Ängste und Druck nehmen in der chinesischen Gesellschaft zu. Aber reicht das zur Revolution? Gedanken zu Chinas sozialem Wandel.
Unsere Waschmaschine ist kaputt. Daraus ergab sich heute ein sehr interessantes Gespräch mit unserem Vermieter. Wenn in unserer Wohnung etwas kaputt geht, dann rufen wir Zhou den Handwerker an, er ist für unsere Wohnung zuständig. Heute kam mit Zhou ein junger Chinese, der sich als unser Vermieter vorstellte. Wir kamen ins Gespräch.
Xiao He, so heißt der junge Mann, der vielleicht Anfang 30 ist, ich habe nicht gefragt. Er kommt aus Ningbo, einer Stadt etwa 150 Kilometer südlich von Shanghai. Und wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann gehören seiner Familie hier in der Gegend 7 Wohnungen. Er entwirft die Pläne für die Sanierungen der alten Wohnungen – ich glaube er ist Architekt. Nun würde man meinen, mit Eigentum in Hülle und Fülle, einer eigenen Familie, einem Volkswagen und „auch ausrechend Geld “ wie er meint, sei Xiao He seelig. Haben sich doch augenscheinlich alle sehnlichten Wünsche, die man in dieser aufstrebenden Nation haben kann, erfüllt.
Aber Xiao He ist nervös. Gekleidet in Jeans und eine einfache dunkle Steppjacke, mit einer in China typischen, viereckig dünn umrandeten Brille sieht er eigentlich mehr aus wie ein Student als ein Immobilienbesitzer. Xiao He sorgt sich um China, mit Trauer und Angst blickt er auf die Entwicklungen in der Gesellschaft. Und er erzählt Dinge, die ich hier immer wieder höre – über Druck, Ängste, zu viel Arbeit.
Wenn ein Mann kein Apartment besitzt, dann hat er es in China sehr schwer eine Frau zu finden. „Als ich noch studierte, da hatte ich eine Freundin“, erzählt Xiao He. „Fünf Jahre lang“, sagt er mit ausdrucksvollem Gesicht und zählt die Finger seiner linken Hand ab, als wolle er die Länge dieser Zeit demonstrieren. „Dann wollte sie mich nicht heiraten, weil ich kein Apartment besaß.“ Zuerst dachte er, dieses Mädchen allein habe einen schlechten Charakter. Nach und nach aber habe er mitbekommen, dass diese Einstellung bei jungen Frauen in China sehr verbreitet ist. Xiao He schüttelt den Kopf und schaut betroffen auf seine Finger. Seine jetzige Frau habe ihn dann geheiratet, obwohl er keine Wohnung besaß. Das sei mittlerweile in China sehr selten. „Wie soll das auch gehen?“, fragt er mich. In China würde man mit 26 heiraten, auf jeden Fall unter 30. Und wenn man mit seinem Studium durch ist, dann ist man schon 24. Wie soll man in dieser kurzen Zeit soviel Geld verdienen?
Jetzt habe er all das, sagt Xiao He. Die Unsicherheit aber ist nicht geblieben. „Als ich jung war, hatte ich Angst ich würde kein Geld verdienen, dann hatte ich einen Job und habe gefürchtet, ich kann keine Wohnung kaufen. Dann habe ich gearbeitet und gearbeitet. Jetzt besitze ich alles das, eine Wohnung, eine Auto – und habe immer noch Angst“. Es sei ein Problem, das er in der ganzen Gesellschaft sehe. Die Menschen ständen unter einem enormen Druck etwas zu beweisen. Nur derjenige ist etwas wert, der besitzt. Das ist die einfache aber grausame Logik, so Xiao He. „Was aber ist dann mit all denen, die arbeiten wie verrückt und es sich trotzdem nicht leisten können etwas zu kaufen? Sind diese Menschen weniger wert?“ Fragt er mich und zuckt mit den Achseln.
China steht unter einem enormen Druck. Vor allem Chinas junge Menschen, diejenigen, die zur Öffnungspolitik von Deng Xiao Ping das Licht der Welt erblickten. Ihre Eltern mögen sich noch an eine harte Kindheit unter Mao erinnern, sie sehen Chinas Wandel in der Regel hauptsächlich als große Chance zur Selbstverwirklichung. Ich denke an unseren Nachbarn, Mitte 50, der in einem internationalen Frachtunternehmen arbeitet. Viel von der Welt gesehen hat und jetzt die Wohnung neben seinen Eltern gekauft hat und einen großen Audi fährt. Er kann sich noch sehr gut daran erinnern, auf welch kleinem Raum er als Kind mit Eltern und Schwester gelebt hat. Das Wort „fazhan“, Entwicklung, klingt aus seinem Mund wie eine Prophezeiung.
Bei den heute Mittzwanzigern sieht das ganz anders aus. Druck hat es in China immer geben. Die Bevölkerungszahl an sich ist gleichbedeutend mit Druck. Was auch immer der einzelne erreichen möchte, es gibt immer Millionen anderer, die das gleiche wollen. Durch das strenge Schulsystem gepeitscht fürchten alle jungen Chinesen den „gao kao“, wörtlich den „hohen Test“, die Ausnahmeprüfungen für Universitäten. Monatelang schließen sich Schüler in boxgroßen Räumen nahe der Universität ein und pauken. Wer es dann schafft und wieder Tonnenweise Bücher auswendig gelernt hat um sich sein Diplom zu erarbeiten, der steht auf dem Arbeitsmarkt.
Die Chinesen haben der jährlich wachsenden Masse an Absolventen einen sehr illustrativen Namen verliehen. Ameisenvolk. In der Zeitung gibt es immer wieder Berichte darüber, dass es mittlerweile für junge Absolventen keine adäquaten Jobs mehr gibt. Hoffnungsvoll ziehen sie in die Städte, unter den Argusaugen der Eltern, die sich womöglich verschuldet haben, um ihrem einzigen Kind eine gute Ausbildung und sich selbst damit eine gute Rente zu sichern. Und dann arbeiten sie als Nudelverkäufer oder Aushilfe, verdienen kaum mehr als unqualifizierte Wanderarbeiter in ihren Putzjobs. Kein Wunder also, dass kurz vor dem Frühlingsfest die Stände von Dokumentenfälschern auch von jungen Leuten überrannt werden, die sich ein gutes Diplom oder ein Jobzeugnis fälschen lassen, um die Eltern daheim zu beglücken.
Und so geht das dann immer weiter. Der Kampf um den guten Job, ackern sparen ackern sparen, die Hoffung eine Wohnung kaufen zu können, um dann eine Frau zu finden. Dazu immer weiter steigende Immobilienpreise und seit vergangenem Jahr auch eine schmerzhafte Inflation.
Viel haben wir in den vergangenen Tagen diskutiert darüber, ob die Chinesen eine Revolution anzetteln werden. Ob die Jasminrevolution tatsächlich eine Chance hat in China. Viele ausländische Journalisten, da gebe ich den chinesischen Propagandaorganen recht, sind geradezu euphorisiert von der Idee.
Es sind die Chinesen mit denen ich spreche, die sehr skeptisch sind. Sicher, es gibt die Inflation, steigende Immobilienpreise, wachsende soziale Ungerechtigkeit, Enteignungen. Viel worüber geklagt wird. Und die oben genannten Gründe – der Druck steigt, die Ängste wachsen. Aber, so meinte eine befreundete chinesischen Journalistin zu mir, die Chinesen sind es gewohnt „chi ku de“, wörtlich übersetzt, Bitterkeit zu essen. Ein Volk, das immer viel gelitten hat, das bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Hungersnöte erlitt, unterdrückt wurde, sich in der Kulturrevolution von der Regierung erzwungen untereinander folterte und denunzierte.
Wie schrecklich sind dagegen die jetzigen Probleme? Wer, der China nicht wirklich gut kennt, um die Gefühle, Hoffnungen und Erinnerungen der Chinesen weiß, kann das wirklich beurteilen?