• Herdenschutzhund

    Von Rainer Brinks

    Aus den Erfahrungen der ersten menschlichen Herdenhalter mit Hunden ist anzunehmen, dass sie ihre Nutztiere erst einmal im offenen Gelände ohne Unterstützung durch Hunde zusammenhielten und zu beschützen versuchten. Einige Wildbiologen meinen, dass die Haushundemacher durchaus gute Erfahrungen mit den Wildhunderudeln machten, weil sie durch ständige Opfergaben in Form verendeter Herdentiere ein Territoriumsbewusstsein heranbildeten. Da war bequem Beutemachen, also blieben die Rudel in Wurfreichweite der Hirten beziehungsweise der Herde. Man gewöhnte sich aneinander, weil auch die Wildhunderudel durch die Zuwendung der Hirten vom Erbeuten abgehalten wurden. Das Arrangement bewährte sich wahrscheinlich so, dass die zutraulicheren Hunde gleich bei den Hirten blieben.

    Aus den spezieller werdenden Aufgaben der Herdenzucht suchten die Hirten nun mit der Zeit kleinere, wendige für das Treiben, Zusammenhalten und Abschneiden, grössere für Wach- und Schutzaufgaben.

    Die Kultivierung von Getreide ergab die Möglichkeit, Nutztiere zu halten. Gleichzeitig musste dieses Vieh - zuerst Ziegen, später Schafe - von dazu geeigneten Hunden geschützt werden. Mit dieser Weizenkern-DNA-Theorie kann man den Ursprung der Herdenschutzhunde auf die damalige „Türkei“ vor rund 10 000 Jahren schätzen.

    Herdenschutzhund in der Herde © Foto: Carmen Hoffmann

    Die Herdenschutzhunde wachten draussen bei der Herde. Sie bewegten sich innerhalb und ausserhalb der Herde, weil sie einem Angreifer nicht gleich auffallen sollten. Ist eine imaginäre Grenze jedoch von Angreifern überschritten worden, griffen die vermeintlichen Schafe unverzüglich an und bissen. Fortan sahen sich die Räuber vor.

    So rekrutieren und rekrutierten sich die aktiven Herdenschutzhunde vornehmlich aus dem vorderasiatischen Raum, aus dem südosteuropäischen bis zum Kaukasus, und die Oase des mittelitalienischen Berglandes bis zum iberischen Raum einschliesslich der Pyrenäen. Aus Gegenden und von Völkern, die grosse Herden - meist Ziegen und Schafe - vor zweibeinigen Räubern und tierischen Beutejägern zu schützen hatten. Ich denke, zu allen Zeiten waren die menschlichen die häufiger auftretenden Räuber.

    Vor einigen Jahren entdeckten die Amerikaner diese Hundeart. Sie beschossen die Wölfe und Kojoten mit wenig Erfolg. Ja, die Kojoten populierten quasi gegen ihre Ausrottung. Einige international gebildete Hirten holten sich Hunde aus den Ursprungsländern. Die Menschen lernten erst, dass die Hunde wieder auf ihre Schützlinge geprägt werden mussten, weil sie vermieden, zumindest versäumten, auch die hundeerfahrenen Hirten um ihre Erfahrung nachzufragen. Aber nach und nach zeigten sich Erfolge. Die Risse blieben aus.

    Die Selektion geeigneter Welpen ist immer einfacher, wenn man sie bereits aus Arbeitszucht entnehmen kann. Beziehungsweise, die Welpen mit der aktiv als Schützerin arbeitenden Mutter frühzeitig - etwa nach dem Absetzen von der „Milchbar“ der Mutter - an die Schützlinge heranlässt. Das bildet den Grundstock der Geruchsidentifikation und Gewöhnung an anderen Tieren: Säulen der Prägung für einen guten Herdenschutzhund. Trotzdem sollten die Welpen natürlich auch an Menschen und zu Menschen gehörenden Geräuschen und Situationen gewöhnt werden.

    Es ist für das künftige Arbeiten prägend, dass der Welpe von arbeitenden Elterntieren stammt und von klein auf in Kontakt mit künftig zu schützenden Tieren (Schafe, Puten, Ziegen etc.) ist. Es ist dazu erforderlich, den Welpen vom Menschen-Haus und von menschlichen Kontakten in der Prägezeit zu separieren. Ohne jedoch vorher eine Vertrautheit zum Menschen zu vernachlässigen - sicherlich ein Paradox für die Aufgabe, aber heute unumgänglich.

    Das sogenannte Alterszeit-„Fenster“, um einen Welpen an seine Schützlinge zu gewöhnen, liegt zwischen acht und zehn Wochen. Entscheidend ist das Absetzen der Mutter. Es dürfte kaum vorkommen, dass eine Herdenschutzhunde-Mutter ihre Welpen früher entwöhnt. In diesem Alter muss der künftige Herdenschützer in einen ausbruchsicher eingefriedeten Pferch mit - am besten - ein paar hundegewöhnten Lämmern oder Jungputen etc. verbleiben. Um den Welpen nicht auf eine einzelne Tiergattung zu spezialisieren, auf die er sich ausschliesslich prägen könnte, ist es sinnvoll, die Tiergattung zu wechseln: in meinem genannten Beispiel also Schafe raus und Puten rein oder umgekehrt.

    Der Welpe soll aber auf dieser Lehrstelle einen Rückzugsplatz erhalten, er darf sich nicht überfordert vorkommen, so dass er eventuell verweigern würde. An diesem Platz wird er gefüttert. Eine gemeinsame Wassertränke mit den Schützlingen ist aber dem Gemeinwesen dienlich.

    Zuerst darf der Welpe aber nie stundenlang allein gelassen werden! Man soll ihn beobachten, aus Entfernung, und ihm die Gewissheit lassen, dass er selbst noch versorgt wird. Er kann noch nicht selbständig arbeiten und überleben. Nach einer Woche können diese Besuchszeiten mehr und mehr gestreckt werden, so dass er nach vierzehn Tagen nur zweimal am Tag versorgt wird.

    Durch diese steten Kontrollen wird auch gewährleistet, dass kein Schützlingstier gegen den Welpen aggressiv vorgeht. Wenn das der Fall ist, muss man den Aggressor gegen ein friedliches Tier tauschen. Während dieser Lehrzeit müssen die menschlichen Kontakte auf dieses Minimum reduziert bleiben, damit der Welpe nicht durch falsches Mitleid abgelenkt wird und unkonzentriert wird.

    Der Welpe wird mit den Lämmern oder auch „netten“ Mutterschafen, die gerade abgelammt haben, spielen wollen. Das schafft eine gewollte Affinität zu den Schützlingen. Der Welpe sollte nur keine Raufspiele mit den Schützlingen veranstalten, das muss dann unterbunden werden. Er darf nie in Versuchung kommen, einen Schützling verletzen zu wollen. Dann genügt ein verbales scharfes geknurrtes „Nnnein!“ oder in einer ähnlich klingenden Sprache.

    Lässt er von grobem Spiel ab, wird er gelobt. Bleibt er selbst aggressiv, muss er von den Schützlingen in ein anderes Gehege getrennt werden, aber immer in Geruchs- und Sichtkontakt bleiben.

    Mit etwa vier Monaten kann der Welpe aus der Lehrherde in die normale Herde übernommen werden, aber in der Anfangsphase immer unter Kontrolle des Schäfers. Aber der Jungspund sollte nie als einzelner Hund in eine Herde eingeführt werden, immer in Obhut und unter Anleitung von erfahrenen Alt-Herdenschutzhunden. Sie übernehmen nun die weitere Ausbildung, weil der Junghund nun abschaut und nachmacht, mit den beiden praktischen Lehrmeistern Versuch und Irrtum.

    Der Welpe wird die Herde und ihre Umgebung zusammen mit den Althunden absuchen. Entfernt er sich von der Herde über das normale Mass hinaus, muss er zurückgeführt werden. Macht er dies weiter, muss er in die Besinnungsphase, zurück in den Lehrpferch zu den bekannten Lehrtieren.

    Herdenschutzhunde und Treibhunde (bei einer Schafszucht ausserhalb von Zentraleuropa bei menschlichen und tierlichen Beutegreifern) sollten sich nur tolerieren, weder zusammen gehalten, versorgt werden noch zusammen spielen. Warum nicht? Beide Hundeaufgabenbereiche sind total anders, sie würden sich angleichen und erfüllen dann ihre Bereiche schlechter, weil sie Eigenarten des anderen übernommen haben, die der eigenen Aufgabe hinderlich sind. Die Herdenschutzhunde-Welpen würden sich benehmen wie Border Collies, die mitunter gegen störrische Schafe aggressiv vorgehen müssen. Der Border wiederum könnte sich gar nicht mehr von der Herde trennen, der Herdenschutzhund hingegen finge an, wie ein Border auf ein Schaf zu lauern.

    Beide Aufgaben würden bei einer gegenseitigen hundlichen Erziehung leiden. Schafe reagieren spezifisch auf den jeweiligen Hund.

    Herdenschutzhunde in neuem Arbeitsgebiet sind an die neue Umgebung genauso zu gewöhnen wie an neue Schützlinge. Die Flexibilität, dies mit Geduld und Einfühlungsvermögen einzurichten, liegt nicht an den Hunden, sondern am Hirten. Mehr als alle anderen Arbeitshunde sind Herdenschutzhunde auf ihre ursprünglichen Instinkte angewiesen. Der Mensch tut am besten wenig dazu, die Hunde lernen am meisten von ihresgleichen, dazu müssen aber die Lehrmeister in Herden aufgewachsen sein, und dies nicht im eigenen Garten!

    Theoretisch ist es möglich, den Hund mit irgendeiner anderen sozial lebenden Nutztierart zu sozialisieren. Beim Welpen ist das Jagdverhalten gering ausgeprägt. Er zeigt dies auch bei den Nutztieren, die er - mit Einschränkung - als Rudelmitglieder sieht.

    Im Übrigen halte ich das Fernhalten aus dem engen Menschen-Familienkreis für eine unüberlegte Tradition, die nachweislich keinen Einfluss darauf hat, dass der Welpe durch Menschenkontakt (nur zu „seinen“ Menschen) etwa für die Arbeit an der Herde schlechter tauglich wird.

    Ein Herdenschutzhund im „Arbeitsmodus“ ist es gewöhnt, von anderen sozialen Tieren umgeben zu sein. Der Hund ist in einem ununterbrochenen Kontakt mit der Herde. Ein junger Hund, der sich beim Anschleichen eines Eindringlings in die Herde flüchtet, zeigt eine andere Art von Achtsamkeit. Dieses Verhalten entspricht dem von Hundewelpen, sich bei drohender Gefahr zwischen den Pfoten der Mutter zu verstecken.

    Der Instinkt spielt bei Herdenschutzhunden eine entscheidende Rolle, daher kann nicht irgendein anderer Hundetyp als Herdenschutzhund eingesetzt werden. Leider haben viele Hirten diese Trennung schlicht versaut. Da mischen sich Hüte- und Herdenschutzhunde und somit die Eigenschaften, wie schon erwähnt etwa in Rumänien. Diese Hunde taugen dann für keine der beiden unterschiedlichen Aufgaben.

    Herdenschutzhunde haben ein eigenartiges Sozialspiel-, aber kein Beutejagdverhalten wie andere Hunde, die ein Objekt oder ein Tier fixieren, es anschleichen und schliesslich jagen. Folglich wurden die Herdenschutzhunde so selektiert, dass sie auf neue Ereignisse reagieren. Dieses Verhalten findet man bei Welpen, die bei einer neuen Situation zu bellen beginnen und sich mit erhobener Rute auf Neues stürzen. Flüchtet der Eindringling, wird er eventuell sicherheitshalber verfolgt. Der Hund stellt sich meist zwischen Herde und Eindringling. Ein Gegner versucht, einem solchen Hund auszuweichen. Er ist von der Herde abgelenkt.

    Man muss mindestens ein Jahr einrechnen, bis gesichert ist, ob der Hund gut arbeitet. Auch danach sollte der junge Hund begleitet werden, um ihn in seiner Arbeit zu unterstützen und zu bekräftigen. Zwischen dem Schafhalter und dem Hund muss Vertrauen und darf kein Machtverhältnis entstehen. Wenn schon einige Hunde in der Herde arbeiten, ist es erfolgreicher, einen jungen Hund einzuführen, der darauf von den älteren Tieren eingeführt wird.

    Es kommt vor, dass ein Herdenschutzhund einen Treibhund bei seiner Arbeit hindert (also eventuell ihn - seiner Aufgabe nach - deutlich und schmerzhaft abhält). Während der Läufigkeit verlassen die Rüden manchmal die Herde. Hirten kastrieren daher die Rüden oft. Hitzige Weibchen lassen dann - ohne eigene Rüden - zum Teil Nachbarhunde auf das Gebiet, das sie eigentlich bewachen sollten.

    Weil tierliche Angreifer meist in Rudeln agieren (inzwischen auch Kojoten, die das von den Wölfen abgeschaut haben), müssen auch mehrere Herdenschutzhunde ihre Aufgabe teilen. Das Gefühl, in einem eigenen Rudel zu leben, verhindert, dass sich Tiere mit ihrer Aufgabe langweilen und zum Stall zurückkehren. Manchmal verlassen Hunde die Herde und verfolgen Wölfe, die um die Herde streunen. Es kommt dann vor, dass die Herde in dieser Zeit ohne Aufsicht ist und just dann angefallen wird. Wenn ein Spaziergänger in eine vorbeiziehende Schafherde gerät, und diese Herde trotz der Warnungen des Herdenschutzhundes durchqueren will, kann es sein, dass er angegriffen wird.

    Es gilt mit der Mär aufzuräumen, dass man gute Herdenschutzhunde nur auf die Nutztiere prägen soll. Das ist nun vielfach gegenteilig bewiesen, denn die Veranlagungen zum tauglichen Herdenschützer lässt sich das älteste Haustier auch als nicht sehr hausgebundene Herdenschutzhund nicht so leicht ausreden. Es gibt genügend Beispiele, wo wie ganz normal auf die menschlichen Familienmitglieder geprägte Welpen ohne Einschränkung sofort ihre aktive Aufgabe an der Herde übernehmen konnten, ohne zu verhaushundeln. Gute „Berufliche“ Veranlagungen lassen sich nicht so leicht vermenschlichen. Das klappt ja auch bei den Urnutzern aus Asien.

    Hirten aus den herdenschutzhundetypischen Ländern Südwest- und Osteuropas oder Asiens sind nicht besonders mitteilungsfreudig – was die schriftliche Überlieferung angeht. So sind wir auf die neuzeitlichen und kurzfristigen Erfahrungen von Amerikanern und Schweizern angewiesen.

    So meint der Bioschafhalter Walter Hildbrand aus dem „Herdenschutzzentrum“ in Jeizingen (Kanton Wallis): „Die Ausbildung der Herdenschutzhunde ist eine Gratwanderung. Die Hunde sollen schaftreu sein und gleichzeitig doch nicht menschenscheu. Beim täglichen Auslauf mit den Schafen beobachten wir die jungen Hunde. Falls sie beim Spielen mit den Schafen zu übermütig werden, greifen wir korrigierend ein. Auch ein Herdenschutzhund braucht eine gute Leinenführigkeit für Tierarztbesuche, Weidewechsel, Arbeiten im Stall, Transporte, etc. „Komm her“, „Geh zu den Schafen“, „Fuss“ an der Leine, „Nein“ und „brav“ sind die wichtigsten Grundsignale für den Alpeinsatz, aber auch das Reisen, Füttern und die Weidehaltung werden vorbereitet. Junghunde sollten so früh wie möglich durch Schaukeln, Schubkarren oder Autofahren ans Reisen gewöhnt werden. Die Schutzfunktion der Herdenschutzhunde basiert auf der Sozialisierung mit der Herde. Auf ungewohnte Ereignisse reagieren die Herdenschutzhunde mit Bellen. Der Hund stellt sich zwischen Herde und Eindringling. Der Angreifer versucht dem Hund auszuweichen, er wird von den Schafen abgelenkt und muss sich mit dem Verteidiger beschäftigen. Deshalb reicht es bei Einzelwölfen, wie sie in der Schweiz bis jetzt vorkommen, schon aus, wenn die Schutzhunde ihr Revier markieren und dem Wolf damit anzeigen, das dieses Revier schon von einem Rudel besetzt ist.“

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    © Hundezeitung 02/2006