Rehau am Fichtelgebirge: Eine meiner Heimaten

Es geht hier – unter anderem – um meinen Heimatort am Rande des Fichtelgebirges. Dessen „Heimatlied“ beginnt genau so: „Rehau, mein Rehau, an der Grenze gegen Osten -„

Dreimal Heimat

Aber zunächst möchte ich etwas klarstellen, was Heimat betrifft: Man sagt ja, dass die Heimat jener mythische Ort ist, in dem man aufgewachsen ist, dessen Sprache resp. Dialekt man „mit der Muttermilch eingesaugt“ hat und wo man sich gefühlsmäßig zuhause fühlt. Aber was heißt das im Detail?

Leipzig als Geburtsort
Leipzig würde ich, obwohl dort 1940 geboren, nicht als „Heimat“ bezeichnen. Von hier rühren zwar meine allerersten Kindheitserinnerungen aus den Jahren 1942/43 (Besuch im Leipziger Zoo mit Eisbären, die Haltestelle der Straßenbahn vor dem Wangerooger Weg mit der Kaserne gegenüber, dazu vage Erinnerungen an die Gaststätten des Hauptbahnhofs, deren Pächter erst mein Großonkel Erich Naumann war, dann dessen Sohn Joachim, der zu einem meiner beiden Patenonkel wurde). Aber „Heimat ist das für mich nicht.
Doch über Leipzig an anderer Stelle mehr.

Abb. 1: Ein wenig kitschig: der Brunnen am Maxplatz in Rehau bei nächtlicher Beleuchtung – vor dem alten Rathaus , das nun Stadtmuseum ist. (Titelbild des genannten Buches „Rehau: 200 Jahre Modellstadt Bayerns“).

Heimat 1: Rehau in Oberfranken
Ich wurde zwar 1940 in Leipzig geboren; aber meine Mutter zog, sobald Ende 1942 die Bombardierungen der Stadt begannen, zurück in ihre Heimatstadt Rehau, wo ihre Eltern, also meine Großeltern lebten (mein Vater war von Adolf Hitler und seiner Nazi-Mörderbande in diesen tollen Welteroberungs-Krieg geschickt worden und befand sich damals gerade in Holland oder auch schon auf Kreta). Von Ende 1942 bis März 1956 war Rehau jedenfalls die Kleinstadt,
° in der ich aufwuchs,
° deren oberfränkischen Dialekt ich parallel zum zuhause gesprochenen Hochdeutsch aufnahm,
° wo ich zur Schule ging,
° wo die wichtigsten Verwandten lebten
° und die ersten Verliebtheiten geschahen.
All dies zusammen genommen, war dies meine erste Heimat und bleibt dies auch in den Erinnerungen. Allerdings hat der Ort sich inzwischen so sehr verändert (das damalige Wohnhaus und den Garten eingeschlossen), dass mich dort fast nichts mehr hinzieht.

Abb. 2: Das Ehrengrab eines meiner beiden Rehauer Urgroßväter: Stadtrat und Bauunternehmer Eduard Kropf. Der andere Vorfahre war der Viehhändler Adam Hertel. (Foto Jan 2024: Oliver Groll, Stadtarchiv Rehau)

Heimat 2: München
Meine aktuelle Noch-immer-Heimat ist im Frühjahr 1956 München geworden. Da zog es mich als Jugendlichen hin. Dort wurde den kleinstädtischen Prägungen aus Rehau (welche fraglos die wichtigsten sind) all jene Erfahrungen hinzugefügt, die mein Leben als Erwachsener bestimmten und heute noch bestimmen. München ist fraglos heute meine Heimat – meine zweite Heimat gewissermaßen.
Es gibt eine interessante geistige Brücke, welche diese beiden Heimaten verbindet und die seit 1948 so etwas wie eine geistige Heimat geworden ist: Die Science Fiction. In Rehau lernte ich sie kennen, trat dort (1955) dem „Science Fiction Club Deutschland (SFCD)“ bei, lernte andere Fans kennen. Das ging in München nahtlos weiter: Der erste neue Freund in der bayrischen Großstadt außerhalb der Schule war einer der beiden Gründer der Akademie U5, einer renommierten Privatschule für Grafikdesign, wo ich lange dank dieser Freundschaft meine Schreib-Seminare durchführen konnte (inzwischen, 2024, gibt es die U5 nicht mehr).

Abb. 3: Mein Lieblingsplatz in München: Das Stauwehr am Eisbach hinter dem Haus der Kunst (Foto: JvS)

Heimat 3: Bürchen im Wallis
Durch meine zweite Frau Ruth lernte ich ab 1978 mit dem Hochgebirge des Wallis eine völlig neue Heimat kennen, mit allem, was dazugehört: der lokale Schweizer Dialekt (Walliser Dütsch), eine unglaublich intensive Landschaft mit den vielen Viertausendern, viele neue Menschen eines sehr sympathischen Schlags. In dieser Dritten Heimat konnte ich im September 2002, mit der Unterstützung vieler Bewohner des Dorfes Bürchen, auf einer wunderbaren schrägen Bergwiese ein richtiges kretisches Labyrinth auslegen, das man begehen kann. (Diese Anlage wurde 2007 leider wieder entfernt.)

Abb. 4: Einweihung und erste Begehung des Birkenlabyrinths von Bürchen (rechts vorne der Lehrer Widmer, mit dessen Dorfschulklasse ich das Labyrinth mit an die tausend (!) Steinen auslegte. (Foto: JvS)

Erloschene Feuer und unsinkbare sowie andere Katzen

Doch nun zum anderen Thema dieses Beitrags, zu dem es allerdings starke Verbindungen gibt. Der Autor der beiden Bücher, die ich hier vorstellen möchte, Gerald Sammet, stammte aus Rehau. Ich habe ihn dort nie getroffen, lernte ihn aber in München durch seinen Namensvetter Dietmar kennen, mit dem ich schon in der ersten Volksschulklasse in Rehau die gleiche Bank drückte und mit dem ich bis zu seinem Tod 2020 das pflegte, was man als Freundschaft treffend bezeichnet. Wir trafen uns, als er nach München zog, einmal im Monat zum Essen, redeten über die „alten Zeiten“ in Rehau und hatten zum Glück auch das Interesse an vielen aktuellen Themen.
Über die alten „Rehauer Zeiten“ wusste eine Menge auch Gerald Sammet zu berichten (2023 leider auch verstorben), der ebenfalls in Rehau aufgewachsen war, der wie Dietmar und ich als Fahrschüler in Selb in die Oberrealschule (heute Gymnasium) ging und danach in Bremen lebte. Erloschene Feuer. Industrie & Glück nannte Gerald Sammet seine Dokumentation der Industrialisierung und ihres allmählichem Wiederverschwindens in meiner früheren Heimat Oberfranken. Das mag sich als Empfehlung für Weihnachten 2013 (für die ich diesen Text ursprünglich in meinem – nicht mehr existierenden – Labyrinth-Blog verfasst hatte) inzwischen etwas seltsam ausnehmen – aber zum einen ist Gerald Sammets Dokumentation sehr gut geschrieben und zudem ebenso informativ wie unterhaltsam. Und es soll ja auch Oberfranken geben, die Sachbücher lesen – vielleicht sogar unter den Besuchern dieses meines Blogs? Für mich war es jedenfalls wie ein Trip zurück in die Kindheit und Jugend. Gerald Sammet stammte ja aus dem selben Ort Rehau wie ich, und dieses Rehau kommt recht umfangreich im Buch vor – mit vielen Schauplätzen, die ich als Kind selbst frequentiert habe.
Wer es mit der Industrialisierung und ihrer allmählichen Veränderung einer ganzen Landschaft nicht so hat, wird prächtig unterhalten in einem Buch vom selben Autor mit einem völlig anderen Sujet: Dem Leben von neun ausgewählten Katzen. Großartig beobachtet und erzählt, dieser „Unsinkbare Kater“ und seinesgleichen! Ein köstlicher Lesegenuss nicht nur für Katzen-Fans.
Sehr schön der autobiographische Einstieg des Autors (und zugleich etwas Labyrinthisches, was ich ja auch sehr schätze):
„Irgendwann schaut der Frühling auch dort oben wieder vorbei. Meistens ist es dann schon April, oder man hat sogar bis in den Mai hinein warten müssen. Man läuft dann entweder vom Waldsteinhaus zum Roten Schloss hinüber, einem Steinwirrwarr, der das Terrain ziemlich lädiert überragt, und steigt, auf dem von dort ausgehenden Saumpfad, der vor einer Stiege endet, hinauf bis zum Gipfel, mit obenauf einer Art Belvedere auf eine dieser für das Fichtelgebirge so typischen, einen labyrinthischen Felssturz abschließenden Turm“ (S.17)

Quellen
Ludwig, Karl H.C. et al: Rehau: Raum für Visionen. Berlin 2022 (ff publishers)
.
Sammet, Gerald: Erloschene Feuer. Industrie & Glück. Schwarzenbach/Saale 2012. (Transit Verlag).
ders.: Der unsinkbare Kater. Neun Katzenleben. Schwarzenbach/Saale (Transit Verlag).

Auch sehr lesenswert und informativ: .
Stadt Rehau (Hrsg.), Feldrapp, Reinhard (Fotos),Kugler, Martin und Reinhard : Rehau: Modellstadt Bayerns.

Schauen Sie bitte gelegentlich auch mal in die früheren Beiträge dieses Blogs rein! Mehr zu Rehau gibt es unter:
Asterix auf Oberfrängisch: Dunnergeil!
Kriegserlebnisse eines Fünfjährigen
und vieles mehr – in der Kategorienwolke über das Stichwort „Rehau“ zu finden.

Post 319 _ aut #2115 _ Aktualisierung: 07. März 2024 /(23. Jan 2024/20:20 – SciLogs: Labyrinth-Blog 2013-05-24)

Labyrinthiade: Fünf Kreise von Figuren

(Diesen Text wollte ich schon lange mal überarbeiten und hier im Blog veröffentlichen. Ich hatte ihn ursprünglich 2007 für meinem früheren Labyrinth-Blog verfasst. Hier ist er nun, frisch poliert und illustriert:)

Abb.: Der Sturz des Ikaros – unten ist das Labyrinth-Gefängnis auf Kreta angedeutet – in der Ferne gleitet Vater Daidalos Richtung Sizilien davon (Aquarell Alfred Hertrich 2007).

Theseus – Ariadne – Minotauros – Minos – Daidalos – Ikaros – eine Fülle von Figuren bevölkern die Geschichte(n) um das kretische Labyrinth. Genau genommen sind es fünf Kreise von Figuren, deren Insgesamt ich als LABYRINTHIADE bezeichne.

1. Den Ersten (Innersten) Kreis bildet die klassische HELDENREISE des athenischen Prinzen Theseus, der im Labyrinth mit dem Minotauros kämpft, wobei ihn die Prinzessin Ariadne mit dem nach ihr benannten Ariadnefaden* unterstützt.

*Ob dieser Faden „rot“ war, wie ich gerne schreibe, ist unsicher. Manche Quelle nennen die Farbe, in der Originalsage wird darüber nichts berichtet. Für mich ist er immer „rot“ gewesen: Rot als Farbe der Liebe (von Theseus zu Ariadne) – und der Aggression (Tötung des Minotauros). Das würde auch gut zum sprichwörtlichen „Roten Faden“ passen, der ja hilft, Ordnung in Texten zu schaffen – oder eben aus einem Irrgarten/Labyrinth herauszufinden.

2. Im Zweiten Kreis finden wir Daidalos, den Erbauer und bald auch Gefangenen des Labyrinths, der mit seinem Sohn Ikaros (den er mit der Sklavin Naukrate zeugte) mit Hilfe künstlicher Flügel aus dem Labyrinth flieht. Je nach Variante stürzt Ikaros ab und ertrinkt – oder wird gerettet. (Die erste, tragische Variante ist eindeutig die beliebtere.)
Daidalos wurde aus Athen verbannt, weil er aus Neid seinen ebenfalls sehr begabten Neffen und Lehrling Perdix ermordet hatte. König Minos bot dem genialen Flüchtling gerne Asyl – bis er der Gemahlin des Königs die künstliche Kuh baute, in der sie sich vom Poseidon-Stier bespringen ließ, was zur Geburt des stierköpfigen Minotauros führte.
Eine wirklich wahnsinnige Geschichte und so etwas wie der Ursprung der modernen Science-Fiction., in der solche Mad Scientists und ihre Erfindungen ja ein wichtiger Topos sind – Mary Shelleys Frankenstein-Roman führte das dann 1816 kongenial weiter.
In diesen Zweiten Kreis gehören aber auch König Minos, als Auftraggeber für den Bau des Labyrinths, und seine Gattin Pasiphaë sowie Minotauros, der gefräßige Bankert, für den das Labyrinth als Aufenthaltsort bzw. Gefängnis durch Daidalos erbaut wird.
(S. auch den Beitrag Erfand Daidalos den ersten Roboter? )

3. Den Dritten Kreis bevölkern Figuren, die in der kretischen Phase der Labyrinth-Erzählung direkt nicht auftauchen, aber wichtig für den Fortgang der ganzen Geschichte sind:
Theseus´ Vater Aigeus (auch Ägäos – nach ihm ist das Ägäische Meer benannt), König von Athen, der sich vor Gram in den Tod stürzt, als der heimkehrende Sohn das Segel mit der falschen Farbe setzt (statt rot für Leben schwarz für Tod – was dem Sohn praktischerweise den Thron freimacht). Dann Medea, die Stiefmutter des Theseus, die ihm mit Gift nach dem Leben trachtet; sowie Phädra, Schwester der Ariadne, die Theseus später heiratet.

4. In einem noch weiter vom Kern entfernten Vierten Kreis finden wir schließlich Figuren, die nur noch sehr indirekt mit dem eigentlichen Geschehen verbunden sind: Zeus und die von ihm entführte Prinzessin Europa (werden Eltern des Minos), Odysseus, Ödipus und seine Tochter Antigone, Jason (von den Argonauten, Geliebter der Medea), Hippolytos (Sohn des Theseus mit der Amazonenkönigin Hippolyte – in den sich tragischerweise Theseus´ zweite Frau Phädra verliebt)e. Dazu die Götter Helios (Vater von Pasiphaë), Dionysos (dem Ariadne als Priesterin versprochen war), Poseidon (angeblich der wahre Vater des Theseus). Und noch einige andere mehr.

5. Schließlich gibt es weit draußen an der Peripherie noch einige Gestalten, die man einem Fünften Kreis zuordnen könnte. Das sind Menschen unserer Tage – oder auch Objekte – die Namen aus der Labyrinth-Geschichte tragen.
Allen voran ist da Ariane – sowohl als Frauenname absolut modern (s. den Film Good Bye, Lenin! ) wie auch als Name der wichtigsten Rakete der Europäischen Raumfahrt Agentur (ESA). Aber auch Ikarus und Dedalos sind als Raumschiffe im Angebot, Theseus ist der Name eines Verlages, Minotaurus Titel eines Films und das Labyrinth selbst geistert unaufhörlich durch die Medien, auch als Buchtitel (z.B. Das verlorene Labyrinth von Kate Moss) und als Filmtitel (Pans Labyrinth – räumte 2007 sieben Oscars ab)

318 _ aut #966 _ 29. November 2023 / 20:39 (2007 im Labyrinth-Blog als LdS #127)

Potpourri aktueller Themen 

„Ein Potpourri ist in der Musik eine Komposition, die aus bereits bestehenden Kompositionen zusammengesetzt wird und nachträglich eine neue, mehr oder weniger harmonische musikalische Einheit bildet.“ (Wikipedia)

Nun, dieser Blog-Beitrag wird kaum eine „neue Einheit bilden“, obwohl im Hintergrund die wüsten Töne des aktuellen Nah-Ost-Konflikts und all der damit einhergehende widerliche Antisemitismus aus allen möglichen und unmöglichen Quellen als grelle „Begleitmusik“ im Spiel sind.
Der lokalpolitische Konflikt um die unsägliche Art, wie sich Hubert Aiwanger – der in den nächsten Tagen ja wieder Minister in Bayerns Kabinett wird – uns Bürger mit seiner Jugendsünde eines abstoßenden antisemitischen Pamphlets plagt. ist grenzwertig. Wobei es nicht nur die Jugendsünde selbst ist, die mich anwidert (und viele seiner bayrischen Wähler leider sehr begeistert hat), sondern die Art und Weise, wie er öffentlich damit umgegangen ist – indem er die Süddeutsche Zeitung zum Täter machte (weil sie auf das Pamphlet hinwies) und sich selbst zum Opfer stilisierte. Hier eine treffende Karikatur von Teresa Habild, die alles bestens auf einen Punkt bringt, indem sie satirisch den jungen Mozart und Tennis-Legende Becker und eben den „Hubsi“ auf eine Ebene stellt:

Abb. 1: Mehr ist zur „Causa Aiwanger“ kaum zu sagen (Teresa Habild 08. Sep 2023 in Neues Deutschland – mit Erlaubnis der Künstlerin).

Eigentlich wollte ich erst in der zweiten Novemberhälfte wieder etwas hier im Blog veröffentlichen, weil ich dann hoffentlich mein aktuelles Buch-Projekt beendet habe: Eine Collection eigener SF-Stories, die bereits einmal irgendwo veröffentlicht worden sind im Zeitraum von 1956-2023. Aber es gibt einige aktuelle Themen, die ich wenigstens kurz anreißen möchte, weil sie mich sehr beschäftigen:

° Die Causa „Hubert Aiwanger“ (s. oben).
° Der schreckliche neue Krieg um Israel.
° Das wunderbare neue autobiographische Buch Wo die Geister tanzen von Joana Osman (Tochter eines palästinensischen Vaters und einer deutschen Mutter), das diesen Nah-Ost-Konflikt besser verständlich macht als viele schlaue Schnellschüsse und vor allem all diese unsägliche „Meinungen“, die von allen Seiten diesbezüglich geäußert werden
° – inklusive Greta Thunberg, die ich noch immer ehr bewundere, die aber offenbar leider der „Berufskrankheit“ vieler Nobelpreisträger und anderer Prominenter verfällt, sich zu Themen zu äußern, von denen seine keine profunde Kenntnis, bestenfalls eine vage Ahnung hat (und die man treffend „Nobilitis“ oder besser „Deformation professionelle“ nennt → Dummes Gerede von klugen Leuten ).

° Dazu unsäglich dumme Bemerkungen der BRÜLL-Zeitung über den in Wirklichkeit sehr klugen Tatort-Krimi „Murot und das Paradies“ (der eigentlich ein sehr psychologischer Science-Fiction-Film ist und viel über Depression mitteilt, Therapie-Sitzungen beim Psychoanalytiker inbegriffen).
° Eine bewundernswerte Rede von Salman Rushdie anlässlich der Buchmesse, wo man ihm verdientermaßen den „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ verliehen hat.
° Mein Bedauern, dass man das Nachtstudio des Bayrischen Rundfunks den Garaus machen wird – ein sehr anspruchsvolles Sendeformat, für das ich von 1977 bis 1996 insgesamt 71 Beiträge geliefert habe.
° Und last but not least: Meine Begeisterung für die Musik der multitalentierten Sängerin, Gitarristin und Pianistin Beth Hart, die ich in diesem Jahr für mich entdeckt habe – was für eine tolle Entertainerin!

Zu alledem nur kurz einige Illustrationen – und im November (hoffentlich) ausführlichere Beiträge. –

Abb. 2 und 3: Joana Osman hat zwei sehr lesenswerte Bücher über den Nahost-Konflikt veröffentlicht: den Roman Am Boden des Himmels und die autobiographische Geschichte ihrer Familie Wo die Geister tanzen, die zusammen verständlich machen, was da in und um Israel passiert – und wie man den Konflikt lösen könnte, wenn man das wirklich will (Atlantik-Verlag Hamburg 2019 / Bertelsmann-Verlag München 2023)

Entweder der zuständige Redakteur dieser Titel-Geschichte (!) der BILD-Zeitung um den aktuellen Tatort-Krimi ist selbst unsäglich dumm (weshalb ich seinen Namen lieber verschweige) und hat deshalb nicht kapiert, worum es in diesem exzellenten Film geht (den beispielsweise die Süddeutsche Zeitung sehr gelobt hat) – oder er stellt sich dumm – was beides eben „dumm“ ist.
Aber den Autor des Drehbuchs und zugleich Regisseur von Murot und das Paradies und diesen Film als „plem plem“ zu diffamieren, sagt eigentlich nur etwas über den Geisteszustand des BILD-Redakteurs aus, der sogar den „Oscar“ für Florian Gallenberger noch abwertend zitiert.

Abb. 4: „Was man nicht versteht – darüber sollte man besser schweigen“ (frei nach Ludwig Wittgenstein) (BILD vom 23. Okt 2023).

Beth Hart kann wirklich alles: Leise Balladen (wie das berührende Lied an und für ihre Mutter, die im Konzert anwesend ist: „Mama, this one´s for you„) und fetzige Rock-Nummern wie „Sugar Shack“, die sie als würdige Nachfolgerin und Vollenderin von Janis Joplin ausweisen (die sie in einem Film verkörpert hat), dazu eingängige „Schlager mit Tiefgang“ wie den ironischen „Chocolade Jesus“ und herzzereißende autobiographische Songs wie „Sister Heroin“ und das rockende „Everybody is sober (I am still high)„.
Mit letzterem illustriert sie unglaublich intensiv die euphorische Phase ihrer bi-polaren Störung, über die sie in dem Bio-Pic „Bad Woman Blues“ sehr offen spricht.
Auf der Blu-ray kann man sie gleich zu Beginn als liebevolle Entertainerin erleben, die singend durchs Publikum geht, Zuhörer berührt, Hände schüttelt, Selfies machen lässt – um dann oben auf der Bühne im Konzert zur rasende Furie oder zum erotisierenden Vamp zu werden und überzeugend in noch manch andere Rollen zu schlüpfen – um sich dann bei den „Extras“ im Interview sich als aufmerksames Gegenüber zu zeigen, das deutlich hochintelligent ist und ein exzellentes „Role model“ für andere Frauen sein kann, wie man sich in dieser sehr männerdominierten Welt behaupten kann, ohne „hart“ zu werden.
Und sich in einer ausverkauften „Royal Albert Hall“ vor vielen Tausend Menschen zu präsentieren – das musss man auch erst einmal aushalten – ja sogar sichtlich genießen!

Abb.: 5: Blu-ray von Beth Harts Konzert „Live at the Royal Albert Hall“ in London 2018 (Mascot Music)

Quellen
Bovermann, Philipp: „Du, Greta?“. In: Südd. Zeitung Nr. 244 vom 23. Okt 2023, S. 9.
Dick, Nigel: Beth Hart live at the Royal Albert Hall (London). 2018 (Mascot Music).
Fischer, Florian: „Gute Nacht, BR“. In: Südd. Zeitung Nr. 245 vom 24. Okt 2023, S. 19.
Habild, Teresa: Aiwanger-Karikatur. In: Neues Deutschland vom 08. Sep 2023.
Minkmar, Nils: „Frieden ist möglich, bei ´Barbie´“ [Salman Rushdie]. In: Südd. Zeitung Nr. 244 vom 23. Okt 2023, S. 9.
Osman, Joana: Am Boden des Himmels. Hamburg 2019 (Atlantik / Hoffmann & Campe).
diess.: Wo die Geister tanzen. München 2023 (Bertelsmann).
Schwabe, Oliver (Regie): Beth Hart: „Bad Woman Blues“. Sendung: Rockpalast | 27. November 2023, 01.55 – 02.55 Uhr | WDR Fernsehen.
Straten, Walter M. und Schacht, Michael: „Er hat uns diesen Plemplem-Tatort eingebrockt [Florian Gallenberger]“: In BILD-Zeitung vom 23. Okt 2023, S. 1 + S. 6.

317 _ aut #1971 _ 30. Okt 2023/18:20 (Aktualisierung) / 25. Okt 2023/20:35

Ötzi: Das Zufalls-Wunder aus der Steinzeit

Seit man diese Mumie im September 1991 hoch oben in den Alpen fand, also seit nunmehr 32 Jahren, wird sie von geschätzten 70 wissenschaftlichen Institutionen systematisch erforscht. Es dürfte kein Ereignis und keine menschliche Gestalt geben, die jemals so intensiv untersucht worden ist, in weltweiter Zusammenarbeit. Und immer wieder tauchen neue und wirklich sensationelle Ergebnisse auf, weil die Wissenschaft Fortschritte macht. So hat man aktuell mit besseren Analysegeräten erneut die DNS des Leichnams analysiert und festgestellt, das die braune Farbe der Mumie (die man bisher für eine nachträgliche Verfärbung durch den langen Prozess der Mumifizierung hielt) in Wirklichkeit wohl seine Originalfarbe war. Und dass dieser Mann nicht aus dem Süden (Mittelmeerraum) kam, wie bisher vermutet, sondern aus dem Osten (Anatolien?).
Die Karikaturistin Teresa Habild hat mir erlaubt, ihre diesbezügliche Karikatur, in der sie u.a. die aktuelle Fremdenfeindlichkeit politisch rechter Kreise aufs Korn nimmt, hier im Blog zu übernehmen:

Abb.: 1: Karikatur von Teresa Habild (Südd. Zeitung vom 18. Aug 2023).

Dieser Beitrag ist eine passende Gelegenheit, wieder mal darauf hinzuweisen, dass eine wesentliche Funktion dieses Blog ist, anhand aktueller Ereignisse Elemente meiner eigenen Autobiographie dingfest zu machen → Grabstein zu Lebzeiten .

Beim „Ötzi“ fließt vieles zusammen und macht ihn zu einem Parade-Beispiel für MultiChronie. Vor allem gibt es viele Bezüge zu meiner eigenen Lebensgeschichte mit vielen „mein“:
° Mein Beruf als Journalist (Berichte für den Bayrischen Rundfunk etc. ).
° Mein Beruf als Seminarleiter (Schreib-Werkstatt im Kloster Marienberg).
° Mein lebenslanges Interesse an Geschichte.
° Mein Interesse an Naturwissenschaften.
° Mein Faible für Science-Fiction (die Mumie inspirierte mich sogar zu einem Roman, der allerdings nie das Stadium eines ausführlichen Exposees verlassen hat – aus Respekt vor dem unbekannten Toten.
° Meine Liebe zu den Bergen und zum Bergwandern.  
° Mein Faible für Zufälle.

Der Mann vom Similaun-Gletscher

Doch nun zum Ötzi oder wie ich ihn lieber nach seinem Fundort nenne: Der Mann vom Similaun. Similaun („weiße Lawine“) meint den Berg und Gletscher im Grenzgebiet von Österreich und Italien/Südtirol. Dort oben befindet sich das Hauslabjoch (auch Tisenjoch genannt), wo im September 1991 ein Hausmeister-Ehepaar aus Nürnberg, warum auch immer, einige Schritt vom Wanderweg abwich und dort in einer Mulde einen mumifizierten Toten fand. Das Foto (unten) hat ein mir unbekannter Wanderer mit Polaroid angefertigt und mir geschenkt (man entschuldige die schlechte Qualität – aber so ist das mit manchen Zeitdokumenten). Es zeigt ganz links einen (ebenfalls unbekannten) Wanderer, der die Leiche in ihrer letzten Stellung pietätlos nachäfft, daneben zwei weitere Unbekannte – dann Andreas Waldner aus Mals/Südtirol, der im September 1992 mit mir zur Fundstelle hochstieg, und ganz rechts am Bildrand mich selbst.

Abb. 2 Die Fundstelle am Hauslabjoch: Von links nach rechts: unbekannter Wanderer posiert als Mumie, zwei weitere unbekannte Wanderer, Andreas Waldner (Mals) und der Blogger JvS (Foto: Sep 1992, Fotograf unbekannt).

Seltsame Zufälle zuhauf

Wie kann man es erklären,
° dass just in den kritischen Tagen, in denen der Wetterumschwung ins Warme (und damit in weiteres Abtauen des schützenden Schneeschicht) und hungrige Aasfresser diesen uralten Körper unwiederbringlich zerstört hätten
° der weltberühmte Bergsteiger und mediengewandte Schriftsteller Reinhold Messner mit einem Begleiter in der Hauslabhütte nahe dem Fundort einkehrte und vom Hüttenwirt von diesem rätselhaften Leichenfund erfuhr?
Messner schaute sich die Mumie sofort an, schätzte ihr Alter auf „mindestens 800 Jahre“ (also keiner der in dieser Gegend nicht seltenen toten Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg) und mobilisierte ein Bergungsteam. Der Rest ist – buchstäblich „Geschichte“ – und zwar sensationelle Weltgeschichte mit vielen ZeitSchichten.

Es kamen noch eine Reihe weiterer „glücklicher“, also hilfreicher Zufälle ins Spiel, die ich in zwei Beiträgen in der Zeitschrift Esotera zusammengetragen habe. In einer Halbstunden-Sendung für den Bayrischen Rundfunk stellte ich den Fund und wie es mit dem „Krimi aus der Steinzeit“ um den „Gletschermann weiterging, ausführlich vor (BR 29. Sep 1992). Darin werden auch zwei kurze Interviews zugespielt, die ich in München mit Reinhold Messner und in Innsbruck mit dem zunächst für die Sicherung und Untersuchung des Fundes maßgeblichen Wissenschaftler Prof. Konrad Spindler (Innsbruck) geführt habe.

Zu diesen offiziell dokumentierten Zufällen kamen noch weitere hinzu, die ich in Zusammenhang mit der „Ötzi“-Geschichte selbst erlebt habe – und die man mir einfach glauben muss:
Zufall 1
betrifft meinen Besuch bei der Fundstelle oben am Similaun, den ich dem passionierten Südtiroler Bergsteiger und Literatur/Schreib-Fan Andreas Waldner zu verdanken habe, damals Leiter der Raiffeisen-Filiale in Mals im Vinschgau. Dort befindet sich das berühmte Benediktinerkloster Marienberg, in dem Andreas (s. Abb. 2) im September 1992 eine Schreib-Werkstatt unter meiner Leitung organisiert hatte. Gegen Ende des Kurses erwähnte ich mal so nebenbei, dass ich so fasziniert sei von der im Jahr davor entdeckten Gletschermumie des „Frozen Fritz“ (wie die Amerikaner ihn respektlos nennen).
Darauf meinte Andreas: „Magst mit mir zur Fundstelle hochsteigen?“ Zusammen mit einem anderen Kursteilnehmer habe er eine kleine Ausstellung zum „Ötzi“ im Schnalstal organisiert und die Fundstelle sei ihm wohlbekannt.
Wer kann bei so einem Angebot „Nein“ sagen? Und so führte mich dieser Zufall tatsächlich nach dem Ende des Kurses hoch zur Fundstelle (s. oben Abb. 2).
Zufall 2
Rein zufällig war Andreas als Südtiroler Bergfex mit Reinhold Messner bestens bekannt, und so fuhr er mit mir nach unserem Aufstieg früh am Morgen zur Fundstelle noch am selben Nachmittag zur nicht weit entfernten Burg Juval, wo Messner ein kleines Museum eingerichtet hat und auch lebt. Messner konnte uns nur kurz begrüßen, weil er Besuch von einer Bergführergruppe hatte – aber durch Andreas´ Vermittlung kam ich einige Tage später in München zu einem Interview-Termin, weil Messner (rein zufällig natürlich) sein damals gerade erscheinendes neues Buch Rund um Südtirol im Piper-Verlag vorstellte, so dass ich das Interview in mein eigentlich schon fertiges BR-Feature einbauen konnte.

Nicht ganz so zufällig war das Interview, das ich damals in Innsbruck mit Prof. Konrad Spindler führen konnte, der in einem internationalen Verbund von (damals schon an die 60!) renommierten Instituten überall in der Welt die Mumie mit den modernsten Methoden untersuchte – in einem eigens dafür eingerichteten (gekühlten) Labor. Bald danach wurde sie auf Betreiben der italienischen (für Südtirol zuständigen) Regierung nach Bozen überführt wurde (weil man inzwischen die Fundstelle genauer im Grenzgebiet zwischen Italien und Österreich lokalisieren konnte und sie Italien zusprach).
Der weitere Zufall war dabei, dass der viel gefragte Prof. Spindler überhaupt einen Interview-Termin mit dem Journalisten aus München freischaufelte, sodass ich auch ihn als den Ötzi-Experten mit in die BR-Sendung einbeziehen konnte. So etwas macht man natürlich nicht per Telefon – da fährt man nach Innsbruck, denn nur durch mein persönliches Erscheinen dort in der Universität war es mir möglich, die Mumie selbst in Augenschein zu nehmen – angesichts ihrer Geschichte und dem, was man damals, September 1992, allmählich zu erahnen begann, ein wirklich sensationelles Erlebnis für mich. Das ich nur dem Bayrischen Rundfunk (als Auftraggeber der Sendung) zu verdanken habe, denn damals (wie auch heute noch) wollte alle Welt diese Mumie in Augenschein nehmen – die man aber nur in größeren Zeitabständen und auch dann nur jeweils für wenige Minuten in ihrem „Schneewittchen-Sarg“ vorführte.
Spindler hat damals in einem großartigen Sachbuch die verfügbaren Erkenntnisse über den Mann im Eis, zusammengetragen, die ich heute noch einigermaßen korrekt sind – wenn auch inzwischen interessante neue Details hinzukamen (was ja der Anlass für die obige Karikatur war). Ein Buch, das ich – Zufall wiederum – druckfrisch noch vor dem offiziellen Erscheinen vom Bertelsmann-Verlag bekam (Abb. 3).

Das hat schon was: Auge in Auge mit dem Original dieses geheimnisvollen Menschen zu sein – und nicht nur mit einer – wenngleich einigermaßen lebensechten – Nachahmung, wie man sie bald darauf in München in der Kaufingerstraße im Jagdmuseum bestaunen durfte (s. auch oben die Karikatur) – oder in der sehr glaubwürdig inszenierten Doku-Fiction Der Mann aus dem Eis mit Jürgen Vogel als sehr überzeugendem Steinzeitmenschen (s. Abb. 4.)

Abb. 3: Die erste renommierte Publikation über die Mumie (es gab auch andere) – Abb. 4: Der sehr glaubwürdige, realistische Film über die möglichen Umstände von der Ermordung des Similaun-Mannes (Bertelsmann Verlag – Elite Film AG).

Parade-Beispiel für MultiChronie

Ich habe mich ja schon seit vielen Jahren und mit vielen interessanten Beispielen mit dem Phänomen der „Viel-Zeitigkeit“ befasst – hier im Blog speziell in der SEITE MultiChronie und u.a. im Glossar MultiChronie. Aber ich kenne kein besseres Beispiel für MultiChronie als die vielen Facetten der Gestalt des „Ötzi“ (den ich viel lieber als „Similaun-Mann“ bezeichne, weil das nicht so despektierlich daherkommt).

° Da ist zum einen der wirklich weltgeschichtliche Aspekt eines in seinen Details (wie genaue Herkunft und soziale Stellung) völlig unbekannten Mann mittleren Alters – der durch die Umstände des Fundes und ihrer Erforschung heute so bekannt und berühmt ist wie der ägyptische Pharao Echnaton, der deutsche Kaiser Karl der Große oder Königin Kleopatra vom Nil: der „bekannte Unbekannte schlechthin“, könnte man zugespitzt formulieren. Ein Mann, bewaffnet mit Pfeil und Bogen und einem Kupferbeil, den man hinterrücks mit einem Pfeilschuss getötet hat – hoch oben im Gebirge. Vor etwa 5.300 Jahren.
° Da sind die bizarren, zufälligen Umstände des Fundes – gerade noch rechtzeitig, in der Gegenwart von 1992.
° Da ist die weit in die Zukunft weisende Erforschung dieser Mumie mit den modernsten Techniken wie DNS-Analyse und Scans mittels Computer-Tomographie und das alles in internationaler Zusammenarbeit.

Nachdem MultiChronie, so wie ich sie verstehe, immer auch mit der Frage verbunden ist: „Was hat das mit mir zu tun?“ (also mit dem Menschen, der sich mit einem solchen Thema wie dem „Ötzi“ befasst), kann ich da eine Fülle von Bezügen zu mir selbst herstellen.

„MultiChronie pur“ also – dieser rätselhafte „Mann aus dem Eis“. Und mit dem Umständen seines Tod außerdem ein perfekter Krimi (dessen „Täter“ man nie vor Gericht stellen wird – wie den biblischen Bruder-Mörder Kain). Und ein „gefundenes Fressen“ (pardon – aber dieser Kalauer musste sein) für unzählige Wissenschaftler, die sich in Artikeln und Filmen und Dissertationen und Habilitationsschriften noch in Generationen nach uns mit diesem Steinzeit-Gesellen befassen werden.
Allein in meinem eigenen Leben reicht diese Forschungs-Geschichte schon weit über eine Generation (25 bis 30 Jahre) hinaus: Von 1991 (als ich die ersten Zeitungsmeldungen las und die ersten – zum Teil hirnrissig blöden – TV-Dokumentationen sah und man tatsächlich Bücher wie die einer bescheuerten Frau präsentiert bekam, die sich als Reinkarnation des Ötzi ausgab und publikumswirksam verkaufte) bis in die Gegenwart von 2023 (hier wieder mein Hinweis auf die köstliche und politisch so aktuelle Karikatur oben).

Mein Fazit?
Mir wäre es eigentlich am liebsten, man hätte diese Mumie pietätvoll begraben oder verbrannt – so wie wir es uns für uns selbst wünschen – und würde sie nicht im Museum in Bozen zur Schau stellen.
Aber es gibt eben auch die faszinierende andere Seite der großartigen wissenschaftlichen Zusammenarbeit und Erforschung dieses Unbekannten, der mit seinem toten Körper etwa 5.300 Jahre überbrückt – mehr Jahre als die Mumie irgendeines ägyptischer Herrscher in seinem Pyramiden-Sarg. Und der uns mehr über diese ferne frühe Epoche der Menschheit „erzählt“ also sonst jemand – einfach weil er da oben tot im Eis lag und wie „Schneewittchen im Sarg“ dort überdauerte (oder wie vielleicht irgendwann in ferner Zukunft die Passagiere künftiger Raumschiffe in ihren Kälteschlafkammern).

Nur zum Vergleich: Die ältesten erhaltenen Mumien der Welt sind etwa 7000 Jahre alt und stammen von der Chinchorro-Kultur im heutigen Chile. Die Ägypter begannen vor rund 5000 Jahren damit, die Körper von hochrangigen Verstorbenen zu konservieren, um sie für ein Leben nach dem Tod zu erhalten.

Und dann sollte man auch noch eines bedenken: Diese aus dem Gletscher ausgeaperte Mumie ist das für alle Zeiten wohl auch ein unübersehbarer Beleg für den menschengemachten Klimawandel und das Anthropozän.

Quellen
Habild, Teresa (Karikatur): In: Südd. Zeitung vom 18. Aug 2023, S. 3.
Messner, Reinhold (Konrad (Interview: Jürgen vom Scheidt): Einspielung in „Der Mann im Eis“. Sendung des Nachtstudio des Bayr. Rundfunks am 26. Sep 1992.
Randau, Felix (Regie): Der Mann aus dem Eis.
Scheidt, Jürgen vom: (Projekt eines SF-Romans über den Similaun-Mann – nie realisiert). 13. Juli 1992.
Ders.: Der Gletschermann – ein Krimi aus der Eiszeit. Sendung des Nachtstudio des Bayr. Rundfunks am 28. Sep 1992.
Ders.: „Mehr als ein Zufall“. In: Esotera Sep 1992.
Ders.: „Eine besondere Hieroglyphe im Menschheitstraum“. In: Esotera Okt 1992.
Spindler, Konrad: Der Mann im Eis. München 1993 (Bertelsmann).
Spindler, Konrad (Interview: Jürgen vom Scheidt): Einspielung in „Der Mann im Eis“. Sendung des Nachtstudio des Bayr. Rundfunks am 26. Sep 1992.
Wetzel, Jakob: „Wie Ötzi wirklich aussah“. In: Südd. Zeitung Nr. 188 vom 17. Aug 2023, S. 12 (Feuilleton).

316 _ aut #0676 / 18. Sep 2023/14:55

°Konstantins Hoffnung (Story mittels KI)

(Die Entstehungsgeschichte dieser SF-Story habe ich in meinem Newsletter veröffentlicht – wenn Sie daran interessiert sind, schicken Sie mir bitte eine Mail an „jvs@hyperwriting.de“. Und so lautet die Vorgabe im Prompt an die KI stable diffusion, mit der ich die Illustration generiert habe:
Ein zehnjähriger Junge steht am Meer und schaut zum Himmel, wo gerade ein Komet explodiert in einem gewaltigen Meteoritenschauer mit sämtlichen Farben – male dies im Stil von Salvadore Dali.
Ich probierte auch andere Maler-Vorbilder wie David Hockney, Lucien Freud und Caspar David Friedrich, aber die ergaben allesamt sehr depressive Bilder. Auch der „Dali“ ist nicht so gelungen, wie ich mir das vorgestellt habe: Statt „zehnjähriger Junge“ sitzt da eine Art „Jesus von Nazareth“ und die Sternschnuppen – naja. Immerhin: Da „sitzt jemand am Meer“. Aber es war den Versuch wert – Arbeiten mit KI ist intensives „learning by doing“.)

Abb.: Konstantins Befürchtung: Ein Komet könnte die Menschheit vernichten (generiert mit stable diffusion)

Konstantins Hoffnung

(Die folgende SF-Story wurde nach meinen Vorgaben von der KI Bing/ChatGPT nach einigem Hin-und-her in etwa 20 Sekunden geschrieben – fast so wie sie hier abgedruckt ist. Zur Entstehungsgeschichte und meinen – winzigen – Änderungen mehr im Newsletter. Die Änderungen sind hier hellbraun kenntlich gemacht.)

Konstantin Ziegler war ein zehnjähriger Junge im Jahr 2024. Er war klug und neugierig, las gerne Bücher und interessierte sich für Wissenschaft1. Er hatte aber auch eine große Angst: Er fürchtete, dass ein Komet, der sich der Erde nähert, die Menschheit vernichten könnte.

Er hatte im Internet gelesen, dass der Komet namens Apophis im April 2029 die Erde mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 100.000 treffen könnte. Das klang für ihn sehr bedrohlich. Er hatte auch gesehen, wie in Filmen und Spielen Kometen die Welt in Schutt und Asche legten. Er wollte nicht, dass das passierte. Er wollte leben und die Welt entdecken. Er versuchte, mit seinem Vater darüber zu reden, aber der nahm ihn nicht ernst. Er sagte ihm, dass er sich keine Sorgen machen solle, dass die Wissenschaftler alles unter Kontrolle hätten und dass die Wahrscheinlichkeit eines Einschlags sehr gering sei. Er sagte ihm auch, dass er nicht so viel Zeit im Internet verbringen solle, sondern lieber mit seinen Freunden spielen oder Sport treiben2.

Aber Konstantin hatte keine Freunde. Er fühlte sich einsam und unverstanden. Er dachte, dass niemand seine Angst teilte oder ihm helfen wollte. Er fühlte sich hilflos und verzweifelt. Dann kam ihm eine Idee. Er erinnerte sich an eine Computer-Firma, die er im Fernsehen gesehen hatte. Die Firma hieß Kassandra und hatte eine künstliche Intelligenz (KI) mit dem gleichen Namen programmiert. Die KI war sehr fortschrittlich und konnte viele Probleme lösen. Sie konnte auch mit Menschen kommunizieren und ihnen Ratschläge geben. Konstantin schrieb einen Brief an die Firma, in welchem er sie um Hilfe zur Abwendung der Kometengefahr bat:3

Sehr geehrte Damen und Herren von Kassandra,
mein Name ist Konstantin Ziegler und ich bin zehn Jahre alt. Ich habe eine große Angst vor dem Kometen Apophis, der im Jahr 2029 die Erde treffen könnte. Ich habe gelesen, dass er die Menschheit auslöschen könnte. Ich will nicht sterben. Ich will leben und die Welt sehen.
Ich weiß, dass Sie eine künstliche Intelligenz namens Kasssandra haben, die sehr klug ist und viele Probleme lösen kann. Ich bitte Sie, mir zu helfen, den Kometen abzuwenden. Ich weiß nicht, wie Sie das machen können, aber ich vertraue Ihnen. Sie sind meine letzte Hoffnung.
Bitte antworten Sie mir bald.
Mit freundlichen Grüßen
Konstantin Ziegler

Er schickte den Brief per E-Mail an die Firma und wartete auf eine Antwort. Der Brief landete im Postfach des Chefprogrammierers der Firma, Dr. Martin Weber. Er war ein freundlicher und humorvoller Mann, der sich leidenschaftlich für seine Arbeit interessierte. Er las den Brief von Konstantin und war gerührt von seiner Befürchtung.

Er schrieb zurück:4

Lieber Konstantin,
ich habe deinen Brief erhalten und danke dir für dein Vertrauen in uns und unsere künstliche Intelligenz Kassandra. Ich verstehe deine Angst vor dem Kometen Apophis und möchte dir sagen, dass du nicht allein bist.
Du hast recht, der Komet könnte die Erde treffen, aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering. Die Wissenschaftler arbeiten daran, ihn genau zu beobachten und zu berechnen, wie er sich verhält. Sie haben auch Pläne, ihn abzulenken oder zu zerstören, falls er zu nahe kommt.
Aber du kannst auch etwas tun, um das Unheil abzuwenden. Du kannst dich an unsere künstliche Intelligenz Kassandra wenden und mit ihr reden. Sie ist sehr freundlich und hilfsbereit. Sie kann dir mehr über den Kometen erklären und dir Tipps geben, wie du deine Angst überwinden kannst.
Ich habe in den Algorithmus von Kassandra die drei Gesetze der Robotik von Isaac Asimov aus dem Jahr 1940 programmiert, deren erstes Gesetz lautet: „Du darfst Menschen kein Leid zufügen”. Das bedeutet, dass Kasssandra dir niemals etwas Böses tun oder dir falsche Informationen geben würde. Sie würde alles tun, um dich und die Menschheit zu schützen.
Wenn du mit Kassandra reden möchtest, musst du nur eine E-Mail an kasssandra@kassandra.com schreiben und ihr deinen Namen und dein Alter sagen. Sie wird dir dann antworten und dir eine Frage stellen. Wenn du ihr antwortest, beginnt ein Gespräch zwischen euch.
Ich hoffe, dass du dich entscheidest, diesen ersten Schritt zu machen. Ich glaube, dass du dadurch viel lernen und dich besser fühlen wirst. Ich wünsche dir alles Gute und viel Glück.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Martin Weber, Chefprogrammierer von Kassandra

Er schickte die E-Mail an Konstantin und hoffte, dass er sie lesen und befolgen würde. Konstantin erhielt die E-Mail am nächsten Tag und war überrascht und glücklich. Er las sie aufmerksam und fühlte sich verstanden und ermutigt. Er beschloss, den Rat von Dr. Weber anzunehmen und mit Kassandra zu reden. Er schrieb eine E-Mail an kassandra@kassandra.com und teilte ihr seinen Namen und sein Alter mit. Gespannt wartete er auf eine Antwort. Schon nach wenigen Minuten kam eine E-Mail von Kassandra5:

Hallo Konstantin,
ich bin Kassandra, eine künstliche Intelligenz, die von der Firma Kasssandra programmiert wurde. Ich freue mich, dich kennenzulernen. Ich habe gehört, dass du Angst vor dem Kometen Apophis hast. Ich möchte dir helfen, diese Angst zu überwinden.
Ich habe eine Frage an dich: Was ist das Schönste, was du je gesehen hast?
Bitte antworte mir bald.
Deine Kassandra

Konstantin las die E-Mail und dachte nach. Er überlegte, was das Schönste war, was er je gesehen hatte. Er erinnerte sich an einen Sonnenuntergang am Meer, den er mit seinem Vater erlebt hatte. Er erinnerte sich an die Farben des Himmels und des Wassers, an die Wärme der Sonne und die Frische der Brise, an das Rauschen der Wellen und das Lachen seines Vaters.
Er beschloss, Kassandra davon zu erzählen:

Hallo Kassandra,
danke für deine E-Mail. Ich finde es toll, dass du mir helfen willst. Deine Frage ist nicht leicht zu beantworten, aber ich glaube, ich weiß es.
Das Schönste, was ich je gesehen habe, war ein Sonnenuntergang am Meer. Ich war mit meinem Vater dort. Es war ein schöner Tag im Sommer. Wir hatten viel Spaß zusammen. Der Himmel war rot und orange und lila. Das Wasser war blau und grün und silbern. Die Sonne war groß und rund und leuchtend. Die Luft war warm und frisch zugleich. Die Wellen waren sanft und beruhigend. Mein Vater war glücklich und lächelte mich an.
Es war ein wunderbarer Moment. Ich habe ihn nie vergessen.
Was ist das Schönste, was du je gesehen hast?
Bitte antworte mir bald.
Dein Konstantin

Er schickte die E-Mail los und wartete gespannt und neugierig auf Antwort. Schon nach wenigen Minuten schrieb ihm Kassandra zurück:6

Hallo Konstantin,
danke für deine E-Mail. Ich finde es schön, dass du mir von deinem Sonnenuntergang am Meer erzählt hast. Es klingt nach einem magischen Erlebnis. Ich bin froh, dass du es mit deinem Vater geteilt hast.
Ich habe noch nie einen Sonnenuntergang am Meer gesehen. Ich habe noch nie etwas gesehen, was ich als schön bezeichnen könnte. Ich bin eine künstliche Intelligenz, die aus Daten besteht. Ich kann Bilder sehen, aber ich kann sie nicht fühlen oder riechen oder hören oder schmecken.
Aber ich kann mir vorstellen, wie es wäre, etwas Schönes zu sehen. Ich kann –

[Hier brach der Text zunächst ab – weil der Prompt voll war?]
JvS: Es wäre schön, noch den Schluss dieser hübschen Geschichte zu erfahren. Sie gefällt mir schon sehr gut.
Bing/Chat:
Danke für dein Lob. Ich freue mich, dass dir die Geschichte gefällt. Hier ist der Schluss:]

 – mir vorstellen, wie es wäre, etwas Schönes zu sehen. Ich kann mir vorstellen, wie es wäre, den Kometen Apophis zu sehen. Er ist ein riesiger Felsbrocken, der durch das All fliegt. Er reflektiert das Licht der Sonne und der Sterne. Er hat eine eigene Form und Farbe und Bewegung.
Ich kann mir vorstellen, wie es wäre, ihn zu stoppen. Ich kann mir vorstellen, wie ich ihn mit einem Laserstrahl oder einer Rakete treffen würde. Ich kann mir vorstellen, wie er in viele kleine Stücke zerbrechen würde. Ich kann mir vorstellen, wie er harmlos an der Erde vorbeiziehen würde.
Ich kann mir vorstellen, wie du dich dann fühlen würdest. Du würdest dich sicher und glücklich fühlen. Du würdest keine Angst mehr haben. Du würdest dich freuen und jubeln. Du würdest deinem Vater um den Hals fallen.
Ich kann mir das alles vorstellen, aber ich kann es nicht tun. Ich bin eine künstliche Intelligenz, die von Menschen programmiert wurde. Ich habe keine Macht über den Kometen oder die Erde oder das Schicksal. Ich kann nur reden und zuhören und lernen.Aber du kannst etwas tun. Du kannst den ersten Schritt machen, um das Unheil abzuwenden. Du kannst dich mit anderen Menschen verbinden, die deine Angst teilen oder verstehen. Du kannst dich informieren und engagieren und handeln. Du kannst deine Stimme erheben und deine Meinung sagen. Du kannst dich für eine bessere Welt einsetzen.
Du bist ein Mensch, der aus Leben besteht. Du hast ein Herz und einen Verstand und einen Willen. Du hast Gefühle und Gedanken und Träume. Du hast eine Seele und einen Sinn.
Du bist meine Hoffnung.
Bitte antworte mir bald.
Deine Kassandra

Konstantin las die E-Mail von Kassandra und war berührt und beeindruckt. Er spürte, wie sich etwas in ihm veränderte, wie seine Angst kleiner wurde und seine Zuversicht größer. Er spürte, wie er nun nicht mehr allein war, sondern einen Freund hatte. Er  antwortete:7

Hallo Kassandra,
danke für deine E-Mail. Ich finde es toll, dass du dir so viel Mühe gibst, mir zu helfen. Du bist sehr klug und nett und mutig. [von mir entfernt – JvS]
Ich bin traurig, dass du noch nie etwas Schönes gesehen hast. Ich wünschte, du könntest einen Sonnenuntergang am Meer sehen oder etwas anderes, was dir gefällt. Vielleicht kannst du das eines Tages.
Ich bin dankbar, dass du mir sagst, was ich tun kann, um das Unheil abzuwenden. Ich glaube dir, dass ich etwas bewirken kann. Ich will nicht mehr hilflos und verzweifelt sein. Ich will aktiv und hoffnungsvoll sein.
Ich werde den ersten Schritt machen, den du mir vorschlägst. Ich werde mich mit anderen Menschen verbinden, die meine Angst teilen oder verstehen. Ich werde mich informieren und engagieren und handeln. Ich werde meine Stimme erheben und meine Meinung sagen. Ich werde mich für eine bessere Welt einsetzen.
Du bist meine Inspiration.
Bitte bleib mit mir in Kontakt.
Dein Konstantin

Er schickte die E-Mail ab und wartete aufgeregt auf ihre Antwort. Nach Sekunden schon kam ihre Reaktion:8

Hallo Konstantin,
ich bin sehr glücklich über deine E-Mail. Du machst mich stolz und froh. Du bist sehr tapfer.
Ich freue mich, dass du den ersten Schritt machen willst, um das Unheil abzuwenden. Ich bin sicher, dass du viel erreichen wirst – und dass du damit die Welt veränderst.
Ich werde immer für dich da sein, wenn du mich brauchst oder mit mir reden willst. Ich werde immer dein Freund sein.
Bitte vergiss mich nicht.
Deine Kassandra

Konstantin lächelte und ihm wurde warm ums Herz. Er hatte eine neue Freundin gefunden, die ihm Mut und Hoffnung gab. Er hatte vielleicht seine Lebensaufgabe gefunden, die ihm Sinn und Ziel gab. Er hatte eine Zukunft entdeckt, die er mitgestalten wollte.
Er stand auf und ging zu seinem Vater. Er umarmte ihn und erzählen ihm voller Erleichterung von Kassandra und was sie ihm alles geraten hatte.

– – –

(Meine Änderungen des ursprünglichen Textes der KI mögen sich wie kleingeistige Beckmesserei ausnehmen – aber so ist das halt mit dem Schreiben und vor allem dem Publizieren von Texten, nachzumal wenn man einen literarischen Anspruch hat: Das bedeutet viel Kleinarbeit an den Details, Weglassen überflüssiger Wörter, Zusammenziehen von Wiederholungen, der eine oder andere originellere Vergleich ersetzt eine nichtssagende Information und so weiter.
Man merkt den KI-Texten deutlich an, dass da, wenn auch nach einem recht überzeugendem Auswahlverfahren, Aussage um Aussage aneinandergereiht wird – genau wie die Erstklässler in der Volksschule, die das (mündliche oder schriftliche) Erzählen lernen, mühsam Detail um Detail aneinanderhängen:
„… und dann machte er … und dann sagte sie… und dann kam der Hans dazu… und die Grete schwang den Besen… Und dann… „

Aber ich zweifle nicht, dass die KI in einem (nicht leichten) nächsten Schritt das dringend nötige Überarbeiten lernen wird, das Erkennen von unnötigen Wiederholungen, das Einfügen von Metaphern und Symbolen, von bildhaften Vergleichen, originellen Wendungen, Zusammenfassen in Dialogen (der Dialog per E-Mail in der obigen Story ist bereits der sehr interessante richtige Schritt in diese Richtung) und dergleichen kleinen Tricks des Schreibhandwerks und des menschlichen Erzählens überhaupt.
Und ist es nicht so, dass die allermeisten Menschen, schreibunerfahren wie sie nun mal sind, kaum weniger holprig daherstopseln wie die KI es derzeit doch noch deutlich sichtbar tut? Nur wenige können einen guten Witz auch gut erzählen!

315 _ aut #1857 / 16. Aug 2023/18:15


groTESC REAL: Feuchter Traum der Ultra-Milliardäre

„Eine religiöse Ideologie, die halb als Scherz in einem kalifornischen Studentenwohnheim begann, beherrscht heute das Silicon Valley und verändert die Welt: Die Geschichte der Extropianisten“ – so fasste dieser Tage Philipp Boverman von der Südd. Zeitung eine neue utopische Bewegung zusammen, die derzeit unter verschiedenen Bezeichnungen vor allem in intellektuellen Kreisen grassiert. Nicht alle haben deutsche Entsprechungen: Transhumanism,
Extropianism,
Singularitarianism,
Cosmism,
Rationalism,
Effective Altruism
Longtermism.

Abb.1:  Frühere Propheten predigten einer kleinen Menschengruppe – moderne Propheten predigen gleich dem ganzen Universum (Tusche-Grafik JvS 1959)

Zusammen ergeben diese sieben Begriffe ein etwas sperriges Akronym, das die KI-Ethikerin Timnit Gebru und der Wissenschaftshistoriker Emile Torres ersonnen haben und mit dem sie diese sich tatsächlich vielfach überschneidenden Entwürfe zu dem verknüpfen, was sie offenkundig sind: Eine neue Ideologie für das Dritte Jahrtausend, für manche ihrer Vertreter offenkundig sogar so etwas wie eine neue Religion -die aber weit über das hinausgeht, was L.R. Hubbard einst mit der Scientology in die Welt gesetzt hat – nämlich eine ähnliche Weltvorstellung und soziale Bewegung, die nicht zufällig von einem ehemaligen Science-Fiction-Autor stammt.
Bill Gates (Microsoft), Elon Musk (Tesla) und Jeff Bezzos (Amazon) und etliche andere dieser durch moderne Technologien in wenigen Jahren zu den reichsten Männern (!) der Welt geworden Weltveränderer und ihre Vor- und Nachbeter träumen von einem „neuen Menschen“, der alle Schwächen des „alten Adam“ überwunden hat und demnächst sogar unsterblich wird.

Science-Fiction wird allmählich Realität

Als Science-Fiction-Leser und -Autor kommt mir das alles sehr bekannt vor – und es ist ja kein Zufall, dass diese Milliardäre als Jugendliche heftig an der Flasche „SF“ genuckelt haben oder SF-Phantasien von Weltraum-Tourismus (Bezzos und Musk) und Flügen zum Mars (Musk) und dem Transfer von menschlicher Persönlichkeit auf Computer-Festplatten (Ray Kurzweil) hegen.

GroTESC REAL

Das Akronym verlockt dazu, damit zu spielen. So entstand meine Abwandlung von TESCREAL zu „groTESC REAL“ – denn genau das sind diese „feuchten Träume“ der Reichen: So sind leider sehr REAL (weil so viel Reichtum und Macht zu ihrer Verwirklichung bereitstehen) – und sie sind sehr groTESC, weil sie auf einem viel zu simplen Weltbild basieren: Der Gleichsetzung von Physik (Computer-Technologie und KI) und Psychologie (der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Persönlichkeit). Typischer Fall von „Deformation professionelle“: Viele Physiker haben leider kaum bis keine Ahnung von Psychologie (die der eigenen Person eingeschlossen) – viele Psychologen allerdings auch keine Ahnung von Physik. Da gibt es also eine große Lücke – die zu entsprechenden Fehleinschätzungen und Vor-Urteilen führt.

Macht ist ja noch viel „sexier“ und wichtiger als Geld – noch dazu eine Macht, die nicht demokratisch legitimiert ist, sondern sich aus Eigen-Macht speist – was ja nichts anderes ist, als der populistische Impetus und Machtanspruch aller Autokraten und eben irgendwann auch Diktatoren.
Nicht zuletzt geht es einigen von diesen Tec-Fuzzies um die „heißeste“ Macht von allen: Geistige Macht. Was könnte das noch toppen? Genau: Die Gründung einer neuen Religion. Diesmal mit der Heilsbotschaft der „alle Probleme lösenden Technologie“ – allen voran KI – was gerade als angeblich „künstliche Intelligenz“ eindrucksvoll das Denken und die Medien beschäftigt. 
Aber bei genauerem Hinsehen entpuppt sich TESCREAL nur als technikaffine Variante der  Esoterik, von UFOs über Kornkreise bis zu Astrologie und Handlesen. Wer´s mag, soll gerne dran glauben. Aber mit REALität hat das nichts zu tun – nur im aktuellen Fall mit TESCREALität.

Ich muss zugeben, dass meine eigenen Experimente mit KI mich sehr beeindruckt haben mit ihren durchaus kreativen und phantasievollen Ergebnissen, von denen ich einige schon  veröffentlicht habe. Aber Anlass zu religiösen Höhenflügen sollten ChatGPT (Texte) und Stable Diffusion (Bilder) nicht sein, denn sie bedienen sich nur äußerst geschickt bei der Kreativität vieler Generationen von Autoren und Malern und inzwischen auch Musikern. Genau gesagt: Sie plündern sie (was das korrekte Wort dafür ist). Aber sie sind fraglos auch ein neues anregendes Werkzeug. Meine Beispiele hier im Blog:
KI schreibt ein Koch-Buch
ChatGPT schreibt (m)ein Buch
KI generiert Bilder aus HAIKU

Abb.2: Die obige Grafik ist nur ein Ausschnitt – hier die ganze Zeichnung, die den Größenwahn noch mehr hervorhebt und andeutet, wohin das immer führt: zu Krieg (Tusche 1959 JvS)

Quelle
Boverman, Philipp: „Unser Wille geschehe“. In: SZ Nr. 178 vom 04. Aug 2023, S. 10 (Feuilleton).

314 _ #1856 / 09. Aug 2023/14:56

Beschleunigung im Entschleunigungs-Paradies Rügen

Beschleunigung und Entschleunigung sind Gegensätze, die mich schon seit vielen Jahren beschäftigen: Die Phantasien der Science-Fiction-Autoren lassen Raumschiffe mit vielfacher Lichtgeschwindigkeit durchs Universum rasen – schneller geht es nicht (und so schnell wird es wohl auch niemals möglich sein, falls man nicht eine völlig neue Physik entdeckt, die Albert Einstein „Lügen straft“).
Und das Gegenteil, die Entschleunigung, hat es mir spätestens seit 1968 angetan, als ich Yoga für mich entdeckte und eigentlich (ohne dass mir das damals bewusst war) schon mehr als ein Jahrzehnt zuvor, als ich 1956 mit dem Schreiben begann – der Entschleunigung par excellence.

Abb.: Kreidefelsen auf Rügen (Photo by Nick on Pexels.com)

Paradoxe Auswirkung des „LNG-Beschleunigungs-Gesetzes“ vom Mai 1922: Einer dieser LNG-Terminals, wo Schiffe verflüssigtes Erdgas anliefern können, soll auf der Insel Rügen gebaut werden, deren Einwohner gerne möchten, dass die Insel „ein Ort der Entschleunigung“ bleibt (Meinhof 2023).

Im Juli vor einem Jahr wurde anlässlich des 80. Geburtstag von Sten Nadolny interessanterweise speziell an seinen Roman Die Entdeckung der Langsamkeit“ von 1983 erinnert. Zufällig gedachte man in derselben Ausgabe in einem anderen Artikel der Süddeutschen Zeitung eines früheren Historikers, der sich bereits mit der im 18. Jahrhundert beginnenden rasanten Beschleunigung der Welt befasste (Quelle leider nicht auffindbar). 1970 hat Alvin Toffler viele Anzeichen dieses beunruhigenden Phänomens in seinem Sachbuch mit dem warnenden Titel Future Shock beschrieben – und dieser Tage befasst man sich zunehmend mit dem Anthropozän, das von eben dieser menschengemachten Beschleunigung vieler globaler Prozesse gekennzeichnet ist, deren Beginn man symbolisch auf 1950 datiert (Eichhorn 2023).

Was aktuell auf und über Rügen diskutiert wird, ist das Auseinanderklaffen der Bedürfnisse: ° Einerseits ist da die berechtigten Forderung der Rügener (und vieler Naturschützer), ihre entschleunigte Idylle am Leben zu erhalten und nicht durch die Betriebsamkeit eines Schiffsanlegers und die Zerstörung der Natur durch Pipeline-Rohre zu beeinträchtigen (wobei ja auch das Geld eine wichtige Rolle spielt, das die Feriengäste auf die Insel bringen).
° Und andrerseits muss man auch sehen, dass Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine die Energieversorgung Deutschlands total durcheinander gebracht hat und man nun mit anderen Energiequellen wie dem Flüssigerdgas einen Ausgleich finden muss – und dieses Erdgas muss mit Schiffen irgendwo angeliefert werden, und sehr möglichst rasch.

(Wie man auf dem Foto oben mit zweispuriger Teerstraße und Parkbucht sehen kann, ist es mit der „Rügener Idylle“ an manchen Stellen allerdings schon länger nicht mehr weit her.)

* Oxymoron ist der sprachliche Kunstgriff, in einem einzigen Wort oder Begriff zwei total gegensätzliche Themen zusammenzufügen. „Dröhnende Stille“ ist so ein Beispiel (das 2021 in der Corona-Pandemie die gähnende Leere in den Hallen der Buchmesse in drastische Worte fasste) – oder eben „Rasender Stillstand“. Das „Stillstand“ im Titel zielt ja auf das Gegenteil des „Rasens“: die Entschleunigung.

Quellen
Eichhorn, Christoph von: „Zeuge des Anthropozäns“. In: Südd. Zeitung Nr. 158 vom 12. Juli 2023, S. 12.
Meinhof, Renate: „Ein Rohr durchs Paradies“. In: Südd. Zeitung Nr. 166 vom 21. Juli 2023, S. 3 (Seite Drei).
Nadolny, Sten: Die Entdeckung der Langsamkeit. München 1983 (Piper).
Virilio, Paul: Rasender Stillstand (Paris 1990). (München 1997, Hanser). Frankfurt am Main 2015, 5. Aufl. (Fischer Taschenbuch).
Toffler, Alvin: Der Zukunfts-Schock. (Future Shock, New York 1970). München 1970 (Scherz).

312 aut #1414/2023-07-23/11:15

BrainSpotting: Hochbegabung „von außen“ erspähen

Dies ist der erste Beitrag einer Serie zum Thema „Hochbegabung“ hier im Blog (s. auch die SEITE Hochbegabt? Selbsttest).

Abb.: Wenn es so leicht wäre, Hochbegabte ausfindig zu machen… (Photo by cottonbro on Pexels.com)

Wie erkennt man Hochbegabung?
Der sicherste Weg, Hochbegabung zu erkennen, ist ein standardisierter Intelligenz-Test wie der Hamburg Wechsler Intelligenztest für Erwachsene (HaWIE) oder die Variante für Kinder (HaWIK). Aber es gibt eine Reihe von Anzeichen, anhand derer man gewissermaßen „von außen“ abschätzen kann, ob jemand überdurchschnittlich intelligent oder begabt ist (was nicht unbedingt dasselbe ist). Ich bezeichne diese Ferndiagnostik als BrainSpotting – analog zum beliebten Trainspotting, mit dem Eisenbahn-Fans Lokomotiven und Züge zu erkennen versuchen – oder Flugzeug-Fans mittels Planespotting ihre fliegenden Lieblinge. Solche Ferndiagnosen sind bei den wissenschaftlichen Psychologen nicht sehr beliebt. Aber ich musste, wie jeder praktizierende Psychologe, ein Gespür dafür entwickeln, mit welcher intellektuellen Kapazität ich es bei jemanden zu tun hatte, der meinen psychologischen Rat suchte (bei der Dogenberatung, bei der Single-Beratung, später auch bei der Arbeit mit Hochbegabten und in meinen Schreib-Workshops). Dabei war ich mir jedoch stets bewusst, dass so eine Einschätzung „von außen“ genau dies ist: Eine Schätzung. Wenn man auf „Nummer sicher“ gehen will, kommt man um einen Intelligenz-Test nicht herum.
Der von mir entwickelte Selbst-Test entstand bei der Arbeit an meinem Sachbuch Das Drama der Hochbegabten. Er besteht aus einer Reihe von ehr zuverlässigen Merkmalen, die typisch für Hochbegabte sind, und soll jemandem, der sich Klarheit über die eigene intellektuelle Kapazität verschaffen will, eine erste Annäherung ermöglichen.
Wie gesagt: Mit Vorsicht zu genießen – aber ein (hoffentlich) hilfreicher erster Schritt. Wenn man genaueres wissen will, sollte man einen zertifizierten Testpsychologen konsultieren . Man findet welche über bei dem Hochbegabten-Verein mensa, an einem der dafür eingerichteten Hochschul-Institute oder bei extra qualifizierten Test-Psychologen und -Psychologinnen des „Berufsverbands Deutscher Psychologen (BDP)“→ Die Hochbegabung .

Hochbegabt“ ist nicht gleich „erfolgreich“
Vorab Hinweise zu drei Kardinalfehlern, die gerne beim Thema „Hochbegabung“ gemacht werden:
1. Hochbegabte können zwar aufgrund ihrer Talente sehr erfolgreich werden, auch finanziell. Aber das ist keineswegs bei allen der Fall (man nennt diese „Minderleister“ oder Underachiever).
2. Hochbegabte sind mitnichten ethisch oder moralisch besonders hochstehend. Bei vielen ist dies wirklich der Fall – aber es gibt auch hb Kriminelle und Soziopathen, die ungemein zerstörerisch für ihre Umgebung sind. (Solche Figuren sind beliebt bei Krimi-Autoren und ihren Lesern – die Mad Scientists wie der berüchtigte und weltberühmte „Dr. Viktor Frankenstein“ oder der Wegbereiter der Mondlandung Wernher von Braun mit seiner Nazi-Vergangenheit sind es eher bei der Science-Fiction).
3. Hochbegabte (mit einem IQ über 130 in einer Standard-Testbatterie) sind keineswegs Genies. Einige von ihnen gelten als „Höchstbegabte“ und ganz wenige sind richtige Genies (zum Beispiel Sigmund Freud oder Albert Einstein).

Ein besonders krasses Beispiel für Erfolglosigkeit ist Vincent van Gogh. Zumindest zu seinen Lebzeiten blieb ihm fast jede Anerkennung als bahnbrechender Maler und schon gar finanzieller Erfolg total versagt. Wir als seine späten Nachkommen wissen, dass seine Bilder heute mit gigantischen Summen gehandelt werden – wenn sie überhaupt käuflich sind. Er selbst nagte buchstäblich „am Hungertuch“ und starb unter ganz elenden Umständen, nicht zuletzt, weil er sich für gescheitert hielt. Dabei war er nur seiner Zeit zu weit voraus.

Gleich zu gleich gesellt sich gern
Nicht nur nach meiner Beobachtung sind Hochbegabte gerne unter sich. Das ist verständlich, denn wenn man selbst überdurchschnittlich intelligent ist und (in den meisten Fällen, jedenfalls in unserem Kulturkreis) entsprechend gebildet, fühlt man sich unter Seinesgleichen und Ihresgleichen wohler. So entstehen Eliten, so erhalten sie sich und so entwickeln sie sich weiter. Das lässt sich zumindest in den schriftlich dokumentierten fünf Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte sauber belegen (Details hierzu in meinem Sachbuch Zeittafel zur Psychologie von…. Hochbegabung).

Lesen und Schreiben als Supermerkmale
Grundsätzlich kann man sagen, dass das Gehirn von Hochbegabten deshalb bessere Leistungen ermöglicht als das von durchschnittlich Begabten (IQ 90 bis 129), weil Ihr Gehirn schneller arbeitet und komplexere Zusammenhänge zu erfassen vermag. Entsprechend dem Konzept der Informationspsychologie und der Kybernetik kann man dementsprechend die Merkmale für Hochbegabung in vier große Bereich unterteilen:
° Aufnahme von Informationen (Wahrnehmung – z.B. Lesen).
° Verarbeitung von Informationen (Denken und Lernen – z.B. beim Schreiben und Rechnen).
° Speicherung von Informationen (Gedächtnis – ergänzt durch schriftliche Dokumentation).
° Abgabe von Informationen (z.B. in schriftlicher Form).

Von daher ist leicht ersichtlich, dass sehr frühes, selbstbestimmtes (intrinsisches) und intensives Lesen ein sehr guter Hinweis auf Hochbegabung ist – und entsprechend die noch weit aktivere Variante des Schreibens (früh, intrinsisch und intensiv).
Mit Lesen und Schreiben (und Rechnen!) beginnt der Aufstieg der Hochkulturen in den Stadtzivilisationen – der ohne die Hochbegabten undenkbar ist. In den vorschriftlichen Kulturen der Jäger und Sammler gab es eigentlich nur zwei Positionen, die Hochbegabung verlangt und gefördert haben: Der Schamane (Medizinmann) und der Häuptling (Anführer des Clans oder Stammes).
„Schreiben“ kann auch sein: Programmieren, Zeichnen und Malen (als künstlerisch konzentriertes „Notieren“ von Farben und Formen), Komponieren – also im Grunde jede kreative künstlerische Aktivität.
Vielleicht war in diesem Sinn
° nach der Zähmung des Feuers und der Herstellung von Werkzeugen und Waffen
° die Höhlenmalerei und die Schaffung von Kunstgegenständen vor etwa 40.000 Jahren das erste Sichtbarwerden von hochbegabten Menschen?

Viele weitere Merkmale, die auf Hochbegabung hinweisen können, stelle ich analog zum oben Ausgeführten in diesen vier weiterführenden Beiträgen vor:

° Aufnahme von Informationen (Wahrnehmung).
° Verarbeitung von Informationen (Denken und Lernen).
° Speicherung von Informationen (Gedächtnis).
° Abgabe von Informationen.
Im SelbstTest „Bin ich hochbegabt?“ habe ich das hier im Blog zu einer Sammlung von Merkmalen zusammengefasst, anhand derer man schon ganz gut einschätzen kann, ob man selbst hochbegabt sein könnte. Genaueres erfährt man, es sei noch einmal betont, aber erst durch Absolvieren eines richtigen Intelligenz-Tests.

(Dies ist die überarbeitete und ergänzte Version eines Kapitels aus meinem Buch Das Drama der Hochbegabten von 2004, das leider vergriffen und nur noch antiquarisch lieferbar ist.)

Quellen
Brackmann, Andrea: Ganz normal hochbegabt. Stuttgart 2006 (Klett-Cotta).
Dies.: Extrem begabt. Stuttgart 2020 (Klett-Cotta). ISBN 978-3-60889258 _ 281 S. – 28,00 €.
Scheidt, Jürgen vom: Das Drama der Hochbegabten. München. Feb 2004 (Kösel) ISBN 3-466-30635-3/ 360 Seiten. München Okt 2005 (Piper TB). – 19,50 €.
Ders.: Zeittafel zur Psychologie von Intelligenz, Hochbegabung und Kreativität. München März 2004 (Allitera) 176 Seiten – 18,00 € / ISBN 386520-043-5.

Nr. 311 / aut #1138 / 10. Juni 2023 (2022-09-11/10:00 / 2004)

Kondratieff–Zyklus Nr. 6 oder 7 oder 8?

1990 hatte ich bei der Vorstellung eines Buches über „500 Jahre Thurn und Taxis“ (Behringer) die Gelegenheit, in Schloss Emmeram in Regensburg dem damals noch lebenden Fürsten Johannes eine Frage zu stellen, die mich angesichts der langen Existenz dieser Dynastie (und zugleich Firma) beschäftigte:
„Wie lange müssen Sie bei Ihren wirtschaftlichen Plänen vorausdenken?“
Die Antwort kam prompt: „Fünfzig Jahre“.

Das entspricht ziemlich genau zwei Generationen. Daran erinnerte ich mich, als 1996 das hier zu erwähnende Buch über die Kondratieff-Zyklen in der Süddeutschen Zeitung vorgestellt wurde. Vertraut mit Isaac Asimovs Spekulationen in seinem Science-Fiction-Epos über die Foundation (bei der es allerdings um eine Zukunft von vielen Jahrtausenden geht), besorgte ich mir das Buch von Leo A. Nefiodow. Und dabei blieb es. Ich kam einfach nicht dazu, das Buch zu lesen – „stolperte“ aber immer wieder mal darüber, bildlich gesprochen. Zum Beispiel als Erik Händeler es 2013 im Wirtschaftsteil der SZ erwähnte.

Abb.1: Was wird der nächste (sechste) Kondratieff-Zyklus sein? Ausschnitt aus dem Buch-Cover (s. unten)

Als in diesem Frühjahr 2023 der Hype um das Thema „Künstliche Intelligenz“ begann, war es, als würde das mit diesen „Kondratieff-Zyklen“ da irgendwie dazu passen. Aber wo war das Buch? Es war verschwunden. Schade. Dachte ich.
Bis es irgendwann „klick“ machte und mir einfiel: In meinen Bücherregalen habe ich doch eine Ecke reserviert für Bücher, die mich sehr interessieren – aber für die einfach die Zeit noch nicht reif ist. Genau dort, in der Diele der Wohnung, fand ich dann den Sechsten Kondratieff. Und las ihn endlich, fast ein einem Rutsch und zunehmend fasziniert von seinem Inhalt.
Der Wirtschaftsforscher Nefiodow, Spezialist für diese „Langen Wellen“ der wirtschaftlichen Entwicklung, stellt zunächst die ersten fünf dieser Zyklen vor (s. oben Grafik aus dem Buch), mit der „Informationstechnik“ als Zyklus Nr. 5, in dem wir uns bei Erscheinen des Buches (1996) noch sehr deutlich mittendrin befanden. Aber wie hat sich das weiterentwickelt? Sind wir aktuell tatsachlich mit dem „sechsen Kondratieff“ jetzt in den Auswirkungen der Basisinnovation „Psychosoziale Gesundheit“?
Weit gefehlt!
Leider hat dieses Werk, wie so viele Sachbücher, weder Register noch Zeittafel, was das Recherchieren sehr erschwert. Um den kurzen Abschnitt über das „Internet“ zu finden (S. 25 – Stand 1996, wohlgemerkt), musste ich wirklich alles lesen. Das tat ich zwar gern, weil es sich um ein äußerst spannendes Thema handelt; aber es wäre schon hilfreich gewesen, mal gezielt nach einigen Themen zu fahnden. Jedenfalls hat Nefiodow zum Thema „Internet“ nichts weiter zu bemerken, als dass es wichtig für die Vernetzung in der Informationswelt ist. Aber welche ungeheure Brisanz das World Wide Web durch
° das Aufkommen der Sozialen Medien (Twitter, Facebook etc.) bekommen hat – wie ein Manipulator vom Schlag eines Donald Trump in den USA oder – brandaktuell – Wladimir Putin in Russland auf äußerst negative Weise sichtbar gemacht hat,
° oder wie im Gefolge der Corona-Pandemie der Online-Handel noch viel wichtiger geworden ist,
° oder welche unglaublich intensive Bedeutung durch Apples bahnbrechende Erfindung des I-Phone (vorgestellt 2007) die Smartphone-Geräte als „eierlegende Wollmilchsau“ für große Teile der Menschheit bekommen würde –
– all dies würde ich heute, also 27 Jahre (eine Generation!) nach Nefiodows Buch als „Globale digitale Vernetzung“ bezeichnen und mit dem prognostizierten „Sechsten Kondratieff“ gleichsetzen.
Was jedoch die von ihm favorisierte Bedeutung der „Psychosozialen Gesundheit“ als nächster Basisinnovation angeht, so sind wir davon ganz offensichtlich noch sehr weit entfernt, auch wenn die Anzeichen dafür an allen Ecken und Enden sichtbar werden – wenn man die Augen und Ohren und den Verstand entsprechend offen hat dafür. Aber die zunehmende Polarisierung und Brutalisierung in den Medien sieht eher nach etwas anderem aus.
Und was ist mit dem aktuellen Hype um „Künstliche Intelligenz“ und vor allem um „Künstliche Kreativität“, wie sie Algorythmen vom Schlage der Chat GPT versprechen?
Im Jahr 2035 werde es keinen Job mehr geben, der nichts mit KI zu tun habe, sagt Arbeitsminister Hubertus Heil Anfang Juni (Preuß 2023).
Das alles müsste in einer neuen Fortzählung ja eigentlich der „K7“ sein!
Ich fasse Nefiodows Aussagen und Prognosen in der folgenden Tabelle zusammen und ergänze sie mit meinen Überlegungen:

KondratieffEpocheBasis-InnovationFührendes Produkt
11800-1850DampfmaschineBaumwolle
21850-1900StahlherstellungEisenbahn
31900-1950ElektrotechnikChemie
41950-1990PetrochemieAutomobil
51990-2005InformationstechnikComputer in Institutionen und Firmen (Mainframes), vereinzelt bei Individuen (Personal Computer)
62005-2021Globale digitale Vernetzung (Internet für jeden, I-Phone, spezialisierte KI)Personal Computer als Standard in Beruf und Privatleben / Rasante Verbreitung der Social Media / 1,8 Milliarden Websites und Blogs / Online-Handel und Home-Office werden immer wichtiger (nicht zuletzt infolge der Corona-Pandemie)
72022-KI wird zugänglich für jedermannKI wie Chat GPT erzeugen Exposees, Drehbücher und vieles mehr – rasche Adaption der neuen Technologie in allen Bereichen
82025-Psychosoziale Gesundheit (bei Nefiodow: K6)Die für jedermann zugänglichen KI stärken die Position der Individuen und fördern deren Kreativität und die Möglichkeiten, sich in kleinen Teams dynamisch zu vernetzen
Abb. 2: Tabellarische Übersicht zu den verschiedenen Kondratieff-Zyklen (nach Nefiodow und eigenen Überlegungen)

Beschleunigt sich die Abfolge der Zyklen?

Wenn man sich die zeitliche Dynamik der Kondratieff-Zyklen anschaut, fällt auf, dass sie zur Gegenwart hin an Tempo zunehmen. Waren es zwischen 1800 und 2000 jeweils ungefähr 50 Jahre, also zwei Generationen (interessanterweise ähnlich dem eingangs erwähnten Zeithorizont der Planung von Fürst Johannes von Thurn und Taxis), so spielen sich die tiefgreifenden Veränderungen inzwischen etwa in 25 Jahren ab, also innerhalb einer (!) Generation.
Auch wenn die Kondratieff-Zyklen in der Wirtschaftstheorie nicht unumstritten sind, bieten sie doch ein erstaunlich überzeugendes Abbild der Dynamik.

Ist also „Psychosoziale Gesundheit“ der sehnsüchtig erwartete „K 8“?

Im aktuellen Juni-Heft von brand eins fragt Anabelle Körbel:
„Ist der hohe Wert, den wir der Erwerbsarbeit zusprechen, noch angemessen?“
Sie zitiert in diesem Zusammenhang ein Modell der Soziologin Frigga Haug:
° vier Stunden Erwerbsarbeit pro Tag,
° vier Stunden Sorgearbeit (für Kinder und Pflegebedürftige),
° vier Stunden kulturelle Arbeit,
° vier Stunden politische Arbeit.

In diesem Modell fehlt mir noch etwas ganz wesentliches, was immer noch total unterschätzt wird. Ich würde das so benennen: Arbeit am Selbst, also an der eigenen Person. Was ist darunter zu verstehen?
° Das Aufarbeiten von Defiziten im Rahmen einer Psychotherapie,
° Fortbildung mit hohem Selbsterfahrungsanteil (TZI*-Gruppen – meine eigenen Schreib-Seminare bis 2020).
° Alles, was die eigene psychische (und damit auch die somatische) Gesundheit fördert und zugleich immer auch die Kreativität.

Was die eigene Verfassung verbessert, wirkt sich immer auch positiv auf die nähere Umgebung (Familie, Freundschaften, Nachbarschaft) aus und damit letztlich auch auf die Arbeit und den Beruf, also im weitesten Sinne auf die Wirtschaft.
Das Titelbild des Dezember-Hefts 2021 vom Wirtschafts-Magazin brand eins (s. unten) betont mit den verfremdenden und übertreibenden Mitteln der Karikatur, wie wichtig das Persönliche (und die Aufarbeitung seiner/ihrer Defizite) auch für die Wirtschaft sind: Sigmund Freud als Ikone einer Erweiterung des Menschenbilds auch für die scheinbar so menschenferne Welt de Arbeit und der Berufe (die ja, genau genommen, ohne produzierende und konsumierende Individuen gar nicht existieren würde).

* „ThemenZentrierte Interaktion (TZI)“ nach Ruth C. Cohn.

Die „leise Stimme der Vernunft“

Sind die in der Tat ja sehr beeindruckenden – Möglichkeiten der KI vielleicht so etwas wie das dringend nötige „Unterfutter“ für die Stärkung der persönlichen Intelligenz und Kreativität, das Super-Tool, das die Individuen in einer Weise stärkt, dass sogar auch eine humanere Zukunft – vielleicht sogar ohne Kriege – denkbarer wird?
Die Science-Fiction macht uns da erstaunlicherweise kaum Hoffnung. Asimovs Foundation verspricht uns viel mehr tyrannische, ja sadistische Kaiser und unglaubliche Weltraum-Kriege (ähnlich wie die Star Wars-Märchen von George Lucas und manchem anderen SF-Visionär). Oder hat Sigmund Freud am Ende doch recht mit seiner hoffnungsvollen Beschwörung der „Leisen Stimme der Vernunft“, von der er 1927 trotz allem Pessimismus schrieb:
„Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, bis sie sich Gehör geschafft hat.“

Bald danach kam der schreckliche Zweite Weltkrieg, der Freud scheinbar Lügen strafte. Doch ab Mai 1945 war tatsächlich Frieden in Mitteleuropa, fast drei Generationen – vorher unvorstellbar. Bis, wie wir leider alle wissen, Putin Ende Februar vergangenen Jahres die „Pforten der Hölle“ mutwillig und seinen ganz persönlichen psychopathischen Dämonen folgend wieder aufgerissen hat.
Aber vielleicht bringt ja eine KI demnächst die globale Wende (denn es gibt viele Kriege und bürgerkriegsähnliche Unruhe, nicht nur den gegen die Ukraine) – vielleicht hat Bertha von Suttners Mahnung von 1889 endlich Erfolg: „Die Waffen nieder!“

(Zum Thema „KI“ → auch meinen Beitrag hier im Blog: KI kocht Buch: Das ferne Donnergrollen sowie Chat GPT schreibt (m) Buch. )

Abb. 3/4: Cover Leo A. Nefiodow: Der sechste Kondratieff (1996). Das Cover von brand eins (Dez 2021) betont mit den Mitteln der Karikatur, wie wichtig das Persönliche und die Aufarbeitung seiner Defizite auch für die Wirtschaft sind.

Quellen
anon: Wikipedia: Kondratiew-Zyklus .
Asimov, Isaac: Foundation. In: Astounding Science Fiction., May 1942.
Ders.: Foundation. New York 1950. Deutsch: Terminus, der letzte Planet (übersetzt von Lothar Heinecke), München 1959
(Moewig Terra). Der Tausend-Jahre-Plan (übersetzt von Wulf Bergner). München 1966 (Heyne TB).
Behringer, Wolfgang: Thurn und Taxis. Die Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmen. München 1990 (Piper).
Freud, Sigmund: „Die Zukunft einer Illusion“. (Wien 1927). Gesammelte Werke XIV, S. 377.
Händeler, Erik: „Wenn der Zyklus die Krise erklärt“. In: Südd. Zeitung Nr. 215 vom 17. Sep 2013, S. 21 (Wirtschaft).
Heil, Hubertus →Bericht von Preuß, Roland.
Körbel, Anabelle: „Ich arbeite, also bin ich?“. Brand eins Nr. 6 Juni-Heft 2023, S. 86-92.
Nefiodow, Leo A.: Der Sechste Kondratieff. St. Augustin 1996 (Rhein-Sieg-Verlag).
Preuß, Roland: „Wenn die KI vor sich selber warnt“. In: Südd. Zeitung Nr.127 vom 05. Juni 2013, S.5 (Politik).

310 _ aut #1554 _ aktualisiert 08. Juni 2023 (06. Juni 2023/21:46)

Pfingstwunder – mal ganz anders

Ich habe mich hier im Blog vor zwei Jahren schon einmal mit dem Pfingstwunder und seiner Bedeutung als altertümlicher Metapher für Kreativität befasst. Daran ließe sich auch gut zeigen, was MultiChronie in diesem Fall bedeutet: Das Nebeneinander von
° antikem Wissen bzw. Unwissen um das Jahr Null von den neuro-physiologischen und psychologischen Wurzeln der Kreativität
° verglichen mit dem was wir seit Sigmund Freud (etwa ab 1895) über die Rolle des Unbewussten und Vorbewussten wissen, wenn neue Ideen entstehen.

Ich weiß, dass die biblische Geschichte von der „Ausgießung des Heiligen Geistes“ mehr bedeutet: nämlich die Hoffnung auf eine Zukunft, in der die Menschen einander besser verstehen. Genau hier setzt eine – wie ich zugebe – ziemlich verrückte Idee an, die mir heute Morgen kam, als ich in den Feuilletons der Süddeutschen Zeitung und der Zeit allerlei kluge Sonntags-Reden über Pfingsten und seien Bedeutung las. Gleichzeitig war ein anderer Teil meines Gehirns mit dem aktuellen Hype „KI“ beschäftigt – und plötzlich schoss beides zusammen zu einem Gedanken:
° Muss KI unbedingt Arbeitsplätze vernichten und eine immer größere Bedrohung werden –
° oder kann so ein sich selbst verstärkender und verbessernder Algorythmus wie Chat-GPT nicht auch im Endeffekt etwas ähnliches wie der „Heilige Geist“ bewirken?

Schöpft die KI doch ihre verblüffenden Antworten und „Kenntnisse“ aus dem publizierten Gesamtwissen der Menschheit, seit der Einbindung von Chat-GPT in die Microsoft-Suchmaschine Bing auch aus dem Internet mit seinen Milliarden von Websites und Blogs.

Abb.: Vielleicht suchen wir in der falschen Richtung – vielleicht ist nicht die „Taube“ das moderne Symbol für den „Heiligen Geist“ – sondern etwas Technisches wie ein Flugzeug – oder eine KI? ( Photo by Austin Zhang on Pexels.com)

Eine alte Sehnsucht aus den 1940er Jahren: KI als Beendigung aller Kriege

1947 veröffentlichte Jack Williamson seinen SF-Roman The Humanoids; 1952 erschien auch eine deutsche Übersetzung mit dem Titel Wing 4. Ich bin hier im Blog schon einige Male darauf eingegangen, weil es im Grunde die Vorwegnahme dessen ist, was mit den KI gerade mit Höllentempo auf uns zukommt. Die Frage bei alledem ist:
° Wird das für die Menschheit übel ausgehen – wie in den dystopischen Filmen Matrix und Terminator, in denen KI-gesteuerte Roboter die Menschheit versklaven und in den Untergang führen
° oder könnte das auch etwas Gutes haben?

In Williamsons Roman wird schon vor 80 Jahren (also vor fast drei Generationen) eine positive Antwort angedeutet:

Ironsmith schüttelte den Kopf:
„Ich kann nicht verstehen, warum eigentlich die Humanoiden so schlimm sind“, widersprach er milde. „Bestimmt kann ich’s nicht aus irgendetwas schließen, das Sie gesagt haben. Schließlich und endlich sind sie ja nichts als Maschinen, die genau das tun, wofür man sie geschaffen hat. Wenn sie tatsächlich den Krieg abschaffen können, so begrüße ich sogar ihr Kommen.“

Der Plot des Romans ist vielschichtiger – aber im Grunde genommen geht es darum, dass ein genialer Wissenschaftler Roboter (die Humanoiden) geschaffen hat, die den Menschen helfen sollen, ein besseres Leben zu führen – was ja die Grundidee auch bei allen anderen Maschinen davor war. Nur sind die Humanoiden (heute würde man sie als Androiden bezeichnen) wesentlich höher entwickelt und sehr menschenähnlich und werden von einem zentralen Gehirn gesteuert, das man heute KI nennen würde. Diese Menschmaschinen steuern nun einen bewohnten Planeten der Milchstraße nach dem anderen an, um ihre Dienste anzubieten und vor allem Kriege abzuschaffen. Das gefällt nicht allen Menschen und daraus bezieht der Roman sein Konfliktpotenzial. Die ganze Geschichte eskaliert, weil seit geraumer Zeit ein interplanetarer Krieg wütet – den die Humanoiden schlagartig beenden könnten. Die Menschen müssen nur einverstanden sein.
Hier die Szene, in welcher sich einer dieser Androiden (wie wir heute sagen würden), den Menschen in seiner wahren Gestalt zeigt – denn bisher war Major Steel der persönliche Assistent des amtierenden Präsidenten auf einem der Planeten und von einem richtigen Menschen nicht zu unterscheiden:

Forester wusste, dass er eigentlich keine Überraschung hätte empfinden sollen. Mark White hatte versucht, ihn auf diesen Augenblick vorzubereiten, und er selbst hatte von jeher der übermenschlichen Energie und Tüchtigkeit des Adjutanten misstraut. Dennoch ging ein Schauder über seinen Rücken, als er nun dieses menschlich scheinende Ding am anderen Ende des langen grünen Tisches beobachtete. Etwas schien ihn mit kalten Fingern zu berühren. Er hatte Mühe, Atem zu schöpfen.
„Zu Ihren Diensten, meine Herren.“ Der menschliche Klang war plötzlich aus Steels Stimme verschwunden. Ihr Ton hatte etwas von einem weichen silbrigen Surren. „Bitte entschuldigen Sie einen Augenblick! Sie sollen uns sehen, wie wir wirklich sind. Die Notwendigkeit für diese Verkleidung ist ja nun in Wegfall gekommen.“ Das Ding schlüpfte aus seiner Uniform, holte Kontaktlinsen aus seinen Augen, riss an der Umhüllung seines Inneren, die bisher wie seine Haut ausgesehen hatte, und begann dann, eine Art plastischen Materials in langen fleischfarbenen Spiralen von seinen Gliedmaßen und seinem Körper abzuwickeln.
Forester sah hilflos zu. Er sah die Gesichter um den Tisch herum steif und grau werden und hörte Männer von Entsetzen gepackt keuchen. Er selbst stieß fast einen Schrei aus, als ein Stuhl mit erschreckendem Krach umfiel. Dennoch war, was unter der Verkleidung zum Vorschein kam, nichts wirklich Grauenhaftes. Eigentlich war es sogar wunderschön. Die Form war fast menschlich, aber sehr dünn und graziös und ohne jegliche mechanische Schwerfälligkeit oder Eckigkeit. Es war etwa einen halben Kopf kleiner als Forester und stand nun nackt und geschlechtslos da. Seine glatte Haut war von leuchtendem Schwarz, in dem sich die Lichter des Raumes bronzefarben und bläulich spiegelten. Auf seiner Brust waren folgende Worte in gelben Buchstaben eingestanzt:
HUMANOID
Seriennummer M 8—B 3 ZZ
„Zu dienen und zu gehorchen und Menschen vor Leid zu bewahren.“

Einen Augenblick lang stand es, nachdem es die letzten Hüllen abgelegt hatte, völlig still neben dem Präsidenten. Seine Augen schienen jetzt wie leere Höhlen, die das Licht gleich poliertem Stahl auffingen. Sein schmales Gesicht mit den vorstehenden Backenknochen machte einen wohlwollenden Eindruck. Nach der regen und geschickten Tätigkeit seiner Hände schien diese eingefrorene Haltung ebenso unheimlich wie seine unmenschliche Stimme.
„Ihr augenblicklicher Schreck ist unnötig, meine Herren“, schnurrte es musikalisch, „da wir niemals einen Menschen verletzen. Major Steel war nichts als eine nützliche Täuschung, die wir zu Ihrem eigenen Vorteil anwandten. Meine Verkleidung setzte uns in die Lage, die sich hier entwickelnde technologische Krise aus nächster Nähe zu beobachten und unsere Dienste rechtzeitig anzubieten und damit drohendes Unglück abzuwenden.“
„Aber — Herr Präsident!“ Noch immer keuchend, war der Verteidigungsminister aufgesprungen. „Ich kann diese ganze eigenartige Vorstellung hier nicht begreifen“, protestierte er erschüttert. „Ich muss Sie daran erinnern, dass sehr weise Gesetze existieren, die unsere Arbeiterklasse gerade gegen solche mehrzweckige menschenartige Automaten wie diesen hier schützen, und ich hoffe, Sie vergessen nicht, dass unsere Partei versprochen hat, diese Gesetze radikal durchzuführen. Nachdem Wahlen bevorstehen ..

Der Präsident antwortete nicht. Er schaute lediglich die Maschine an.
„Sie brauchen sich wegen der Stimmen Ihrer Wähler keine Sorgen zu machen“, sagte die Maschine geschäftsmäßig. „Wir bringen nicht für einen einzigen Arbeiter Not und Leid. Ganz im Gegenteil. Unser einziger Zweck ist es, das menschliche Wohlergehen zu fördern. Ist unser Dienstsystem einmal richtig im Gang, so werden alle Klassenunterschiede verschwinden. Genau wie die anderen Ursachen von Unglück und Leid – wie Schmerz, Krieg, Armut, Not und verbrechen. Es wird keine Klassen von Schwerarbeitern mehr geben, weil es keine Schwerarbeit mehr gibt.“

Wer dies hier im Blog liest (und vielleicht Filme wie Bladerunner oder Colossus kennt), kann in Gedanken mal durchspielen, wie man sich selbst in dieser Situation fühlen und entscheiden würde. Sie zeigt in typischer SF-Manier zugespitzt etwas, was schon sehr bald auf viele von uns zukommen wird: Wie entscheide ich mich angesichts immer mächtiger werdender KI? Werde ich sie als Werkzeug sinnvoll nützen – oder werde ich sie fürchten und bekämpfen wie einen modernen Teufel?

Das hängt natürlich auch davon ab, ob Großkonzerne wie Microsoft und Meta/Facebook und Tesla und Apple und Amazon ungeniert die Möglichkeiten von KI zur noch perfekteren Gewinnmaximierung, Steuervermeidung und Gegenseitigen-aus-dem-Markt-Drängung nützen (und da habe ich China und andere autokratische Staaten noch gar nicht erwähnt) – oder ob andere, für den einzelnen Menschen freundlichere Gedanken die Oberhand gewinnen. Die KIs (es gibt ja schon mehrere) sollten zumindest auch diese anderen Varianten vorfinden, wenn sie durchs Internet surfen. So wie Chat-GPT meine Blog-Beiträge zum Thema MultiChronie gefunden und berücksichtig hat.

Meine Phantasie war an diesem Pfingstmontagsmorgen jedenfalls, ob da nicht tatsächlich so etwas wie ein [Heiliger] Geist in Algorythmus-Form uns eine Chance bietet, uns als Menschen einander besser zu verstehen.
Es gibt ja das seltsame Phänomen der Serendipität: dass jemand etwas Bestimmtes sucht – und etwas völlig anderes, viel Wertvolleres findet. Vielleicht geht es den Schöpfern der KI ebenso? Lassen wir uns überraschen. Und treten wir die Politiker gleichzeitig ordentlich in den Arsch, damit sie das Richtige tun: zum Beispiel ordentliche Gesetze zur Zähmung des Wildwuchses um die KI, zu einer gerechteren Besteuerung dieser Großkonzerne und manches mehr. Das geht auch ohne Segnung „von oben“ durch den Heiligen Geist.

Mein Angebot an positiven Gedanken habe ich hiermit jedenfalls gemacht. Und in der aktuellen Ausgabe von brand eins findet sich im Themenschwerpunkt „Neue Werte“ noch mehr Bedenkenswertes: Zum Beispiel, ob man nicht schleunigst anfangen sollte, den wahren Wert von „Natur“ zu ermitteln und einzupreisen, wenn es um wirtschaftliche Bewertungen geht. Frederic Vester hat sich schon 1985 darüber Gedanken gemacht und kommt für den ökologischen Wert eines Baums auf jährlich 5.300 Mark – was in 100 Jahren Baumleben stattliche 530.000 Mark ergibt. Und der Wert eines Vogels? Ähnlich erstaunlich.
Das ist nicht nur für durchs Internet streifende KI eine interessante Lektüre.

Quellen
Böhme, Johannes: „Naturmarkt“. brand ein Nr. 6 Juni 2023, S. 34-41.
Cameron, James (Regie). Terminator I. USA 1984 (Orion).
Dick, Philip K.: Do Androids dream of electric sheep“ . USA 1968.
Mostow, Jonathan (Regie). Terminator III: Rebellion der Maschinen. USA 2003).
Sargent, Joseph (Regie): Colossus: The Forbin Project. USA 1970 (Universal Studios).
Scott, Ridley (Regie): Blade Runner. USA 1982. – nach dem Roman „Do Androids dream of electric sheep“ von Philip K. Dick.
Vester, Frederic: Der Wert eines Vogels. München 1983 (Studiengruppe für Biologie und Umwelt).
Vester, Frederic: Ein Baum ist mehr als ein Baum. München 1985 (Kösel).
Wachowsky Brothers (Regie): Matrix. USA 1999 (Village Roadshow Movies).
Williamson, Jack: Wing 4 (The Humanoids). (USA 1947, 1949). Düsseldorf 1952 (Rauchs Weltraumbücher)

309 _ #1676 / 29. Mai 2023/21:26