrichshain-Kreuzberg sperrten Schüler einen Mitschülern mit den Worten "Jetzt drehen wir den Gashahn auf" in den Chemieraum ein. Ein ausländischer Grundschüler beleidigte in Treptow-Köpenick seine Lehrerin mit den Worten "Jude, Hexe, Seekuh". Als in Friedrichshain-Kreuzberg eine pädagogische Mitarbeiterin einen Streit zwischen Schülern schlichten wollte, bekam er entgegen geschleudert: "Verpiss dich, Jude."

Und die antisemitische Welle scheint sich zu verstärken: Im laufenden Jahr registrierten die Berliner Behörden bereits im November mehr antisemitische Vorfälle als im gesamten Vorjahr. Auch das EU-Beobachtungszentrum zu Rassismus und Gewalt kritisierte jüngst in einer Studie antisemitische, rassistische und rechtsextreme Vorfälle an deutschen Schulen.

Rechtsextreme kopieren Nazi-Parolen

In Grimmen in Vorpommern machten in dieser Woche rechtsextreme Jugendliche gegen eine Anne-Frank-Ausstellung mobil und verunglimpften das Tagebuch als Fälschung. In Parey in Sachsen-Anhalt zwangen im Oktober mehrere Jugendliche ihren 16-jährigen Mitschüler dazu, in der großen Pause mit einem Schild über den Schulhof zu gehen. Darauf geschrieben stand: "Ich bin im Ort das größte Schwein, ich lass mich nur mit Juden ein." Es ist ein Spruch aus der Nazizeit, mit ihm wurden damals Menschen angeprangert, die mit jüdischen Mitbürgern befreundet waren.

Eine Lehrerin griff ein, befreite den Jungen von dem Schild und alarmierte die Polizei. Derzeit laufen noch die Ermittlungen gegen die 14- bis 16-jährigen Jugendlichen wegen Volksverhetzung, Nötigung und Beleidigung, in einem Fall gibt es auch den Tatvorwurf der Körperverletzung.

Die Jüdische Gemeinde Berlin warnt bereits vor einer "neuen Dimension des Antisemitismus". Neben Anfeindungen von Rechtsextremen schlage jüdischen Kindern auch zunehmend Hass von muslimischen Jugendlichen entgegen. Die Gemeinde rät Eltern, ihre Kinder bei Konflikten lieber auf jüdische Schulen zu schicken - dort seien sie zumindest sicher.

Kippa wird aus Angst versteckt

Doch die Schutzzone endet außerhalb der Schulmauern: Eine Schulklasse der Jüdischen Oberschule wurde von einer anderen Berliner Schulklasse in der S-Bahn massiv antisemitisch beleidigt, religiöse jüdische Jugendliche verbergen ihre Kippa unter einer Mütze, wann immer sie auf die Straße gehen.

Die Vorfälle veranlassten den CDU-Politiker Peter Trapp, Abgeordneter im Berliner Abgeordnetenhaus, eine Anfrage an den Senat zu stellen: Wie viele derartige Übergriffe unter Jugendlichen gab es jüngst, will Trapp wissen, wie viele davon können "dem rechtsextremen Lager zugeordnet" werden, wie viele Jugendlichen, "die nicht deutscher Herkunft sind". Auf seine Anfrage hat der Abgeordnete noch keine Antwort erhalten, die Beantwortungszeit ist nach Angaben der CDU-Fraktion außergewöhnlich lang.

Dabei bemühe sich die Politik durchaus, sagt Schulleiterin Witting, sie dringe mit ihren Projekten und Appellen nur häufig nicht durch. Viele arabische Jugendliche seien so verbohrt, dass man nicht mehr an sie herankomme, beklagt Witting. "Und die Lehrer lassen es zu, dass ihre Schüler Judenwitze erzählen."

"Jude" als Mode-Schimpfwort

"Das Wort 'Jude' wird von Schülern zunehmend abfällig benutzt, und auf der Hitliste der Schimpfwörter ist es weit nach oben geklettert", berichtet Peter Wagenknecht vom Projekt "Bildungsbausteine gegen Antisemitismus" in Kreuzberg. Wagenknecht und seine Mitstreiter klären, derzeit noch mit Bundesmitteln gefördert, in Workshops und Schulbesuchen Jugendliche über Antisemitismus auf.

Allerdings sei, wer Jude als Beleidigung benutze, nicht automatisch ein Antisemit, sondern handle vielfach gedankenlos. "Viele Schüler empfinden die besondere Brisanz des Schimpfwortes 'Jude' gar nicht mehr, es geht ihnen einfach um einen Tabubruch." In ähnlicher Weise gebrauchten Schüler auch das Wort "Opfer" als Schimpfwort, um jemanden als schwach zu stigmatisieren.

Als er Anfang der neunziger Jahre mit Jugendarbeit angefangen habe, sei Antisemitismus noch kein Problem gewesen, erzählt Wagenknecht. Heute speise er sich häufig aus zwei Quellen: Schüler aus arabischen oder türkischen Familien seien durch den Nahost-Konflikt politisiert, ihre "israelfeindliche Haltung" gehe bisweilen fließend in Antisemitismus über. Deutsche Jugendliche mit rechtsextremen Tendenzen seien dagegen ideologisch vorgeschult und brächten ein entsprechend verzerrtes Vorwissen über Juden und das Judentum mit.

Sorge bereitet Wagenknecht, dass sich aus Angst immer weniger jüdische Schüler vor ihren Klassenkameraden zu ihrem Hintergrund bekennen: "Sie wollen sich nicht outen, das ist dann in der Klasse häufig nicht bekannt, und die Lehrer erzählen es nicht weiter." Der Rat käme häufig von den eigenen Eltern, die ihren Kindern Konflikte und Anfeindungen ersparen wollen.

Schulleiterin Witting sagt: "Wir sind mittlerweile die einzige Schule in Berlin, an der sich jüdische Kinder zu ihrer Identität bekennen können. Anderswo müssen sie sich der Mehrheit anpassen."