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no. 18: die jüngste epoche -> diskurse des pop
 

Abba lieben lernen, heißt siegen lernen

Schreiben über Pop um 1980

von Christoph Rauen

zum artikel:

* anmerkungen
* literatur
* druckbares

Um 1980 ändert sich das Schreiben über Pop, zum Beispiel in Sounds. Neben ein Rock-Dispositiv, das den Popdiskurs bis dahin regelte und in dem Popkultur als natürlicher Ausdruck von Protest beurteilt wurde, tritt das Pop-Dispositiv: neue ästhetische und politische Sichtweisen auf die Musik, die noch zum Verständnis der Popliteratur der 90er Jahre unabdingbar sind. Den Anstoß gibt die Enttäuschung von Erwartungen, die sich an die Gegenkultur der 60er und 70er Jahre geknüpft hatten. Punk ist ein erster Ausdruck der Krise. Daran anschließend entwickeln Intellektuelle wie Diedrich Diederichsen das neue Konzept der Uneigentlichkeit: Camp-Ästhetik und die Idee von Widerstand als Unterwanderung.

 

1. Der Schläfer

Im September 1982 erscheint in der deutschen Musikzeitschrift Sounds ein seltsamer Leserbrief. Der Verfasser, in den 60er Jahren Popmusik-Fan und treuer Leser des Magazins, berichtet, daß er 1974, unzufrieden mit dem Angebot, der Popwelt den Rücken gekehrt hat. Jetzt, Anfang der 80er, hat ihn eine Platte der New Wave-Band Talking Heads davon überzeugt, wieder am Diskurs teilzunehmen. Doch er findet sich nicht mehr zurecht und bittet um Hilfe.

"Seither lese ich auch wieder Sounds, oder versuche Sounds zu lesen, oder versuche zu vergleichen, alles vergeblich. Vergeblich suche ich nach dem neuen Selbstverständnis der Soundsred. (zuerst meinte ich, D.D., Kid P. usw. würden ihre Reportagen und Kritiken ironisch verstehen, doch das traf auch nicht zu) [...]. [...] Was ist in der Zwischenzeit passiert, daß die Red. plötzlich von den (früheren) 'genialen' G. Glitter, Slade, Sweet, T. Rex, D. Ross spricht [...]? [...] Dylan wurde gar alter Sack genannt. [...] Warum zieht ihr plötzlich konsumorientierte Charaktere [...] den 'Friedensfuzzis' (von den von euch neuerdings verschmähten Hippies ganz zu schweigen) vor, und gleicht damit eure Zielvorstellung [...] der Zielvorstellung der CDU/CSU [...] an?"

 

2. Das postmoderne Wissen

Was ist in der Zwischenzeit passiert? Eine erste Antwort könnte lauten: Popmusik und die Art und Weise, über sie zu schreiben, sind jetzt 'postmodern'. Das kann vieles heißen. Es heißt aber vor allem, wie ich zeigen möchte, daß eine vor 1980 einigermaßen verbindliche Vorstellung von Popkultur -- und damit meine ich im Gegensatz zur emphatischen Rede über 'Pop', die sich um 1980 durchsetzt, das, was mit Rock 'n' Roll beginnt und auch noch Techno einschließt --, daß also eine vor 1980 verbreitete Vorstellung von Popkultur als Ort des natürlichen Ausdrucks von Protest an Überzeugungskraft verliert und Platz macht für neue Ideen.

Nehmen wir als einschlägiges Beispiel für die allgemeine Denkströmung, an der auch der ambitionierte Musikjournalismus teil hat, Das postmoderne Wissen von Jean-François Lyotard (1979). Lyotard, ein ehemaliger Marxist, bemüht sich darin um eine passende Beschreibung der Gesellschaft seiner Zeit. Gleichzeitig sucht er, wie schnell klar wird, nach der Erklärung für eine Enttäuschung. Die Weltrevolution ist ausgeblieben; das Proletariat, das Subjekt dieser Revolution sein sollte, ist in Auflösung begriffen, weil harte körperliche Arbeit immer weniger gebraucht wird. Die Idee, daß 'Wir gegen die' den offenen Kampf für eine bessere Welt führen sollen und können, leuchtet immer weniger ein. Lyotard überprüft die Annahmen des Marxismus und der Kritischen Theorie: Wer glaubt, die Gesellschaft 'von außen' kritisieren zu können, so Lyotard, hängt einer Illusion an. Konflikte im Kapitalismus sind nicht Motor der Emanzipation und Auftakt zum Umsturz, sondern werden vom 'System' absorbiert -- das zeigten der Pariser Mai 68 und der Prager Aufstand. Gesellschaft braucht nicht, wie Jürgen Habermas meint, den Konsens, ja dieser Glauben sei sogar gefährlich (siehe Stalinismus, Maoismus). Die 'große Erzählung' von der Selbstbefreiung der Menschheit sei unglaubwürdig, die Kritische Theorie naiv: "Die Sache ist gut, aber die Argumente sind es nicht".

Wenn man so nicht denken soll, wie dann? Lyotard sichtet das Angebot der soziologischen Systemtheorie, wie sie Niklas Luhmann in Deutschland vertritt. Orientierung an Bestandserhaltung und Effizienz, das scheint Lyotard realistischer. Ob das den Menschen gefällt, die im System leben müssen, ist zweitrangig. Die Systemtheorie fühlt sich keinem humanistischen Telos verpflichtet, sie ist, findet Lyotard, "zynisch". Die Auffassung, alles Soziale ließe sich auf Sprache reduzieren, Gesellschaft sei nichts anderes als rückgekoppelte Kommunikation, teilt er, gibt ihr aber eine besondere Wendung: Für ihn ist Gesellschaft eine Menge von Sprachhandlungen, die in einer "allgemeine[n] Agonistik" miteinander konkurrieren.

Für Fundamentalkritik ist in diesem Konzept kein Platz mehr, aber Widerstand gegen das über die Köpfe der Menschen hinwegrollende Geschehen soll doch möglich sein: Man kann und soll sich nach Lyotard aus dem pragmatischen Diskurs ausklinken, dysfunktional sprechen und schreiben, einen "'Spielzug' -- eine neue Aussage -- [...] setzen, die unerwartet wäre". Lyotard beerbt hier, ohne Namen zu nennen, die Ideen übergeschnappter Künstler des 20. Jahrhunderts, die die Kunst hinter sich lassen wollten (zum Beispiel Dadaismus, Situationismus). Dazu paßt, daß ihm keine organisierte, einheitliche Massenbewegung vorschwebt, sondern auf Zeit gebildete kleine Kampfgruppen.

Vergleichsweise weniger skrupulös und noch erfolgreicher macht sich etwa zur selben Zeit Jean Baudrillard über die "pädagogische Illusion" des aufgeklärten Denkens lustig. Auch er landet beim Neo-Dadaismus. 'Subversion' sei möglich als Verstärkung entropischer Tendenzen. Denn nicht die Erzeugung von materieller Not und Ungleichheit ist nach Baudrillard dem System vorzuwerfen, sondern die schrankenlose Produktion von 'Bedeutung'. Dem kann nur entrinnen, wer Unsinn redet oder sich "hyperkonformistisch" gibt, sich also weigert, als rational erreichbarer und selbstbestimmter Ansprechpartner aufzutreten.

 

3. Pop am Ende der 70er Jahre: Fehlermeldungen

Auch im ambitionierten Musikjournalismus hat man in den 70er Jahren aus nicht eingelösten Heilserwartungen Sinn zu machen. 1972 warnt Helmut Salzinger in Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution vor den Sackgassen, in die sich verrennt, wer Popkultur bedenkenlos mit utopischen und gesellschaftskritischen Hypotheken belastet. Diedrich Diederichsen, in vorderster Reihe beteiligt an der Formierung dessen, was ich das 'Pop-Dispositiv' nennen möchte, das um 1980 im Diskurs über populäre Musik neben ein etabliertes Rock-Dispositiv tritt, hat Rock Power als Teenager gelesen. In seinen Diagnosen zum Ende des Jahrzehnts tauchen die darin markierten Probleme wieder auf: Rock, angetreten Mitte der 50er Jahre in glänzender Verfassung und den Mund voll mit wilden Versprechungen, hat in der Sichtweise von Diederichsen über der Arbeit an sexueller Befreiung und individueller Ekstase seine kollektiven und utopischen Ziele vergessen und ist alt und albern geworden. Nur markt- und systemkonforme Wünsche der aufmüpfigen Jugend werden erfüllt. Ständig droht der Ausverkauf der Ideale. 'Rebellion', lautet der Vorwurf, ist seit den 60er Jahren der 'key term' einer einzigen verkaufsfördernden Maßnahme. Und die Rekrutierung von Rebellen ist so erfolgreich, daß die Unterscheidungen 'Wir gegen die', Widerstand gegen Gleichschaltung, auf denen die ideologische Struktur der Jugendkultur beruht, fragwürdig werden. Ende der 70er Jahre herrscht eine generelle Orientierung am Protest, die Kritik der Massenkultur ist zu einem massenkulturellen Phänomen geworden, und was jetzt irritiert, ist ein Konformismus der Abweichung -- übrigens eine Entdeckung, die seitdem immer wieder neu gemacht wird (siehe etwa Norbert Bolz, Die Konformisten des Andersseins). In Wirklichkeit, sagt Diederichsen Anfang der 80er Jahre, haben sich die Hippies mit dem Scheitern ihrer Weltumsturzphantasien längst abgefunden. Sie haben den Konflikt auf "Nebenkriegsschauplätze" wie die Dritte Welt, dann in den Umweltschutz verlagert, um schließlich in das Pathos der Selbsterfahrung und in irrationale Religiosität abzugleiten. Sie verschließen ihre Augen vor der Wirklichkeit. Bei Diederichsen und den letzten Aufrechten macht sich Paranoia breit: Die Gegenkultur spricht, doch wenn man genau aufmerkt, hört man die Stimme des Establishments! (Zu den enttäuschten Hoffnungen muß man wohl, auch wenn das vielleicht frivol klingt, eine enttäuschte Befürchtung hinzufügen: Die Prophezeiung eines neuen Totalitarismus nach Vorbild des Dritten Reichs hatte sich nicht erfüllt -- oder das 'System' wollte sich einfach nicht offen zum Faschismus bekennen.)

Fehlermeldungen, unter Umständen aber auch große Ödnis, regen zum Denken an. Die endlose und bevormundende Wiederholung, der sich Diederichsen und andere ausgesetzt sehen, nutzt die in ihren Augen immer gleichen Glaubenssätze linker Herkunft ab, das "Phlegma der Nörgelei" (Diederichsen) geht gehörig auf die Nerven. Die Pop-Intellektuellen machen jetzt Schwächen linker Theorie aus, zum Beispiel die unnötige Einschränkung 'kommerziell' = 'politisch reaktionär' = 'ästhetisch minderwertig'. Es spielt gar keine große Rolle, ob das tatsächlich jemand so eindeutig und dogmatisch behauptet, verzerrte Feindbilder und Stereotypen taugen um so besser zur Abgrenzung.

Aber traditionelle 'Kulturkritik' mit ihren Verallgemeinerungen und Phobien wird nicht nur deshalb jetzt problematisch. In den USA hatten die intellektuellen Meinungsführer, wie Daniel Bell in Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus zeigt, schon in den 60er Jahren die Erfahrung machen müssen, daß sie gezwungen waren, auf eine unter ihrem Niveau liegende, aber immer schwerer ignorierbare Konsumkultur zu reagieren, wenn sie weiterhin relevant sein wollten. Mit den alten Klassengrenzen verschwimmt auch der klar hierarchisch-gegliederte Geschmack, er wird flüchtiger und zugänglicher für willkürliche Eingriffe und Umdeutungen. Eine ideale Situation für neue Mitspieler, die noch keine schwer erkämpften Positionen aufzugeben haben und bereit sind, sich ihren Anteil an Definitionsmacht und Karrierechancen zu holen. In Deutschland dauert es noch 20 Jahre länger, eben bis zum Anbruch der 80er Jahre, bis eine Bewegung dieser Art einsetzt und neue Tatsachen schafft. Über die historischen Gründe für diese Verzögerung wird weiter unten noch zu reden sein.

 

4. Intermezzo: Punk

"Meint ihr, ihr könnt' heute tun und lassen, was ihr so wollt?"
"Ja, schon, wir tun, was wir wollen."
(Interview mit den Sex Pistols, Sounds, September 1978)

 

In die bleierne Zeit der ausgehenden 70er platzt Punk, nicht nur als Musik und Text, sondern vor allem als schwer lesbares Verhalten von Jugendlichen. Der Kontingenzschub Punk führt zwei Dinge vor Augen: Nichts ist notwendigerweise so, wie es ist, und man kann alles anders machen. In der Musikwelt, die sich zu der Zeit in einer Phase ästhetischer und institutioneller Konsolidierung befindet, wirkt diese Idee wie ein Sprengsatz. Die Folgen reichen weit über 1979 hinaus, als der "Augenblick" Punk, den Greil Marcus so überzeugend verklärt hat, auch schon wieder vorbei ist. Im Popdiskurs beginnen neue Akteure wie Diederichsen im Anschluß an Punk damit, die bis dahin geltende Rock-Ideologie außer Kraft zu setzen. Die so entstehende Lücke füllen sie dann mit dem Neuen, das den Diskurs der 80er prägt, von der Wende 89/90 nur nachträglich bestätigt und in den 90ern (siehe die Popliteraten im Tristesse Royale-Umkreis, aber auch Diederichsen selbst) zum Ausgangsmaterial für eine neue Runde in der Ideengeschichte wird.[Anm. 1] Den Kontext stellt die kapitalistische Wohlstandsgesellschaft, und es läßt sich kein singuläres, etwa politisches Datum als Auslöser für die kulturelle Innovation dingfest machen (das gilt nicht nur für 1980, sondern auch für 1995). Man braucht nur Jürgen Teipels Verschwende deine Jugend, Interviews mit den deutschen Punks von damals, aufzuschlagen, um zu sehen: Neben den Fehlermeldungen, die ich oben angeführt habe, war der größte Anreiz zur Variation der alten Muster schlicht die Langeweile.

Teipels Punks hetzten damals gegen die besitzstandswahrende ältere Generation, denn "[d]iese Leute hatten alles besetzt, was Protest hieß". Auf das Verblassen der Unterscheidung Totalitarismus/Widerstand reagierten sie mit der Beschwörung der Katastrophe ("Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei!", Mittagspause) und kontrafaktischen Behauptungen: 'Wir leben schon (oder immer noch) im Faschismus!' Es ging darum auszutesten, wo man auf Grenzen stößt in einer Gesellschaft, die sich gerade an den Pluralismus gewöhnt und sich -- vor allem in der Jugend- und Alternativkultur, der Schule und auf den Universitäten -- auf Toleranz für das Andersartige einschwört. Solche Realpolemik erliegt dem Reiz, den verborgenen Willen zur Konformität, den man hinter der Fassade wittert, ans Licht zu locken, zum Beispiel durch kurze, blau gefärbte Haare. Dann zeigt sich,

"daß die ganzen 68-Hippielehrer mit langen Haaren im Grunde genauso faschistoid waren wie irgendwelche Pfaffen. [...] Für die gab es nur kurzhaarige Spießer und langhaarige coole Typen. Von daher paßte ich nicht in deren dialektisches Weltbild." (Zitiert nach Teipel)

Günter Sautter hat für die Zerfallsszenarien, auf die linke und nicht mehr so linke deutsche Intellektuelle wie Botho Strauß etwa zur selben Zeit verfallen, den Begriff "Entropie-Angst" vorgeschlagen. Entsprechend wäre Punk 'Entropie-Lust'. Er läßt sich genausowenig wie die aus ihm hervorgehende New Wave umstandslos als Gesellschaftskritik, sagen wir an Arbeitslosigkeit oder Aufrüstung, verstehen. Denn das ist ein Modell derjenigen Zeitgenossen, die in den 60er Jahren geprägt worden waren. Punk ist populärer Ausdruck von Kontingenzbewußtsein, aber daß es in der modernen Gesellschaft kein "Superunbezweifelbares" (Luhmann) gibt, ist für die Beteiligten kein Grund zum Jammern. Man experimentiert mit entropischen Figuren, kehrt die vorhandenen gegenkulturellen Bewertungsmuster um, wie die Gruppe S.Y.P.H. in Zurück zum Beton. -- Hier liegt der Ursprung der Diskussion über Popkultur und 'Ironie', die in den 90ern unter veränderten Bedingungen in den Feuilletons neu entbrannte. Bei Teipel kann man lesen: "Ich habe das eben nur umgedreht"; "Punk war [...] unverständlich", "feinste Ironie"; Ausdruck "mittels ironischer Überaffirmation", "doppelbödiger Humor". 'Ironie' heißt hier nicht, daß der Empfänger eine Äußerung nun einfach durch ihr Gegenteil ersetzen müßte, um sie wieder in eine eindeutige Aussage zu verwandeln. Es geht um unterhaltsame und kunstvolle Provokation, und man benutzt die Differenz zwischen Sagen und Meinen, um eingefahrene Kommunikation zu stören.

Aus politischer Perspektive gesehen ist das, was hier stattfindet, die konkret vollzogene Reflexion des alten Zwei-Seiten-Weltbilds des Protestes. Die Punks eröffnen eine zweite Front, und aus Radikalismus und einem Hang zum Sektierertum entsteht, was Diederichsen "Gegengegenkultur" nennt. Dort haßt und verspottet man alles Gutgemeinte und Naive und verstößt gegen den alternativen Konsens:

"Ich war ziemlich traurig, als der Vietnamkrieg zu Ende ging. [...] Natürlich war ich auf Seiten der Vietcong. Aber von der Optik her hatte das schon was Anziehendes: US-Marines und F4-Phantom und Kampfhubschrauber im Fernsehen. Wir waren in der Schule die Modellbauer. Das haben nur die politisch Unkorrekten gemacht. Die anderen haben gekifft. Damals wurde in der Schule ja gerade sozialdemokratische Schulreform und der ganze Scheiß eingeführt. Und wenn die Hippies oder wer, diese troublemakers, bestimmte Lehrer fertig gemacht haben, dann kamen andere Lehrer und taten so fortschrittlich und diskutierten mit allem und jedem. Es war alles nur langweilig. Und wir waren eben ein paar, die dagegen waren. Gegen die, die dagegen waren. Ich sagte dann auch Sachen wie: 'Vietnamkrieg ist toll.'"

 

5. Das Pop-Dispositiv

Der Musikjournalismus ist an den schnellen Ausstoß der Plattenfirmen gekoppelt, das Alltagsgeschäft besteht darin, Künstler, Gruppen und Moden zu beobachten und die Ergebnisse rasch weiterzugeben an die Konsumenten. Das geschieht aber vor dem Hintergrund von Annahmen und mit Hilfe von Begriffen, die sich nicht von Platte zu Platte oder von Monat zu Monat ändern, sondern im Kern über längere Zeit stabil bleiben. Sie sind gemeint, wenn ich kurz von einem Rock- oder Pop-'Dispositiv' rede, das den Popdiskurs jeweils regelt (Simon Frith spricht von "rock" oder "pop sensibility"). Das Dispositiv garantiert Ordnung und Legitimität. Es steuert die Auswahl, macht die Verwendung bestimmter Ideen und Verknüpfungen wahrscheinlicher, liefert Kriterien, regelt die Beziehung zu anderen Diskursen und schafft Möglichkeiten, die Argumentation abzukürzen. So bezieht sich das Rock-Dispositiv der 60er Jahre auf die marxistisch-inspirierte Kritik der Massenkultur. Musik gilt als wahrhaftiger oder verfälschter, virtuoser oder unzulänglicher Ausdruck der Bedürfnisse und Werte einer Gemeinschaft (der Arbeiterklasse, der Jugendlichen). Entsprechend interessiert man sich für Möglichkeiten, die Musik mit organisierten Protestbewegungen zu verbinden und ist sensibel für die Gefahr der Kommerzialisierung. Erfolg gilt nur dann als legitim, wenn ein Musiker weiterhin die Gemeinschaft repräsentiert. Das Rock-Dispositiv legt nahe, ein Vokabular der "Authentizität, Ehrlichkeit und Solidarität" (Frith) zu verwenden.

Um 1980 nun verschieben sich die Begriffe und Werte, mit denen man arbeitet, so deutlich, daß die Umrisse eines neuen Dispositivs sich abzeichnen. Das ist an Sounds besonders gut zu beobachten. Natürlich behält das Rock-Dispositiv anderswo und bis heute seine Gültigkeit, aber seit damals gibt es daneben ein zweites, auf das man sich berufen und mit Verständnis rechnen kann.

In den Ausgaben von Sounds, die zwischen 1978 und 1982 erscheinen, werden die tragenden Teile des Rock-Dispositivs so lange negiert, ignoriert und parodiert, bis es zusammenbricht. Man testet neue Positionen, die man über Mechanismen wie die Verschärfung alter und die Verallgemeinerung, Polarisierung und Dogmatisierung neuer Ideen zu etablieren versucht. Vor allem übernimmt man von Punk die Umkehrfigur: Auf die 'Verneinung des Bestehenden', wie sie die Frankfurter Schule und die 68er gefordert hatten, antwortet man nun mit der "euphorische[n] Bejahung alles neuen Wirklichen" (Diederichsen), was zur subtilen Form des Widerstands hochstilisiert wird. Mit nietzscheanischem Pathos wird die "Umwertung aller Werte" verkündet. Werte und Gegenwerte, Meinungen und Gegenmeinungen werden so schnell ausgetauscht, daß der Eindruck von Vexierbildern entsteht, und man landet, in der deutschen Popkultur zum ersten Mal, bei einem schwindelerregenden 'double think' (ein Lieblingsbegriff der New Wave-Band Devo), dem ständigen Kurzschluß von Gegensätzen.[Anm. 2] Statt Überzeugungen hat man jetzt 'Strategien'. Man sucht nicht mehr die Konfrontation, führt keinen Angriff mehr "von außerhalb des Systems", sondern glaubt an die Zersetzung 'von innen'.

Auf das Fehlen von Superunbezweifelbarem, das man einerseits feiert, das andererseits aber Unsicherheit erzeugt, reagiert man mit 'Apodiktik'. Wendungen wie 'alles ist', 'schon immer', 'sowieso' sind beliebt. Es entsteht eine

"überdrehte egomane totalitäre manichäisch mutige Sprechweise, in der die Wahrheit über die Welt nicht als fitzelige knittelige Detailexegese, sondern als freches Urteil in einer Adjektivkette oder einem halben Nebensatz auszusprechen war." (Rainald Goetz)

Es gibt andere Möglichkeiten, trotzdem zu überzeugen, zum Beispiel durch anspruchsvollere Argumentation und Theorieimport (den Weg geht später Diederichsen) oder Selbstironie. Aber unangreifbare Sätze sind auch deswegen so beliebt, weil sie es erlauben, den attraktiven radikalen Gestus der politisierten Vorgängergeneration zu übernehmen, während man sich von aller handfesten Politik verabschiedet. Unter der Hand verändert sich das Bild, das man sich von der Gesellschaft macht. Kultur und Kommunikation treten in den Vordergrund, was den Unterschied zwischen Kulturrevolution und echter Revolution verschwimmen läßt. Umsturz bedeutet jetzt Umsturz der Sinnordnungen, nicht der materiellen Verhältnisse. Sehr schön zu sehen bei Goetz, der in Subito gegen den "BIG SINN" oder auch den "blöde[n] Sausinn" ins Feld zieht.

Die Binnendifferenzierung der Gegenkultur führt dazu, daß nicht vorrangig Konservative und Rechte, sondern Liberale und Linke ins Visier genommen werden. "Der Feind steht links, man selber steht noch weiter links" (Diederichsen). Atomkraft-Gegnern, Anhängern der Friedensbewegung und Umweltschützern (die Grünen ziehen 1982 in den Hamburger Senat, 1983 in den Bundestag ein) wird mangelndes Reflexionsniveau und Relevanzlosigkeit vorgeworfen. Historiker behandeln heute die New Wave in einem Atemzug mit den Neuen Sozialen Bewegungen, für Marxisten sind beide nur Zerfallsprodukte, aber hier kommt alles auf den Blickwinkel an, denn Skepsis gegenüber dogmatischem Sozialismus, straffer Organisation und Kollektivismus ist auf beiden Seiten verbreitet. Aber die Sounds-Autoren sind peinlich darauf bedacht, sich von den Alternativen und ihren moralisch-gefärbten Appellen abzugrenzen. Hämisch zeigt man auf die blinden Flecken des dualistischen Weltbildes und rechnet ab mit Selbstgefälligkeit, Verlogenheit und Larmoyanz. Hippies sind für die Popisten, was Habermas für Lyotard ist -- naiv. Im Extremfall schwenkt man ganz auf einen ästhetischen Universalismus um und erklärt Widerstand zur "Stilfrage". Als 1982 Ronald Reagan Berlin besucht und es zu Ausschreitungen kommt, solidarisiert sich Kid P. mit BILD und schreibt, daß der "alternative, studentische Protest penetrant, vulgär und gewöhnlich ist und einer niederen Lebensweise entspringt".

Nun zu der im engeren Sinne ästhetischen Dimension des Pop-Dispositivs. In der "Intensitätskultur" (Diederichsen) des Rock herrscht nach Ansicht der Popisten der Glaube vor, es gäbe für Musiker keine Wahl der Gestaltungsmittel, sondern nur direkt und spontan nach außen transportiertes (sexuelles, politisches) Bedürfnis. Punk und Strukturalismus lenken die Aufmerksamkeit dagegen auf die Arbitrarität des Zeichengebrauchs, also darauf, daß die Verknüpfung von Bezeichnendem und Bezeichnetem konventioneller Art ist. Es ist nun charakteristisch für den Popdiskurs, daß diese Einsicht sofort zugespitzt, verallgemeinert wird und als quasi-politische Position eines Lagers herhalten muß: Wer hängt jetzt noch dem "reaktionären Mythos von Einheit" (Diederichsen) an? Echtheit und Wahrhaftigkeit sind, schreibt Diederichsen in Sounds, bloß Konstruktionen, abhängig von "Authentizitätssignalen, die genauso leicht künstlich herzustellen sind". Es gibt gar nicht so etwas wie einen 'Inhalt'; Wörter wie 'Substanz' und 'Authentizität' dürfen ab jetzt nur noch in Anführungsstrichen verwendet werden (eine Flut von Anführungsstrichen in den Artikeln dieser Jahrgänge). Die Auswirkungen dieser Kampagne gegen bestimmte Begriffe, wie sie zeitgleich an den Unis von den Postmodernen geführt wird, sind längerfristig und halten bis heute an.

Seit den 60er Jahren gibt es Anstrengungen, Popmusik in den Rang von Hochkultur zu befördern. Die Grenze zwischen ernstzunehmender Kunst und bloßer Unterhaltung wird durch solche Bemühungen noch einmal gezogen, doch diesmal innerhalb der populären Kultur selbst, und man könnte darüber spekulieren, ob der Eifer, mit dem sie überwacht wird, nicht sogar noch zunimmt, je mehr die globale Unterscheidung zwischen E- und U-Kultur verblaßt. Verteidiger des für seriös erklärten U-Segments drängen seit damals in die Arena anspruchsvoller intellektueller Auseinandersetzung und übernehmen Teile des dort tonangebenden kulturkritischen Vokabulars. Das Ergebnis ist ein merkwürdiges Gemisch und Nebeneinander von vitalistischen auf der einen und kritischen Schreibweisen auf der anderen Seite. Der modernistischen Ästhetik, die die Standards setzt, gilt als wertvoll, was einzigartig, innovativ, unkommerziell und schwierig ist. Gegenüber den Klischees der Kulturindustrie pflegt sie einen Manipulationsverdacht, und die Unterscheidungsarmut der Kultursphäre ist ihr Vorbote des politischen Totalitarismus. Dem folgt der anspruchsvolle Diskurs über populäre Musik bis zum Ende der 70er Jahre, und entsprechend lehnt man "Disco-Müll vom Fließband" kategorisch ab.

Anfangs wird auch Punk noch im Licht dieses Rock-Dispositivs beurteilt. Man sieht in ihm einen Verbündeten im Kampf gegen den als pompös und prätentiös wahrgenommenen Art-Rock der 70er Jahre, dem man moralische Korruption und ästhetische Auswüchse vorwirft. Zum Kino-Start von Saturday Night Fever 1978 kann man allerdings in Sounds auch schon lesen : "Scheiß auf Kunst, Kultur und Kopf. Spaß an einer perfekten Ware. Dieses Qualitätsprodukt der Unterhaltungsindustrie bietet zwei schöne Stunden [...]". Nicht Originalität, sondern Perfektion wird prämiert, man akzeptiert also die Standards der Unterhaltungsindustrie. Die Kritische Theorie sagt: Dieser Film entführt dich für zwei Stunden in eine Scheinwelt und betrügt dich damit über die Tatsache, daß dein wirkliches Leben traurig und eintönig ist. Diese Film-Kritik dagegen sagt: Und wenn mein Leben so schlimm ist, dann darf ich dankbar sein für diesen Film -- zumal er besser ist als andere (wenn auch nicht grundsätzlich verschieden). Aber im Grunde antwortet sie nur: Na und? Die folgende Platten-Rezension aus dem Jahr 1981 will als dreiste Replik auf Vorurteile gelesen werden, die sich ihr Autor einmal zu oft hat anhören müssen:

"Hallo! Hier ist wieder der mysteriöse Schizophrene! [...] ACHTUNG! Diese Platten haben keine TIEFERE BEDEUTUNG, sie sind OBERFLÄCHLICH [...]. Ihre Interpreten wollen GELD MACHEN [...]."

Das Wissen um die Minderwertigkeit der Gegenstände dient als Alibi, um im kulturellen Ghetto spazieren zu gehen ('to go slumming', sagen US-Amerikaner). Aber der Verstoß gegen das Tabu des Kommerziellen kann, wie die Schocktaktik der Punks, nicht beliebig oft wiederholt werden, ohne seinen Effekt einzubüßen. Die bloße Geste bleibt den Dingen äußerlich und läßt die Frage offen, wie nun eigentlich darüber geschrieben werden soll. Anregungen finden die Pop-Intellektuellen bei einer Ästhetik des schlechten Geschmacks, wie sie erstmals Susan Sontag 1964 in Notes on Camp umrissen hat. Mit der Ironie hat der bewußte Camp den offensichtlichen Unterschied zwischen Sagen und Meinen gemeinsam, während der naive Camp sich durch die Kluft zwischen Wollen und Können auszeichnet. Beide Differenzen überbrückt der neue Typus des frivolen Intellektuellen und stellt damit seine Leistung unter Beweis.

Für den deutschen Pop-Diskurs war das um 1980 ein ganz neuer Ansatz. Zwar gab es auch hier schon länger eine breite Mittelschicht, von der sich der Hipster unter allen Umständen abgrenzen will, aber die politischen und kulturellen Bedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg waren für die Entstehung einer einigermaßen scharf konturierten Camp-Ästhetik ungünstig. Man war hier damit beschäftigt, wieder zu kulturellem Selbstwertgefühl zurückzufinden und 'Volkskultur' war kein Begriff, der bei den Intellektuellen der Nachkriegszeit auf große Sympathie gestoßen wäre. Leichte Unterhaltung wie der Schlager stand unter dem Verdikt der Massenverdummung, verhängt von den Intellektuellen, die man sich zu Stichwortgebern erwählt hatte. Andere Aufgaben waren dringlicher, vor allem mußte eine Vergangenheit ans Licht gezerrt werden, die die meisten lieber im Dunkeln belassen hätten. Und schließlich hatte man noch gar nicht lange Gelegenheit gehabt, Erfahrungen mit einer voll ausgebildeten und sich rasch umwälzenden Konsumkultur zu machen. Natürlich fanden Veränderungen seit den 50er Jahren trotzdem statt, aber sie betrafen in erster Linie die Lebenswelt und das Konsumverhalten der Jugendlichen, und deren Artikulation überschritt die Schwelle zum anspruchsvolleren Kulturdiskurs nur selten.

Um 1980 sieht die Sache anders aus. An den Wohlstand hat man sich gewöhnt. Erstmals treten Akteure auf den Plan, die mit Fernsehen und Popkultur großgeworden sind und denen Punk gezeigt hat, daß die scheinbar ewigen Gesetze des Geschmacks nur Vereinbarungen sind, die man leicht aufkündigen kann. Vor allem aber gibt es jetzt ein Publikum, das sich auf raffiniertere Experimente einläßt, wie der Erfolg der Neuen Deutschen Welle dann zeigt. Zu Zeiten der Alleinherrschaft des Rock-Dispositivs wäre es undenkbar gewesen, daß in einem respektablen Musikmagazin ein Text über eine Schlagersängerin erscheint. Kid P., früher Herausgeber eines Punk-Fanzines, später Mitarbeiter des Zeitgeistmagazins Tempo, schreibt 1981 in Sounds über eine Single von Marianne Rosenberg: "Sie weiß wohl selbst nicht, was sie da tut, aber sie tut das Richtige". Es folgt in der nächsten Ausgabe ein Artikel über Rosenberg, der ganz aus dem Geist der Herablassung geschrieben ist, die sich zu echter Bewunderung aufschwingen möchte. Das Dispositiv kann hier an den 'pop-sensiblen' und humoristischen Strang von Punk anschließen. Der Begriff 'Kult' hält Einzug, und die Autoren um Diederichsen entdecken das 'handicap-Prinzip': Distinktionsgewinn kann einfahren, wer es sich leisten kann, Zeit, Geld und Begeisterung für hoffnungslos veraltete und scheel angesehene Zeichen aufzubringen. Die Camp-Ästhetik leistet damit für die Popkultur insgesamt eine Art Selbstreflexion: Sie führt vor Augen, daß, was heute als hip gilt, der Müll von Morgen ist (Andrew Ross).

 

6. Schluß: "If you need this defined for you, maybe you're in the wrong world"

Nach diesem Schnelldurchgang durch die Veränderungen, die der Popdiskurs um 1980 durchläuft, sollte die Hilflosigkeit, die aus dem Leserbrief am Anfang des Aufsatzes spricht, verständlicher sein. Hier noch die Antwort, die ihm die Sounds-Redaktion gibt:

"Etwas weltfremd kommst du uns schon vor. Also ... wo anfangen? Was passierte zwischen 74 und 82? Da gab es erstmal Punk [...]. Die Lage blieb die gleiche. Der Kapitalismus herrscht und hat sich all die alternativen Werte zu eigen gemacht. Hippies sitzen in der Regierung, und geiler Konsum (du weißt schon: Genuß ohne Reue, zum Beispiel MacDonald's, Haircut 100, Walkmen etc.) ist z.Z. längst von den Herrschenden verpönt worden. Der Bundespräsident trägt längst eine 'Jute statt Plastik'-Tüte. Wir setzen dagegen mehr auf das Kämpfen im Kleinen, auf Erschütterungen der immer gleichen Leitideen, die dir von allen Vertretern der Herrschaft vorgeleiert werden. Dazu gehört auch, daß wir all die kleinen Teenie-Obsessionen fördern und ausleben, die wir damals wie heute haben und die wir uns nicht von rigider alternativer Moral zerstören lassen wollen, aber auch unsere ernsthafteren Erwachsenen-Obsessionen kommen nicht zu kurz. Trotzdem bleiben wir aufrechte Bolschewiken, bzw. Salonbolschewiken, je nachdem, nur in modernisierter Version."

Wenige Zeit später stellte der Verlag Sounds ein.

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