Europa

Die EWG und deren Perzeption in der deutschen Öffentlichkeit

von Björn Böhling

2.1. Die ersten Schritte zur europäischen Integration durch die Europäer – Die Europäische Bewegung und der Europarat

Von Oktober 1948 bis Mai 1949 schlossen sich fast alle Europaorganisationen zur Europäischen Bewegung (European Movement) als Dachorganisation zusammen.[20] Der im Februar veranstaltete erste Kongress konnte sich schon auf die Beschlüsse des Brüsseler Paktes[21] beziehen, die die Einsetzung eines europäischen Ministerrates und einer Europäischen Beratenden Versammlung als Organe eines künftigen Europarates vorsahen. Die auf dem Kongress gefundenen Richtlinien beinhalteten trotz des beherrschenden Ost-West-Konfliktes ein Bekenntnis zu einem gemeinsamen Europa inklusive Osteuropa.

Die Europäische Bewegung erreichte also nur wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die Schaffung des Europarates, forderte einen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und initiierte Institutionen des Europa-Kollegs in Brügge und des Europäischen Kulturzentrums in Genf. Diese Leistungen können sowohl als erster großer Schritt auf ein vereintes Europa zu verstanden, als auch als kleinster gemeinsamer Nenner und verpasste Chance aufgefasst werden, denn Gasteyger meint zu der Bilanz:

„Der fast revolutionäre Idealismus der europäischen Föderalisten aus der Widerstandsbewegung musste dem nüchternen Pragmatismus jener Politiker weichen, für die nationale Interessen immer noch den Vorrang hatten und deren Europapolitik sich – vielleicht zu rasch – mit der Spaltung des Kontinents abfand.“[22]



Immerhin war auch institutionell durch die Schaffung des Europarates am 5. Mai 1949 ein Weg eingeschlagen, um für „eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern [zu sorgen], zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, und [um] ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern“.[23] Die Brüsseler-Pakt-Staaten (Frankreich, Großbritannien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg) sowie Dänemark, Irland, Italien, Norwegen und Schweden waren die Gründungsmitglieder, des sich bald (auch um Ostblockstaaten) erweiternden Rates.[24] Zu den Errungenschaften im Rahmen des Europarates gehörten die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Institutionen des Rates waren/sind die Europäische Parlamentarische Versammlung mit nationalen Parlamentariern, ein Ministerkomitee, bestehend aus den nationalen Außenministern, und das Generalsekretariat.[25] Entscheidungskompetenzen hatte allein das Ministerkomitee (Einstimmigkeitsprinzip), während die Versammlung ausschließlich eine beratende Funktion innehatte. Auch wenn der Europarat nicht als legislatives Organ mit Entscheidungsbefugnissen zu verstehen ist, war er doch die erste organisatorische Möglichkeit neben den Vereinten Nationen, sich über Länder- und Ideologiegrenzen hinweg auszutauschen und gemeinsame Ziele für Europa anzustreben – um es mit Theodor Schieders Worten auszudrücken: „der Europarat [ist] die umfassendste europäische Organisation, aber sie geht nicht über einen politischen Rahmen für die Förderung des europäischen Gedankens hinaus.“[26] Und obwohl der Rat eigentlich keine tagesaktuellen Themen diskutieren durfte (dies war in der Satzung nicht vorgesehen), was natürlich zu dessen Zustimmung und Anerkennung im Westen, bei den Ostbockstaaten und – nicht vergessen – bei den neutralen Staaten Europas führte, benutzten immer wieder Abgeordnete das Gremium, um politische Forderungen zu stellen. Im Großen und Ganzen ging und geht es in diesem Forum aber um die Ausarbeitung gemeinsamer Abkommen auf kulturellem, sozialen, wirtschaftlichem und rechtlichem Gebiet, „Da er“, wie es Fritzler und Unser knapp und prägnant ausdrücken, „über keine echten Machtbefugnisse verfügt“.[27]

Neben dieser von den Europäern gegründeten Institution gab es noch andere, die hier nur kurz Erwähnung finden sollen. Dies waren 1948 die Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), eine europäisch-transatlantische Organisation, die von den USA eingerichtet wurde, um den europäischen Wiederaufbau (Marshall-Plan) zu fördern[28] und 1949 die NATO. 1951 kam eine weitere europäische Institution hinzu, die zum ersten Mal Hoheitsrechte der beteiligten Länder übernahm – die erste supranationale Organisation Europas, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Weidenfeld sieht fünf Motive im Vordergrund, die die Europäer das Abenteuer Integration verfolgen ließen: Erstens, der Wunsch nach einem neuen, gemeinsamen Selbstverständnis in Europa nach den nationalsozialistischen Verirrungen; zweitens, der Wunsch nach Sicherheit und Frieden, weil es schien, dass nach dem Versagen der Nationalstaaten nur eine Gemeinschaft vor einem weiteren Krieg und dem Kommunismus schützen konnte; drittens, der Wunsch nach Freiheit und unbegrenzter Mobilität von Personen, Informationen, Meinungen, Geld und Waren; viertens, der Wunsch nach wirtschaftlichem Wohlstand, d.h. Stabilität und Wachstum in einem gemeinsamen Markt und fünftens die Erwartung gemeinsamer Macht, da sich die einzelnen Staaten Europas langfristig alleine nicht gegen die Mächte USA und UdSSR behaupten konnten.[29]

Smilies Bromberg

[20] Zu den Schwierigkeiten und Kontroversen innerhalb der Bewegung, wie z.B. der Frage nach Bundesstaat oder Staatenbund kam hinzu, dass die Europäische Bewegung die Vereinigten Staaten von Europa schon fast als konstituiert ansah, während die europäischen Regierungen rein gar nichts in diese Richtung unternahmen. Siehe dazu Graml, Hermann: Anfänge europäischer Einigung, in: Benz, Wolfgang; Graml, Hermann (Hrsg.): Europa nach dem Zweiten Weltkrieg 1945-1982, Das Zwanzigste Jahrhundert II, Frankfurt a.M. 1983, S. 65ff. Außerdem sieht Graml sogar die Tendenz eines Auseinanderbrechens, einer Zersplitterung in Einzelgruppen, der Bewegung ab 1948, das nur durch das Engagement Winston Churchills verhindert worden sei (vgl. ebenda, S. 66). Auch die Europa-Bewegung war nicht frei von individuellen Ausprägungen und Forderungen.

[21] Der Brüsseler Pakt von 1948 (auch Westunion und ab 1954 Westeuropäische Union - WEU) war ein von Frankreich, Großbritannien, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg geschlossenes Sicherheitsbündnis zur kollektiven Verteidigung und zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zusammenarbeit (vgl. Schieder 1979, S. 326).

[22] Gasteyger 2001, S. 36.

[23] Weidenfeld, Werner; Wessels, Wolfgang (Hrsg.): Europa von A bis Z, Taschenbuch zur europäischen Integration, 8. Aufl., Bonn 2002, S. 202f. Zu den frühen Mitgliedern gehörten 10 Staaten, die Bundesrepublik kam am 13. Juli 1950 dazu. Der Europarat ist heute eine Organisation, die weit über die Grenzen der Europäischen Union hinaus geht. Für weitere Informationen siehe ebenfalls Weidenfeld, Wessels 2002 bzw. die dort angebotene Bibliographie und Internet-Adressen.

[24] Dazu im Anhang die Karte in Anlage I.

[25] Zum Aufbau und den 2001 aktuellen Mitgliedsstaaten siehe die Abbildung in Anlage II im Anhang.

[26] Schieder 1979, S. 326.

[27] Fritzler, Marc; Unser, Günther: Die Europäische Union, 2. überarb. u. aktualis. Aufl., Bonn 2001, S. 20.

[28] Siebzehn europäische Staaten beteiligten sich: Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, die Schweiz, die Türkei und die drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands. Es war kein Zufall, dass kein späterer Ostblockstaat dazugehörte. Die Mitgliedschaft wurde von Stalin quasi verboten. So konnten diese Länder nicht, wie die westlichen, als Partner der US-amerikanischen Economic Cooperation Administration an der Verteilung der Marshall-Plan-Gelder mitwirken. Die OEEC war zwar wirtschaftlich ein Erfolg, aber politisch führte sie nicht zu einem Zusammenwachsen, wie es die ‚Föderalisten’ gehofft hatten. Aus der OEEC gingen vier Institutionen hervor: 1. Die Europäische Zahlungsunion (EZU) im September 1950, 2. die Europäische Kernenergie-Agentur im Dezember 1957, 3. im Jahr 1952 die Europäische Konferenz der Verkehrsminister (CEMT) und 4. die Europäische Produktivitätszentrale (EPZ) 1953. Die hier geschaffenen europäischen Institutionen waren nicht föderativ, sondern lediglich durch zwischenstaatliche Vereinbarungen zustande gekommen.

[29] Vgl. Weidenfeld 2002, S. 21f.
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